Exposition mit Nicht-Thema
Das Kapitel „Grau und Frau“ ist mit großem Abstand das kürzeste in Peter Sloterdijks neuer Monographie, und eigentlich würde man es am liebsten zur Gänze abdrucken. Es verwendet einen sehr vergessenen Topos (heute würde man wohl lieber sagen: ein „Narrativ“) aus dem sehr vergangenen 18. Jahrhundert, nämlich den der vom Winde verwehten Manuskriptseiten, die es dem Autor/Herausgeber ersparen, sich mit einem heiklen Text in ein massives öffentlich bewirtschaftetes Nesselbeet zu setzen. Und so bleibt die Leserin allein mit ausgesuchten grauen Frauen der Weltliteratur, den Vetteln in Schneetraum von Thomas Manns Zauberberg, den Sorgen-Gestalten aus Faust. Der Tragödie zweiter Teil, Musils Grigia und den Pariser Grisetten, während der Autor die Flucht ergreift: „Vielleicht kam der Windstoß zur rechten Zeit – andernfalls hätte der Lektor womöglich gesagt: Pass auf, wenn man keine Frau ist, kann man so etwas heute nicht mehr schreiben!“
Nun gut, das ist frech, und man könnte sich empören. Man könnte auch einen eigenen Roman daraus schreiben, in dem sich graue Frauen verbünden gegen altersgraue Männer und eine bunte Philosophie des Weiblichen entwerfen. Oder man könnte versuchen – und das tun die folgenden Absätze, die eine zu lange Rezension sind, aber eine angemessen kurze Gebrauchsanweisung –, dem Altmeister Sloterdijk dabei zuzuschauen, wie er seine philosophisch-rhetorischen Taschenspielertricks vorführt. Das abgetriebene Kapitel „Grau und Frau“ zum Beispiel ist eine umfangreiche praeteritio – eine enorm nützliche und von Politikern gern (wenn auch zumeist unwissend) verwendete Figur, mit der man vorgibt, etwas nicht sagen zu wollen, es aber eben durch diese Erwähnung ja doch sagt und sogar noch besondere Aufmerksamkeit darauf lenkt. Worum geht es also in Wer noch kein Grau gedacht hat – eine Farbenlehre, und wie liest frau es so, dass man sich beim Lesen nicht nur ärgert, sondern Spaß hat? Here goes!
Sloterdijk lesen – eine Gebrauchsanweisung
Seit 1983 hat Peter Sloterdijk ungefähr jedes Jahr eine neue Monographie publiziert, dazu unzählige Essays, Interviews und Übersetzungen. Wenn er nun, in seinem 75ten Lebensjahr, wiederum ein dreihundertseitiges neues Buch vorlegt, ist es wohl angemessen, von einem Alterswerk zu sprechen. Weit davon entfernt, sich selbst ins Aschgraue zu wiederholen, liest es sich jedoch so frisch und neu und bunt, und mit jugendlicher Frechheit stellt es eine steile These in den Denkraum: „Solange man noch kein Grau gedacht hat, ist man kein Philosoph“! Gleichzeitig promoviert sich sein Autor damit, Praemissis praemittendis, zum ehrenhaft ergrauten Gegenwartsphilosoph schlechthin, der sich gedanklich in der Graulehre auf der Höhe seiner Vorreiter Platon, Hegel und Heidegger bewegt. Die “Ressourcen deutscher Satzbildungskunst“ werden dabei ebenso ausgeschöpft wie der gedankliche und phänomenale Reichtum der Philosophie-, Medien-, Politik- und Kulturgeschichte – noch jedes Alterswerk tendiert zum gesteigerten Geistergespräch, und umgeben von Geistesverwandten, die wie alte Bekannte wirken, reduziert sich die Kommunikation oft auf geballte Kurz- und Kernformeln, die von Gipfel zu Gipfel gerufen werden (das fehlende Register würde aber genauso Autoren und andere Ikonen wie Baudrillard, Dante, Darwin, Dewey, Marx, Wagner oder Warhol verzeichnen; na gut: gönnen wir wenigstens einer Frau eine Nennung: Hannah Arend!; Register sind übrigens ein unterschätztes Genre, sie enthalten ganze intellektuelle Biographien!). Was Sloterdijk jedoch über den Panoramablick hinaus auch zum sprachlichen Großmeister unserer eher zur Sprachverelendung neigenden Gegenwart macht, sind die pointierte Prägnanz, die blendende Brillanz, die sprachschöpferische Buntheit, das schiere Virtuosentum der Darstellung des Denkens (man könnte auch sagen: des Denkens der Darstellung): Das Grau zu denken, bedeutet hier nämlich gerade nicht, in einer grauen Sprache graue Gedanken aneinanderzureihen. Es ist vielmehr geradezu eine Lust, der hochtrainierten Gymnastik von Sloterdijks grauer Substanz beim bunten Tun zuschauen!
