Zu Mary Wollstonecraft-Shelleys Roman Frankenstein, oder der Neue Prometheus
Mary Shelleys eigene Mutter, Mary Wollstonecraft die erste, war eine emanzipierte Frau gewesen in einer Zeit, wo das wirklich noch nicht selbstverständlich war. Geboren noch mitten in der Blütezeit des aufklärerischen Zeitalters, durchlebte sie wirre Jugendjahren mit Reisen quer durch Europa (pünktlich zur Revolution war sie in Paris), diversen Jobs, diversen Männern, der Geburt eines unehelichen Kindes und zwei Suizidversuchen, bevor sie mit knapp vierzig Jahren einen anerkannten Anarchisten, den Philosophen und Politiker William Godwin, heiratete; das war das äußerste Zugeständnis, das sie an eine bürgerliche Existenz machte. Da hatte sie aber ihr Hauptwerk, die Vindication of the Rights of Women, schon geschrieben – eine messerscharf argumentierende, philosophisch fundierte Kampfschrift, die nicht nur allgemein gleiche Rechte, sondern vor allem eine bessere Erziehung für Frauen forderte. Das stellte sich aber in der eigenen Familie als schwierig heraus: Der alternde Anarchist sah sich leider nach dem Tod der Mutter bei der Geburt von Mary Wollstonecraft der Zweiten nicht in der Lage sah, die von seiner Kurzzeit-Ehegattin so wortreich wie leidenschaftlich entworfenen Erziehungspläne für die weibliche Jugend in die Tat umzusetzen; und Marys Stiefmutter lernte sie niemals lieben. Trotzdem sollte Mary, womöglich, ein Wunderkind werden: So schön und selbstbewusst wie die leibliche Mutter, so klug und scharfsinnig wie der Vater! Geschichten sollte sie schreiben, so ermutigte der Vater sie von klein an; Mary aber dachte sich lieber Geschichten aus, lebte in Tagträumen, von denen sie später behauptete, dass sie selbst nicht in deren Mittelpunkt stand; oh nein, sie selbst sei gar nicht die Heldin, die Prinzessin, die unschuldige Jungfrau gewesen, dafür sei ihr Leben viel zu langweilig, zu common, zu – nun ja, vielleicht stiefmütterlich gewesen. Wenn sie jedoch schrieb, dann geriet es ihr langweilig, common, plain, eine Nachahmung dessen, was die Männer seit jeher schrieben. In ihrer Phantasie jedoch war sie frei, vom Druck der Eltern, der toten Mutter wie des lebendigen Vaters.
Aber alles wurde anders, als der Märchenprinz kam, und dass, obwohl sie angeblich nie eine Prinzessin gewesen war. Er war schon ein wenig berühmt geworden, als romantischer Dichter; er kam aus einem reichen Haushalt und war gebildet; er war so anarchistisch gesinnt wie ihr Vater, ein Freidenker auch er, und er konnte Gedichte machen, bei denen einem die Seele dahinschmolz. Auf dem Friedhof, so ist es überliefert, am Grab von Mary Wollstonecraft-Godwin trieb die Jugendliebe von Mary Godwin und Percy Bysshe Shelley erste zarte Blüten; denn der Vater, dessen philosophische Liberalität auf einmal unerwartete Grenzen gezeigt hatte, war dagegen. Und so flohen Mary (sie war gerade sechszehn Jahre alt) und Shelley, hinaus aus England, nach Italien, Frankreich, in die Welt. Heiraten konnte man nicht, Shelley war schon gebunden; aber das störte keinen, sollte die Welt sich doch ändern, wenn es ihr nicht passte! Wichtig war, dass man zusammen sein konnte, man las Bücher und diskutierte, und jetzt war es der Geliebte, der immer wieder drängte: Schreib doch mal was! Es steckt in dir, lass es raus! Zeig dich der Welt, damit sie sich ändert!
