Zur Emanzipation der schönen Helena in Goethes ‚Faust II‘
Zwischendurch las irgendwann Faust II, zum ungefähr vierten Mal. Dieses Mal ging es mir eigentlich um Fausts Verbrechertum, aber abgelenkt wurde ich noch einmal durch die Geschichte mit Helena (die Handlung kann man bei Wikipedia nachlesen, oder unten nach dem Beitrag). Bei der Drittlektüre war mir schon auf einmal der Gedanke in den Kopf gesprungen, dass Helena eigentlich (fast) eine emanzipierte Frau ist, ausgerechnet die achso schöne Helena! Nee, eigentlich ganz klug. Sie hat nämlich durchschaut, dass die Männer – die schon die zehnjährige, schlank wie ein Reh, schreibt Goethe, mit den Augen vernaschten, dass es einem ganz anders wird beim Lesen (and not in a good sense) – sie zu einem Idol gemacht haben; einer Sex-Ikone, so würden wir heute sagen und die traurige Marilyn mit dem Glockenrock und dem Schmollmund vor uns sehen, es macht aber keinen Unterschied: einem Abziehbild von Frau, vielleicht trifft es das Pin-up-Girl sogar am besten. Helena hatte nie eine Wahl. Sie wurde begehrt, verheiratet, begehrt, verschachert, begehrt, vergöttlicht, verwettet, ja, begehrt; und sie hat es, in einer sehr höflichen und weiblich zurückhaltenden Weise, ziemlich über mit den Kerlen (das Personal ist aber auch nicht viel besser).
Wovon ich aber eigentlich reden wollte, war die Nicht-Insel. Faust nämlich, nachdem er Helena aus der Unterwelt geholt hat, auf Befehl des Kaisers natürlich, zieht sich mit ihr zurück in eine Art zeitloses Paradies, was schon ein ziemliches Zugeständnis ist; die ganzen Kerle vor ihm hatten Helena immer umstandslos ins Eigene verpflanzt, aber Faust, immerhin, findet einen Zwischenraum (interessantes Wort, kannte es Goethe?). Besagtes zeitloses Paradies ähnelt natürlich Arkadien: murmelnde Bäche, idyllische Natur, den einen oder anderen Schäfer als Deko, aber Faust nennt es nicht Arkadien (et in arcadia ego, murmelte der melancholische Goethe auf dem Tischbein-Bild mit dem entzückend bestrumpften Bein, aber wahrscheinlich meinte er auch das ganz anders). Er nennt es auch nicht etwa U-topia, kein Ort, also die uralte Menschheitsphantasie, dass Milch und Honig fließen und die Leute auf einmal freundlich zueinander sind, was wirklich un-gesehen, un-erhört, un-denkbar, eben: utopisch ist. Nein, er nennt es: „Nichtinsel“. Das ist, so schreiben beflissene Kommentatoren, und es ist auch wichtig, das zu wissen, eine Art freie Übersetzung von Pelo-ponnes, der Fast-, nämlich: Halbinsel. „Nichtinsel“ aber – ist ein geradezu geniales Un-Wort. Es schwingt mit, dass man sich gerade nicht im Abgeschlossenen befindet (der Insel), aber auch nicht im Unmöglichen (der Utopie); es suggeriert, zart, ganz zart, dass es einen Zustand geben könnte, in dem festes Land und flottierende Insel freundlich nebeneinander her fluktuieren, in einer Art Quanten-Gravitation: Unter einem bestimmten Blickwinkel ist es das Land, unter einem anderen eine andere Art Insel, eine sozusagen bisher un-gesehene, in ihren Möglichkeiten noch nicht einmal andeutend ausgedachte Land- und Lebensform, die aber nicht, darauf kommt es an: nicht ein Kein-Ort ist. Nur eine Nicht-Insel (vielleicht doch: ein Zwischenraum?)
Im Übrigen, auch das hatte ich bisher geradezu herzlos überlesen, ist die Geschichte von Faust und Helena sehr, sehr traurig. Denn eigentlich werden sie sofort eine idyllische Kernfamilie, das Söhnchen wächst sozusagen in Sekundenschnelle zu einem blühenden Jüngling heran, dessen zweiter Name aber offensichtlich, nach Euphorion, Ikarus ist: Denn er will, er will hoch hinaus, er will viel zu schnell und viel zu weit, und während die besorgten Eltern noch besorgte elterliche Ausrufe ausstoßen – fällt er auch schon, und nur noch eine winzige Sekunde bleibt ihm, seiner Mutter zuzurufen, er möge sie nicht alleinlassen im dunklen Reich. Helena zögert nicht eine Sekunde. Sie, das Idol, die viel zu oft und immer völlig falsch Begehrte, folgt ihrem Sohn anstandslos ins Totenreich. Zu den Müttern, den vielgestaltigen, den un-heimlichen, nicht zu fassenden, die Faust Helena verschafft hatten. Sie hat ihn kaum gekannt, ihren Sohn (um ehrlich zu sein: Sie hatte auch keine Zeit Faust kennenzulernen). Aber sie tut, was Mütter tun. Mit einem kaum merkbaren Schulterzucken legt sie das Idol-Kostüm ab und nimmt den Mantel ihrer dunklen Mutterpflichten an. Helena ist eine geradezu vorbildlich emanzipierte Frau!
