Zu Robert Galbraiths (J.K. Rowlings) neuem Roman Das strömende Grab
Am Ende wird Aischylos zitiert: „Glück ist eine Wahl, die manchmal Anstrengung erfordert“. Natürlich könnte das auch ein Motto sein. Am Anfang aber steht ein Zitat aus dem I Ging, dem konfuzianischen Orakelbuch, wie auch vor jedem Einzelkapitel: „Es hat lange gedauert, bis die Dinge so weit gekommen waren. Sie waren so weit gekommen, weil Dinge, die man hätte aufhalten können, nicht früh genug aufgehalten wurden“. Beide Zitate sind weiter Deutung fähig, und das ist gleichzeitig ein Thema dieses Buches, des neuen Bandes der Cormoran-Strike-Reihe von Robert Galbraith (Pseudonym für: J.K. Rowling) mit dem Titel The Running Grave (Das strömende Grab). Wie alle Bücher aus der Reihe ist es oberflächlich Krimi ist; darunter aber ist es ein Kultroman und eine Enzyklopädie der Menschenmanipulation sowie eine Parabel über Sprachindoktrination und Gehirnwäsche; eine philosophische Darstellung des radikal Bösen (wie schon in Harry Potter) und des menschenmöglichen Guten darin; man könnte es deshalb auch einen „moralischen Roman“ nennen, aber keine Angst: Es ist ein absoluter pageturner. Ach ja, und vielleicht noch, weil wir hier bei schoengeistinnen sind, die Auflistung ist sowieso nicht vollständig: Es ist auch eine Reflexion über Sex als Machtstrategie (eine der perfidesten aller nur denkbaren) und eine Lektion in Geschlechterverhältnissen (na gut, das ist jeder halbwegs ordentliche Roman. Aber nicht jeder ist so klug dabei). Aber langsam und der Reihe nach:
* Kriminalroman: bekanntes Muster, unoriginelle Gattung (so denkt die Literaturwissenschaft gern und fälschlicherweise). Aber Rowling ist die absolute Meisterin des plots, des verwickelten, weit ausgreifenden, immer mehr Handlungslinien ineinander verstrickenden und am Ende doch: so logischen Plots. Spannung ist nur ein angenehmer Nebeneffekt dabei. In diesem Krimi gibt es sehr viele Täter und genauso viele Opfer – denn die allermeisten Figuren sind beides auf einmal, und irgendwann erscheint es angesicht all der sich häufenden Untaten recht nebensächlich, wer nun welches Verbrechen (moralisch, justitiabel, menschlich) wie begangen hat. Obwohl die Auflösung dann doch – unerwarteter ist, als man gedacht hätte. Aber kein Spoiler!
* Kultroman und eine Enzyklopädie der Menschenmanipulation. Im Nachwort gesteht die Autorin, dass sie schon lange einen schreiben wollte, man hätte ihr aber abgeraten (was war Harry Potter? Gar nicht wenig Kultroman natürlich). Der Kult in diesem Buch ist, wie alle großen Kulte der Menschheitsgeschichte, eine Religion, eine Großfamilie, eine politische Ideologie, eine Mythologie und eine Unterwerfungsmaschine, alles in einem (wenn sich etwas „Universal Humanitarian Church“ nennt, kann man gar nicht misstrauisch genug sein!). Und die Präzision, die Vollständigkeit, die absolute Klarheit, mit der Rowling hier kultische Entmenschlichungsstrategien nicht nur auflistet, sondern: darstellt, erzählt, in all ihren Wirkungen auf Opfer und Täter zeigt – ist atemberaubend und augenöffnend. Man sieht zum Beispiel auf das Deutlichste: Ja, es gibt Charisma, und es ist eine der gefährlichsten Kräfte auf diesem Planeten, und wir können es nicht erklären.
* Und ja, es gibt das absolut Böse, nicht nur in der Philosophie. Es wird aber nicht gern erzählt, aus nachvollziehbaren Gründen. Denn jeder ehrliche Autor und jede redliche Autorin identifiziert sich mit jeder ihrer Figuren, mal ganz wenig, mal sehr viel; lebendiges Blut hat nur eine Figur, in der Autorenblut mit fließt. Und wer möchte gern absolut böse sein, auch nur ein winziges kleines bisschen? Ach, wir verstehen es nicht. Genauso wenig, wie wir Charisma verstehen. Aber es gibt beides, und es muss erzählt werden; gerade weil wir es nicht verstehen (dazu, siehe am Ende, Kant! Trotzdem weiterlesen!)
* Genauso wie es, und nicht nur in Dystopien, Gehirnwäsche gibt, und sie funktioniert, leider, leider, leider, geradezu unfehlbar. Sie beginnt, und hier dürfen gern alle möglichen Parallelen zu aktuellen weltweiten Erscheinungen gezogen werden, mit Sprachwäsche. Man muss den Leuten zuerst das Wort im Mund so herumdrehen, so dass es nie mehr gerade herauskommt. Dann kann man alles mit ihnen machen. Weil: Sie können ja gar kein wahres Wort mehr sagen, sondern nur noch sprachliches Falschgeld produzieren, vorgestanzt, in kleinen und großen Scheinen. Oder man verbietet Wörter ganz, mit vermeintlich guten Gründen. Oder entleert sie überhaupt von jeglichem konkreten Inhalt, so dass sie nur noch ein blasser Schemen sind, in den man dann das Universale und Humanitäre packen kann, weil sowieso keiner weiß, was das sein soll (oder: Identität. Oder: Geschlecht). Kulte haben das Verfahren in all seinen Varianten perfektioniert; aber man braucht nicht unbedingt einen Kult, um Wörter zu verbieten oder zu entstellen. Oder ein Orakelbuch, um jeden in ein Meer von Deutungen und von Prophezeiungen zu verstricken, die sich immer selbst erfüllen. Nein, geht alles auch so: „weil man Dinge, die man hätte aufhalten können, nicht früh genug aufgehalten hat“.