Der Höhepunkt dieses romantischen Welt- und Selbsterkundungstrips lässt sich genau datieren. Es war Mitte 1816, in Europa trat die Restauration gerade ihren Siegeszug an, und es war das ›Jahr ohne Sommer‹ – später würde man lernen, dass irgendwo, weit, weit weg auf der Welt ein Vulkan ausgebrochen war, der Rauch war in die Atmosphäre aufgestiegen und hatte die Sonne verhüllt, die ganze Welt spürte die Folgen einer Mini-Klimakatastrophe. Die Patchwork-Family Wollstonecraft-Godwin-Shelley war an den Genfer See gereist; dort, in einer klassizistischen Villa mit Park und dem freien Blick auf den See, hatte sich Lord Byron eingemietet – Byron persönlich, die Licht- und Schattengestalt der neueren englischen Literatur schlechthin, der Mann mit dem Klumpfuß, der Sohn berühmter militärischer Ahnen, später selbst Held im griechischen Freiheitskampf; Lord Byron, der Mann, der seine Schwester liebte und der Vater von Ada Lovelace wurde, der ersten Programmiererin der Weltgeschichte; der von Goethe verehrt wurde und die armenische Sprache lernte, und den die Frauen liebten wider jedes bessere Wissen (›mad, bad and dangerous‹, sagte eine seiner vielzähligen Liebhaberinnen, es wurde zu seinem Markenzeichen, vielleicht hat er es sogar selbst in Umlauf gebracht, es wäre ihm zuzutrauen gewesen). Aber wir befinden uns vorerst im Jahr 1816, am idyllischen Genfer See; wahrscheinlich hatte man Pläne für eine erholsame Sommerfrische gehabt, man hätte Ausflüge in die Alpen unternehmen können, fröhliche Seefahrten und kleine Feste im illuminierten Park. Aber es war das ›Jahr ohne Sommer‹, und es regnete. Man kann sich vorstellen, wie Lord Byron vor dem Kamin saß, den man hatte anschüren müssen, und unruhig mit dem Klumpfuß zuckte. Doch dann fand man ein Buch mit Geistergeschichten, aus dem Deutschen übersetzt ins Französische, wahrscheinlich sagte einer der anwesenden gebildeten Männer oder sagten beide im Chor: »Boccaccio!«, aber zum Glück war es nicht die Pest in Florenz, wie damals beim Decamerone, sondern nur anhaltend schlechtes Wetter am Lac Léman. Und so saß man nun Abend für Abend vor dem Kamin und las sich entweder Geistergeschichten vor oder erfand neue. Denn darauf bestand Byron, der Meister der Runde: Jeder hätte eine Geistergeschichte zu erfinden, auch die Mary natürlich! Sollte sie nicht schon längst etwas geschrieben habe, murmelte wahrscheinlich der missmutige Noch-Nicht-Ehemann. Mary aber war zutiefst verschreckt. Natürlich konnte sie Geschichten erfinden, sie hatte ihre Jugend mit dem Erfinden von Geschichten verbracht, aber nun sah sie sich drei erwartungsvollen männlichen Gesichtern gegenüber (Byrons Arzt war noch dabei), und jeder Keim von Phantasie erstickte schon angesichts des dunklen Byronischen Heroenblicks. Sie war gerade zwanzig Jahre alt. Sie hatte eine Tochter geboren, eine Frühgeburt, das Kind starb wenige Tage nach der Geburt; und einen Sohn, die ›Willmouse‹, vielleicht krabbelte er zwischen den Füssen der Erwachsenen herum, während sie ihre Geistergeschichten spannen und es draußen regnete.