Damit ist nicht gesagt, dass dieses Buch einfach zu lesen ist, eher im Gegenteil (aber billige Vergnügungen haben gemeinhin auch wenig Substanz, und Brutstätten für gefälliges Denken findet man anderswo genug im intellektuellen Schnäppchenmarkt). Man muss dazu selbst ein wenig rhetorisch beflügelt sein, sprachmusikalisch nicht ganz unbegabt und fähig wie willig, über den ein oder anderen Begriffsgraben sprachspielerisch hinwegzuspringen. Das jedoch vorausgesetzt, wird man erkennen können: Es sind sehr ernste Sprachspiele, die hier betrieben werden, und was sich in der Erscheinung als Assoziation verkleidet, verbirgt eine messerscharfe Analyse in seinem Grund. Falls jedoch die Aufgabe gestellt wäre, sich selbst als gelenkige Leserin zu erweisen, die eine nuancenreiche und jeden einzelnen Denkmuskel beanspruchende Lektüre schätzt, ohne sich vor dem gelegentlich resultierenden mentalen Muskelkater zu fürchten – dann sollte man dieses Buch mit Genuss lesen. Wort für Wort lesen, Satz für Satz lesen, ganz lesen, nochmal lesen. Noch im grauesten Detail stecken die ganze Buntheit eines langen Philosophenlebens und das souveräne Trickstertum des lebenslänglichen Autors (das meiste davon kommt aus der sehr alten Zauberkiste der Rhetorik, die heute jedoch mehr oder weniger durch die Anspruchslosigkeiten des Twittertums ersetzt worden ist). Und natürlich sollte man Zaubertricks nicht verraten; aber vielleicht ist es nicht ganz unnötig, ein wenig Hilfestellung beim Lesen zu leisten?
1. Aparte Aufzählungen
Worum es im Buch inhaltlich im Großen und Ganzen und Grauen geht – lassen wir am besten Sloterdijk selbst sagen, er sagt es so unvergleichlich besser selbst, dass jede Nachrede nur mausgraues Referat sein könnte. Man kann zudem gleich die Gelegenheit nützen und ihn dabei beobachten, wie er aparte Aufzählungen (enumeratio auf rhetorisch) zur Anreicherung akademisch strohtrockener Zwecke wie einer erwarteten Exposition oder einer zielgerichteten Zusammenfassung einsetzt: „Im chromatischen Bereich kommt Grau dem nahe, was aus modaler Sicht ein Möglich wäre. Topologisch ist es für das Zwischenräumliche zuständig; bei Gebäuden sind seine Bereiche eher die Korridore, die Treppenhäuser und Hinterhöfe als die Balkone oder die Zimmer mit Aussicht. In politischer Sicht färbt es die Randgebiete, wo die Adressen unscharf werden und die Ordnungskräfte zögern; moralisch meint es Grenzfallgebiete, wo man chronisch neben der Vorschrift handelt, um Vorgeschriebenes zu erfüllen; juristisch wuchert es in den Gesetzeslücken und den Bereichen des nicht ausdrücklich Verbotenen.“ Shades of Grey – das ist im Übrigen das einzige Wortspiel des Grauen, das sich Sloterdijk konsequent nicht erlaubt – sind das Grundprinzip solcher Reihungen: Sprachlich kommen ebenso Entfernt-Verwandte zusammen wie gedanklich; nicht markierte ebenso wie ausgestellte Zitate streifen vagabundierend durch den Text („Zimmer mit Aussicht“!); kleinere rhetorische Wortfiguren machen ihre Kunststückchen innerhalb der enumeratio (die Spannung zwischen „Vorschrift“ und „Vorgeschriebenem“ ist die der figura etymologica). Metaphern machen sich auf Begriffsgrund breit (das Juristische „wuchert)“. Merke: Aufzählungen sind nicht langweilig, und man sollte sie niemals überlesen! Aufzählungen sind vielmehr das Wesen der Welt jenseits des immer reduktionistischen Begriffs!