* Auch ein moralischer Roman? Nee, sowas will keine lesen, und das ist es auch nicht wirklich. Man sieht allerdings die Moral an der Arbeit in diesem Buch, und zwar nicht im Reden, sondern im Handeln. Man sieht altmodische Tugenden, wie Beharrlichkeit, Unermüdlichkeit, Tapferkeit, Mitmenschlichkeit, Verständigung, bei der Arbeit; es sind nur zufällig Detektive, es könnten auch Sozialarbeiter im besten Sinne sein. Man sieht, wie sie damit hadern, dass es so langweilig ist, im Alltag gut zu sein, zuverlässig gut zu sein, und kein interessanter Außenseiter, für den keine Regeln gelten, weil sie so – anders ist. Ja, Diversität ist ein Thema – und ihre Grenzen. „Glück ist eine Wahl, die manchmal Anstrengung erfordert“ – und Unglücklichsein kann eine Sucht sein, eine schlechte Angewohnheit und eine Entschuldigung. Auch von Diversität wird wenig gesprochen, aber sie spielt eine Rolle, und das wird gezeigt, seinen Wirkungen auf die Lebenden. Genau wie
* das Geschlecht, zu guter Letzt. Das Geschlecht spielt immer eine Rolle, und wir freuen uns sehr, dass die weibliche Detektivin emotional intelligent sein darf ohne Ende, während ihr humpelnder Partner mit dem unbestechlichen Verstand und all seiner Erfahrung – manchmal taub auf allen Antennen ist. Ach, es ist manchmal so viel besser, das Geschlechterklischee schön in Ruhe arbeiten zu lassen als das Klischee nur der Originalität halber zu destruieren (man ist versucht zu sagen: das macht einen großen Autor aus; nicht einen interessanten)! Ja, Robin (mit dem neutral-ungeschlechtlichen Namen) sagt zu Recht, dass sie den Kult unterwandern muss, als Frau, weil nur sie die Dinge sieht, die Frauen eben sehen und Männer nicht. Und Cormoran (mit dem interessant-ungewöhnlichen Außenseiter-Namen) darf zu Recht Dinge tun, die nur Männer tun, wenn sie groß und kräftig sind und im Krieg waren; Leute einschüchtern zum Beispiel, wenn es drauf ankommt. Und ja, kein Kult kommt an die Macht und bleibt auch das ohne sexuellen Missbrauch im großen, geradezu industriellen Maßstab (an Männern und Frauen und vor allem: Allen dazwischen). Die dadurch erzeugten Traumata sind ganz oben im Werkzeugkasten des Unmenschen; auch sie bis heute wenig verstanden, wenn auch inzwischen recht häufig erzählt. Und ist es nicht wahrhaft weise, wenn hier zum Schluss – nur ein ganz kleiner Spoiler! – an zentraler Stelle eine Jungfrau auftaucht? (es gibt nämlich auch noch eine mythologische Ebene, aber das lassen wir jetzt jede selbst entdecken).
Kult und Geschlecht aber – das wäre auch einmal eine größere Untersuchung wert; und selbstverständlich sind, nur um das zu erwähnen, Männer und Frauen an Schaltstellen des Kultes vertreten, in unterschiedlichen Funktionen, mit ihren unterschiedlichen geschlechtlichen – ach, fast möchte man sagen: Kompetenzen? Gibt es so etwas? Ja, gibt es. Frauen missbrauchen anders als Männer, Frauen manipulieren anders als Männer, Frauen können eine andere Art von Monster sein. Wissen wir alle, heimlich.
Im Übrigen und nun wirklich zum Schluss: Man braucht einen gewissen langen Atem für die Lektüre (ganz am Ende wird Rowling mit der Cormoran-Strike-Reihe ein Universum gebaut haben, wie Harry Potter; das ist jetzt schon abzusehen und macht Spaß). Gute Nerven für die intensiveren Passagen über den Kult (wie jede kluge Erzählerin erspart sie uns den maximalen Schrecken, dafür gibt es schließlich Leerstellen). Ein wenig Freude an intelligenten Dialogen und eine große Toleranz für komplexere Charaktere (das ist schwieriger, als man denkt, man ist auch ein wenig aus der Übung geraten heutzutage). Schließlich: einen eigenen Verstand. Ein guter Text gibt viel zu denken! (Kant, Kurzfassung; in der Langfassung und zur Übung des langen Atems: „Wenn nun einem Begriffe eine Vorstellung der Einbildungskraft untergelegt wird, die zu seiner Darstellung gehört, aber für sich allein so viel zu denken veranlaßt, als sich niemals in einem bestimmten Begriff zusammenfassen läßt, mithin den Begriff selbst auf unbegrenzte Art ästhetisch erweitert; so ist die Einbildungskraft hiebei schöpferisch, und bringt das Vermögen intellektueller Ideen (die Vernunft) in Bewegung, mehr nämlich bei Veranlassung einer Vorstellung zu denken (was zwar zu dem Begriffe des Gegenstandes gehört), als in ihr aufgefaßt und deutlich gemacht werden kann“).
Robert Galbraith: The Running Grave (2022); Das strömende Grab (2023), übersetzt von Wulf Bergner, Christoph Göhler und Kristof Kurz
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