Eines Abends jedoch, vielleicht war das Wetter besonders schlecht, ein Gewitter braute sich zusammen, sprachen die Herren darüber, ob und wie man eigentlich einen künstlichen Menschen machen könnte; es habe hier und da Versuche gegeben, die Galvanisten hätten tote Froschschenkel zum Zucken gebracht, und ein Herr Darwin, in England, hatte seltsame Experimente angestellt mit – aber da hörte Mary wohl schon nicht mehr genau zu. Als sie aber, überreizt und angespannt, gegen Mitternacht einzuschlafen versucht, hat sie eine Vision: Sie sieht einen jungen Studenten vor sich, er steht an einem Bett, an einer Liege, in einem Labor, und was liegt da vor ihm, sie kann es nicht genau erkennen, es bewegt sich nicht, noch nicht, doch plötzlich – und wahrscheinlich schlägt in diesem Moment ein Blitz ein, in einen der großen Bäume im Park ganz in der Nähe – springt der Funke des Lebens über: Das Wesen rührt sich, es streckt seine Glieder, und sein jugendlicher Schöpfer sieht – nicht den neuen Menschen, den er hatte erschaffen wollte, sondern ein Monster. Panisch ergreift er die Flucht, und zurück bleibt die Kreatur. Allein. Verlassen von seinem Vater. Mutterseelenallein (schon, weil er niemals eine Mutter hatte, und Mary weiß, wie das ist). Unbekannt mit sich selbst. Einzigartig. Fremd. Bedrohlich. Furchtbar. Und als Mary damit aufgehört hat, zu zittern und sich zu gruseln, weiß sie, dass sie ihre Geschichte gefunden hat: Es ist die einer monströsen Männerphantasie, die sich anmaßt, den Schöpfer zu übertreffen und ein neues Wesen zu erschaffen, allein aus dem Geist eines Mannes, nicht aus dem Körper einer Frau. Und ihr Mann und wahrscheinlich auch der große Byron drängen sie, erneut: schreib doch, jetzt hast du eine Idee, schreib endlich!, und so schreibt sie die Geschichte zu einem ganzen Roman aus. Er wird in die Weltliteratur eingehen, Frankenstein heißt er, und entgegen einem verbreiteten Missverständnis ist das nicht der Name des Monsters (sagen wir lieber: der Kreatur), sondern seines Schöpfers im Roman (von dem wir, mit einem gewissen Recht sagen können: Er war ein Monster). Und sie nennt ihn, der Untertitel wird oft vergessen: Frankenstein or the Modern Prometheus).
Von diesem Moment an existierte eine Autorin namens Mary Shelley. Wenig später hat sie dann endlich Percy geheiratet, kurz darauf ertrinkt er bei einem Bootsausflug auf dem Genfer See, und damit endet die romantische Phase in ihrem Leben ein- für allemal. Drei ihrer gemeinsamen Kinder mit Percy waren gestorben, eine Fehlgeburt eines vierten kostet sie fast das Leben; ein Sohn nur wird überleben, und Mary wird ihr weiteres Leben seiner Erziehung und Versorgung widmen. Die Reisen hören auf; sie geht mit ihrem Sohn zurück nach London, man versöhnt sich nach und nach mit den Familien. Mary schreibt weitere Romane (die nicht mehr so berühmt werden wie Frankenstein, häufig behandeln sie schwierige Vater-Tochter-Verhältnisse). Sie verdient Geld mit der Serienproduktion von Biographien, geht spät noch einmal auf Reisen, mit dem Sohn (der niemals literarische Ambitionen zeigt, es ist wohl davon auszugehen, dass seine Mutter ihn nicht gedrängt hat), und schreibt noch einmal einen Reisebericht. Stirbt dann an einem Hirntumor, kein schöner Tod; und wahrscheinlich war die Kirche heimlich der Meinung, dass einem Gehirn, das ein Monster ausgebrütet und berühmt gemacht hatte, damit irgendwie recht geschah.
Mary Shelley hatte aber gar kein Monster ausgebrütet; sie hatte nur eine Männerphantasie ausgesponnen (mad, bad and dangerous) und sie in ihren dramatischen Konsequenzen gezeigt. Frankensteins Monster, so wie sie es zeichnete, hatte im Übrigen durchaus weibliche Züge: Er liebte Musik, er hätte gern eine Familie gegründet, und er litt unter seiner unendlichen Einsamkeit. Und während man den Roman liest und unter der unendlichen Einsamkeit des vermeintlichen Monsters leidet und sich über die unendliche Dummheit und den unendlichen männlichen Hochmut seines Schöpfers ärgert, hofft man immer wieder darauf, dass die Kreatur nur einmal eine Frau trifft, die ihn, wie der blinde alte Mann im Roman, nicht auf den ersten Blick hasst und fürchtet und verdammt. Aber das hat Mary Shelley ihm nicht gegönnt. Sie war zwanzig Jahre, als sie den Roman schrieb, und die Frauen sind in ihm vor allem als Lücke vorhanden, als schweigende Briefpartnerinnen oder als Heiratsmaterial; es sind die Männer, die handeln, reden, verurteilen, verdammen. Ihre eigene Emanzipation kam erst später – als sie Bücher schreiben durfte, zu denen niemand sie gedrängt hatte. Dass sie den Erfolg von Frankenstein damit nicht wiederholen konnte – sagte letztendlich mehr über den Erfolg von Männerphantasien als über Marys Können als Autorin aus.
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