2. Kuriose Komposita und bunte Bettgenossen
Sloterdijk gebiert dabei ständig neue Worte. Das Goethe-Wörterbuch, das den bisher umfangreichsten Wortschatz der (geschriebenen) deutschen Sprache überhaupt dokumentiert (Goethe ist natürlich ein alter Bekannter im Geistergespräch, er versteht sich besser mit einer gewissen Art Philosophen, als man meint), verzeichnet 90.000 Einträge; darunter eine bemerkenswert hohe Zahl an Einmalbildungen sowie Komposita, für die sich die paarungsfreudige deutsche Sprache besonders eignet. Man darf behaupten, dass das Sloterdijk-Wörterbuch in ähnliche Höhen aufsteigen könnte. Wer vor ihm hat schon von „solarmythologischen“, „lichtmetaphysischen“ und „farbtheologischen Motiven“ in der philosophischen Farbenlehre gesprochen? Wer hat, neben Kafka natürlich (ein alter Bekannter, er bekommt weiter unten eine eigene Digression), die „Korridorisierung der Existenz“ beschrieben oder die „Melanokratie“ der Bürokraten? Wo finden wir „Zornsammelstellen“ und „Wutbanken“ (außer im Internet natürlich, das bemerkenswert wenig gewürdigt wird, aber das nur a parte gesprochen) sowie den „Illusionenparkplatz“, außer bei Sloterdijk, dem Wortzauberer? Unnötig zu bemerken, dass das Grau zu einem Haupt-Ideenspender wird: Der „Grauzonenglobus“ wird in seinen „Vergrauungsleistungen“ erschlossen, der „Grautod“ folgt der „Grauzonenverschiebung“ und so weiter ins Aschgraue. Fremde Worte werden auf jeder einzelnen Textseite eingebürgert, auf einer (beinahe) beliebig gewählten Seite wandern ein: „sic et non“, „intentio recta“, „intentio obliqua“ und – man empfinde die Spanne vom Bildungslatein zum zynisch angehauchten Anglizismus der Baby Boomer: „not even wrong“; Wittgenstein lässt grüßen!). In der „mesokosmischen Weltauffassung“ (aus der allein man ein ganzes philosophisches Programm entwickeln könnte!) interagieren, jenseits der großtuenden Pathosformeln wie der kleingeistigen Fachsprache, in natürlicher Selbstverständlichkeit die Worthorte der Spezialisten mit denen Abstellkammern der Alltagsdenker, flirtet Anschauliches mit Höchst-Abstraktem, wiederbelebt Neugedachtes Althergebrachtes. Ja, sogar das „Ungedachte“ (ein sehr dunkler Bereich der traditionellen Philosophie) kommt zu seinem Recht, neben die „Unfarbe“ Grau treten die „Unlesbarkeit“ wie die „Unlebbarkeit“, die „Desymbolisierung“ und die „Dekonzentration“, und am Ende gar die „Entewigung“.
