Eine weibliche Variante der Ringparabel
Vor grauen Jahren lebte eine weise Frau im Osten,
die einen Spiegel hatte von sehr großem Wert,
von lieber Hand vererbt. Der Spiegel war so rein,
dass jede, die hineinsah, sich erkannte,
in allen ihren Eigenarten. Vielzählige
Kristalle zeigten jeden Fehler, jeden Vorzug;
jedoch nur der, die redlich in ihn schaute,
zeigte der Spiegel auch ihr ganzes Bild,
so dass Zufriedenheit sich in ihr Herz ergoss.
Was Wunder, dass die weise Frau im Osten
ihn darum niemals von sich schaffen ließ,
und die Verfügung traf, auf ewig sei
der Spiegel ihr und ihren Töchtern eigen;
diejenige jedoch, die ihn am meisten brauchte,
weil sie unsicher, schwach und zaghaft war,
sollte ihn erben. So kam nun dieser Spiegel
durch vieler Töchter Hände endlich hin
zu einer Mutter von drei Töchtern, die
gleichmäßig schwankend waren, unsicher
ob ihres Weges, ihres Wesens, ihres Wertes,
so dass die Mutter selbst ins Schwanken kam,
weil es sie schmerzte, alle ihre lieben Töchter
so schwach zu sehen ohne einen Rat
zu wissen. Was blieb ihr zu tun?
Als es ans Sterben ging, da sandte sie
Nach einem klugen Techniker. Er solle
drei Spiegel fertigen, sehr klein und fein,
die jede immer mit sich tragen könne.
Der Techniker erfüllt den Auftrag pünktlich.
Den echten Spiegel lässt die weise Frau
verstecken. Dann ruft sie die Töchter einzeln
zu sich, segnet sie, gibt jeder ihren
kleinen Spiegel und verstirbt.
Die neuen Spiegel aber halten nicht
was sie versprachen: Denn die Kristalle
zerlegen nur in immer klein‘re Teile,
so dass die Schauenden zwar tausendfach
sich nun gespiegelt sehen, niemals aber ganz.
Die Töchter sind es nicht zufrieden. Jede
klagt auf Herausgabe des echten Spiegels.
Man sucht den Spiegel, findet ihn sogar.
Der erste Richter nun erwägt die Sache,
er wälzt die Akten und vernimmt die Zeugen,
er dreht den Spiegel in der Hand (der zeigt
ihm eine schwarze Robe, mit Perücken,
die weißen Locken tausendfach gespiegelt,
doch kein Gesicht; nur vage meint er
eine Binde zu erkennen). Behände
legt er den Spiegel fort und spricht sein Urteil:
Jede möge den echten Spiegel haben –
doch nur für eine kleine Zeit, dann wandre
der Spiegel weiter zu der nächsten Tochter.
Denn wer sich selbst in ihm erkenne, werde
ja ihn kaum täglich brauchen, werde
gelegentlich nur schauen, ob sie weiter
noch auf dem rechten Weg sei, treuen Herzens
zu ihrem Wesen und zufrieden mit sich selbst!
Die Schwestern sind‘s noch immer nicht zufrieden.
Sie klagen weiter. Doch die höh’re Richterin
wirft keinen Blick mehr auf die Aktenstapel,
sie schickt die Zeugen fort, ja kaum fasst sie
den trügerischen Spiegel selbst ins Aug.
Doch mit entschiedner Stimme urteilt sie:
Zerstört den Spiegel! Jetzt sofort!
Denn offenbar, so spricht die Richterin,
könnt ihr im Spiegel nur noch das erkennen,
was ihr sein wollt; was ihr euch wünscht,
was anderen genehm ist und euch schmeichelt.
Die wahre Kunst des Spiegelns ging verloren
wahrscheinlich schon vor langer Zeit.
Zerstört die Spiegel! Alle!
Vergleicht Euch nicht! Wollt nicht mehr sein,
was ihr doch niemals seien könnt,
und werdet das, was in euch steckt,
sei’s als Geschenk, als Gnade, als Gesetz!
Seht in euch selbst, dort, wo ihr nackt seid,
hört hin auf das, was eure inn‘re Stimme sagt,
wenn alle andern Stimmen schweigen, die
so leicht uns schmeicheln, täuschen, wenn
die trügerischen Wünsche schlafen,
die fremden Bilder nach und nach verschwimmen,
der Blick selbst wieder klar und redlich wird.
Vielleicht kommt dann, nach tausend Jahren,
die größre, klügre Spiegelmacherin,
mit einem neuen bess‘ren Spiegel, der
euch euer wahres Bild vorhält, so fein,
so tief, so klar erfasst, in Milliarden
von Kristallen, die gar eure Lügen sehen,
eh ihr selbst sie erkennt, noch tiefer schaut
als selbst in euer Herz: dorthin
wo die Natur in euch ihr Werk wirkt,
immerfort, gerecht, zufrieden –
dann sollt ihr eure Spiegel wiederhaben!
[1] In seinem dramatischen Gedicht ‚Nathan der Weise‘ (1779) stellt Lessing die ‚Ringparabel‘ (nach einer alten Erzählung bei Boccaccio) ins Zentrum der Handlung; sie wird erzählt vom weisen Juden Nathan, um dem Sultan Saladin die Gleichwertigkeit der drei monotheistischen Religionen zu veranschaulichen. Die Variante ersetzt die durchgehend männlichen Figuren im Original durch Frauen und den allmächtigen Ring durch einen vielvermögenden Spiegel.
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