Sie inspirierte die amerikanische Starautorin Elizabeth Gilbert zu ihrem neuen Bestsellerroman City of Girls (2020): die heute 93-jährige Norma Amigo – einst ein Revuegirl im New York der 1940-er Jahre. Sie lebte und liebte, wie und wen sie wollte, heiratete nie, verzichtete auf eigene Kinder und fand selbstbewusst entgegen jeglicher Konventionen ihren Platz in der Welt.
Elizabeth Gilbert feierte bereits mit ihrem Roman Eat, Pray, Love internationalen Erfolg. Hierin verarbeitete sie ihre eigene Lebensgeschichte: Als 30-jährige reichte sie die Scheidung ein und begab sich ein Jahr lang auf eine Reise nach Italien, Indien und Indonesien. Was sie dort machte? Essen, beten und lieben. Ihre Weltreise war von Erfolg gekrönt, denn zuletzt lernte sie ihre große Liebe kennen, ihren späteren zweiten Ehemann (von dem sie sich im wahren Leben allerdings auch wieder scheiden ließ). Gilberts Erfolg gründet sich auf die Fähigkeit, vom Scheitern einstiger Lebensentwürfen zu berichten. Und sie zum glücklichen Wendepunkt zu machen. Julia Roberts verlieh 2010 der sympathischen Protagonistin ihr weltbekanntes Lächeln und machte aus dem Bestseller einen Blockbuster.
Auch rund zehn Jahre später gelingt Elizabeth Gilbert mit City of Girls (2020) ein Mut-mach-Buch für Frauen, von dem man sich wünscht, es würde rasch verfilmt. Wie wäre etwa Judy Dench in der Hauptrolle der 90-jährigen Hauptfigur Vivian Morris, die als alte Frau auf ihr Leben zurückblickt? Die Lebensgeschichte der Protagonistin Vivian Morris nährt sich jener von Norma Amigo lediglich an. Und doch hat die alte Dame Elizabeth Gilbert tief beeindruckt und inspiriert. In ihrer Danksagung schreibt Gilbert in City of Girls: „Meine ewige Dankbarkeit gilt Norma Amigo – der schönsten und charismatischsten Neunzigjährigen, der ich je begegnet bin -, weil sie mir alles über ihre Tage und Nächte als Revuegirl in Manhattan erzählt hat. Es waren Normas unverhohlene Sinnenfreude und Unabhängigkeit, (…) die es Vivian ermöglicht haben, zu sich und einem freien Leben zu finden.“
Die Protagonistin Vivian Morris wächst in der amerikanischen Provinz auf. Nachdem sie wegen Faulheit vom College fliegt, schicken sie ihre Eltern zu Tante Peg nach New York. Tante Peg leitet ein in die Jahre gekommenes Theater am Broadway. Von den Kriegswirren jener Jahre mitten im Zweiten Weltkrieg bekommt Vivian wenig mit, bis eines Tages die Star-Schauspielerin Edna Watson dem Theater zu neuem Glanz verhilft. Sie ist mit ihrem Mann aus England in die USA geflohen. Doch so sehr sie diese Frau bewundert, sie und ihr Mann werden auch zu ihrem Verhängnis.
Das Buch ist aus Sicht der 90-jährigen Vivian geschrieben, die als Alter Ego in Briefen auf ihr Leben zurückblickt. Sie ist sich sicher, ohne ihre Tante Peg wäre ihr Leben anders verlaufen. Sie und ihre Theaterfreunde eröffneten Vivian nicht nur eine neue Lebenswelt, sondern auch eine neue Gedankenwelt. Durch sie wusch sie die Erwartungen an eine junge Frau wie klebrige Schminke ab und fand schließlich darunter sich selbst. Sie probierte sich aus – mit Männern wie mit Frauen und blieb ein Leben lang doch allein. Ihren Lebenssinn fand sie im Beruf als Schneiderin, in tiefen Freundschaften und abwechslungsreichen Liebesbeziehungen. Ihr Leben folgte keinem Plan, sie hielt sich nicht an Regeln und kam trotz Tiefschlägen gut durchs Leben – genauso, wie es ihr enger Vertrauter formulierte:
„Die Welt folgt keinem Plan. Man wächst in dem Glauben auf, dass die Dinge sich so verhalten. Man denkt, dass es Regeln gibt. Man denkt, dass die Dinge so und so sein müssen. Man versucht, danach zu leben. Aber die Welt schert sich nicht um Regeln und Überzeugungen. Die Welt folgt keinem Plan, Vivian. Das wird sie nie. Unsere Regeln sind bedeutungslos. Die Welt passiert einem einfach, so sehe ich das. Und man muss sehen, wie man durchkommt, so gut es eben geht.“
Es handelt sich bei dem Roman um keine große Literatur, doch um Literatur, die unter die Haut geht. Plot und Charaktere sind überzeugend gezeichnet und die Story entwickelt durch die szenischen Schilderungen und starken Dialoge einen Lesesog. Dem Lebensweg Vivians folgt der Leser mit großer Sympathie und Mitgefühl. Obwohl das Buch Mut macht, das Leben selbstbestimmt zu meistern, erzählt es auch von Tiefschlägen und Narben, mit denen man leben muss. Was hätte Norma Amigo wohl zur Lebnsweisheit von Vivian Morris gesagt? Oder sind es gar ihre Worte?
„Wenn wir jung sind, (…) können wir dem Irrglauben anheimfallen, dass die Zeit alle Wunden heilt und sich schon alles irgendwann zurechtrückelt. Aber älter werdend begreifen wir die traurige Wahrheit: Manches lässt sich nicht mehr in Ordnung bringen. Manche Fehler lassen sich nie wiedergutmachen – nicht, indem Zeit vergeht, und nicht, indem wir es uns sehnlich wünschen. Meiner Erfahrung nach ist das die schwierigste Lektion von allen. Ab einem bestimmten Alter wandeln wir in Körpern über diese Erde, die aus Geheimnissen und Scham bestehen. Unsere Herzen wuchern wund um diesen Schmerz herum – und doch machen wir, irgendwie, immer weiter.“
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