3. Angenehme Allusionen
Eine Digression zu diesem Trick (Digressionen übrigens sind ebenfalls ein sehr zu Unrecht in Verruf geratenes Werkzeug der rhetorischen Trickkiste; wahrscheinlich sind im digressionsverliebten Zeitalter der Aufklärung letztmals wichtige Manuskriptblätter vom Winde verweht worden, so wie dem Autor hier in der abgrundhaften Digression zum Thema „Grau und Frau“!): Es mag kein Zufall sein, dass Sloterdijk Alliterationen nicht nur ihrer akustischen Anmut, sondern durchaus ihres assoziativ-analytischen Potentials wegen schätzt. Wer bereit ist, „Marken, Methoden und Modelle“ nicht nur als Klanggeklimper und Allusion an verbreitete Floskeln des Marketing-bullshits zu lesen, sondern als mesokosmische enumeratio von Phänomenen, die in der Sache verbunden sind, wird auch die „flüchtigen Kulte in den Seitenkapellen der weltumspannenden Konsumkathedrale“ als „eminentestes Exempel“ schätzen; und es mag kein Zufall sein, dass gerade ein sanft summendes M „in milden Kollisionen einer Mehrzahl von Meinungen“ dominiert. Experimentalpsychologen – ein Wissenschafts-Genre, dessen Fehlen so auffällig ist, dass es als Absicht gedeutet werden könnte – haben für derartige (An-)Bahnungen im Gehirn den Begriff Priming geprägt: Ein Reiz aktiviert im Gehirn bestimmte Gedächtnisinhalte, die damit assoziativ – oder, in diesem Fall: akustisch – verbunden sind; wer vorher „milde“ gesagt hat, wird freundlicher auf „Meinungen“ schauen, als wenn vorher von, sagen wir: „schwachen“ Kollisionen gesprochen worden wäre.
4. Prägnante Pointe und perlende Polemik
Noch ein M-Exempel, für den Sprach-Gourmet: „Ohne Massenflucht in die Mediokrität keine modernen Zeiten“! Das ist richtig und lustig und illustriert nebenbei einen weiteren rhetorischen Trick, nämlich: die prägnante Pointe, die auch in Gestalt des bedeutungsballenden Aphorismus auftritt oder gepaart mit perlender Polemik (es scheint nicht unpassend, bei der Lektüre gelegentlich zu lachen). „Die Reinheit des Dagegenseins bewahrt am besten, wer sich der Stimme enthält, wenn Mehrheiten für kleinere oder mittelgroße Übel in Gesetzesform gesucht werden“. Oder: „Kein Auswärtiges Amt weiß wirklich, was da draußen geschieht, wo die Irregularitäten unter sich sind“ (das nicht genug zu empfehlende farbpolitische Kapitel des Buchs liefert en passant eine Geschichte des 20. Jahrhunderts in seinen arg grauen Ecken, für das man nervlich stark aufgestellt sein muss). Zitate werden angespielt und dabei zur Kenntlichkeit entstellt: „Am Anfang war das Bit, und das Bit war bei Gott, und Gott war das Bit“. Zu platt? Na gut, „Bildungsroman verpflichtet“, trotz alledem. Wer jedoch würde der „Gewalt eines Inexistenzbeweises aus der Erfahrung“ widersprechen wollen? Ist die „prästabilierte Harmonie zwischen Neugier und Erkenntnis“ nicht wirklich eine gelungene Wiederbelebung einer schon bei ihrer Geburt außerhalb ihres Milieus nicht besonders lebensfähigen und von den Philosophieverwaltern dann zu Tode getrampelten Formel? Oder, eine winzige Spur von Corona nur in einem Text, der sich – wiederum: auffällig unauffällig – diesem Minenfeld der Immunologie verweigert, obwohl sein Autor seit jeher zu zu den Heroen der philosophischen Immunisierungserkundung zählte: „Stark augenfällig ist überdies der kamerarelative Exhibitionismus, der inzwischen pandemisch wurde, ohne daß die Durchseuchung der Population zu höherer kollektiver Immunität geführt hätte“. Ein Selfie für Sloti!