Faust aber, das nur im Nachsatz, hat schon eine Menge Pech. Der un-eheliche, mit Gretchen gezeugte Sohn – kaum hat er das vermeintliche „Licht“ der Welt erblickt, wird er getötet von der eigenen Mutter, in der tiefsten denkbaren Verzweiflung. Homunculus, das lustige Flaschenkindlein vom Gehilfen Wagner, ach, irgendwie ist er auch eine Art Patenkind von Faust; aber was tut er, kaum kommt er ans Meer und sieht Frauen? Zerschellen, die Flasche zerstören an den Felsen, und frei aufsteigen in den Äther, ganz lebendig nun: weil er sterben konnte. Euphorion entschwebt nach kürzester Bekanntschaft, gefallen ins Bodenlose. Vielleicht wird Faust deshalb – denn das hat mich immer bekümmert und bekümmert mich noch, nach der Viertlektüre; vielleicht wird Faust deshalb am Ende, in den Bergschluchten, doch erlöst? „Wer immer strebend sich bemüht“, das fand ich schon immer eine ziemlich schwache Begründung (und vielleicht hat Goethe ja ganz etwas Anderes gemeint, als er die Worte in die bekannten Anführungszeichen setzte?), da könnte ja jeder kommen, der eine Ice-Bucket-Challenge überstanden hat! Und dass Gretchen für Faust bittet, und dass die Gottesmutter bekanntermaßen ein un-ausschöpfliches Potential an Vergebung hat – nun ja, ziemlich katholisch und un-katholisch zugleich. Dass aber Faust am Ende von den Mitternachtskindern begrüßt wird (und ja, ich denke, nein, ich bin ganz sicher, Salman Rushdie kennt die Stelle, und seine Midnight’s Children sind definitiv faustisch-mephistophelisch verwirbelt); dass die früh verstorbenen Knaben ihn, den dreifach beraubten Vater, zu ihrem neuen Lehrer in den himmlischen Sphären wählen – da kann ich, immerhin, eine schöne Gerechtigkeit erkennen (eine gesteigerte Kernfamilie?). Na gut, auch eine ironische.
Vgl. zum Inhalt der Helena-Geschichte im dritten Akt von Goethes Faust II den Wikipedia-Artikel:
Hier geht es um Fausts Beziehung zu Helena, mit der er einen Sohn – Euphorion – hat, der am Ende des Aktes zu Tode stürzt, woraufhin auch Helena verschwindet. Die Verbindung Fausts mit Helena symbolisiert die Verbindung von klassischer Antike und romantischem, germanischem Mittelalter.
Menelas ist mit Helena aus dem Krieg um Troja zurückgekehrt und hat Helena vorausgeschickt, um eine Opferzeremonie vorzubereiten. Er hat jedoch nicht gesagt, was geopfert werden soll. Helena ahnt, dass sie das Opfer sein wird, und beklagt ihr Schicksal, doch ein Chor von gefangenen Trojanerinnen muntert sie wieder auf. Helena will nach der Rückkehr die Diener und den Palast inspizieren, trifft jedoch auf leere Gänge und auf Mephisto in Gestalt einer der Phorkyaden, die Palast und Hof während Helenas Abwesenheit verwaltet hat. Sie sagt zu Helena, dass sie das Opfer sein werde, da Menelas fürchte, sie noch einmal zu verlieren oder nicht ganz besitzen zu können, und bietet ihr und dem Chor an, sie mit auf eine mittelalterliche und angeblich uneinnehmbare Burg zu nehmen, die während der zehn Jahre des Krieges um Troja und der anschließenden Irrfahrten des Menelas bis Ägypten nicht weit von Sparta errichtet wurde. Sie stimmen zu und flüchten, umhüllt von Nebel, vor dem anrückenden König.
Nach dem Sieg über Menelas führt Faust Helena in das von ihm geschaffene Arkadien ein, einen Hort des Glücks und der Harmonie. In seiner mittelalterlichen Burg angekommen, wirbt Faust um Helena. Begeistert nimmt sie seine unbekannte, nordische Form des Sprechens – den gereimten Vers – auf:
Phorkyas berichtet dem Chor von der Geburt Euphorions, der aus der Verbindung Fausts mit Helena – der schönen, personifizierten Destruktivkraft der Sexualität – hervorgeht. Euphorion stirbt kurze Zeit später bei einem übermütigen Flugversuch. Seine letzten Worte „Laß mich im düstern Reich, / Mutter, mich nicht allein!“ (9905–9906) schallen nach, woraufhin Helena Persephone auffordert, sie und den Knaben aufzunehmen. Während sich die Chorführerin Panthalis ebenfalls zum Hades aufmacht, verweilen die Chormitglieder in Arkadien, verwandeln sich jedoch in Naturgeister. Am Ende des Schlussgesanges, nachdem der Vorhang gefallen ist, sieht man, wie sich Phorkyas im Proszenium riesenhaft aufrichtet und als Mephisto zu erkennen gibt, um, falls nötig, im Epilog das Stück zu kommentieren
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