5. Arsenal der Ansinnungen
Im Übrigen ist Sloterdijk – darf man sagen: offensichtlich, von jeher, in extremis? – der Großmeister der Ansinnung. Das ist Gedankenmanipulation für Fortgeschrittene und funktioniert so: Ein Satz sagt nicht nur eine beliebige Tatsache, eine Hypothese, einen Befund, eine Bemerkung aus, nach dem Muster: X ist Y, aus X folgt Y, oder auch nur: X hat Y gesagt. Nein, die allermeisten und vor allem die konzentriertesten Sätze transportieren in Vorder- und Nachsätzen (praemissis praemittendis, was im Übrigen nicht nur ebenfalls eine lateinische figura etymologica ist, sondern als Akronym P.P. in der formelverliebten und gleichzeitig um höchste Präzision bemühten Kanzleisprache als feste Grußformel benutzt wurde) einen ganzen Rattenschwanz von begleitenden Voraussetzungen und damit verbundenen Geltungsansprüchen. Eine kleine Auswahl aus dem Arsenal der Ansinnungen: „Es versteht sich nahezu von selbst“; Indessen scheint die Überlegung statthaft“; „Gesteht man zu, daß“; „Es liegt in der Natur der Dinge“; „Im übrigen besteht Grund zu notieren“ (weitere Beispiele liefert dieser Text in möglicherweise zu ausgiebigen Anwendungen). Die Sloterdijk’sche Ansinnung wird häufig verbunden mit dem generalisierenden Sprecher-Man (ein Ich gibt es praktisch nicht im Text, was kein Zufall sein mag; gelegentlich taucht ein Du auf) oder dem extensiven Gebrauch von Modalverben (dürfen, mögen, können, gern auch im Konjunktiv). Ebenso gern paart sie sich mit rhetorisch feinen understatement: „Das bedeutet nicht wenig, wenn man bereit ist, mit William James zu bemerken, daß Menschen, wenn es um ihre lebensleitenden Grundannahmen geht, fast nie ohne Unfehlbarkeitsansprüche auskommen“ (und selten war ein Satz wo wahr wie dieser heute, wo das Unfehlbarkeitsdogma der katholischen Kirche manchem als halbherziger Vorläufer der woke-Bewegung erscheinen mag).
6. Eine didaktische Digression
Natürlich ist das massive Manipulation, keine Zweifel; aber überall, wo gesprochen wird, wird manipuliert. Was tut der reife Leser an dieser Stelle? „Es versteht sich nahezu von selbst“ (man beachte das „nahezu“!): Sie widerspricht dem Autor. Das ist, und damit endlich zur versprochenen Kafka-Digression, ein Trick, der das Geheimnis des Erfolgs von Kafka bei leichtgläubigen Lesern und deutungsfreudigen Literaturwissenschaftlern ist: „Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet„; so beginnt die Odyssee des Josef K. im Prozess, und am Ende liegt seine Leiche da. Niemals aber stellt jemand die Prämisse in Frage: Ist es denn wirklich zwingend so, dass Josef K. tatsächlich verraten wurde? Es könnte doch ein einfacher Behördenirrtum gewesen, eine melanokratische Panne im Bürokratenuniversum? Nimmt man die Prämisse weg, praemissis non praemittendis!, flugs zerbröselte der Roman (Kafka übrigens soll beim Vorlesen gelegentlich über seine eigenen Texte gelacht haben; und notfalls hätte man sie ja auch, seiner testamentarischen Anordnung folgend, verbrennen können). Denn man könnte die grauen Korridore des Schlosses auch einfach verlassen, sich der „Verkorridierung“ widersetzen, auch wenn einem vom Erzähler ständig die Notwendigkeit angesonnen wird, dort zu bleiben!
Genauso sollte der der erste Impuls der mündigen Leserin ein vehementes Veto sein, sobald Sätze mit Formulierungen eingeleitet werden wie: „Es versteht sich von selbst“, „es liegt in der Natur der Sache“, „man darf behaupten“ – nein, es versteht sich nicht von selbst für mich! Nein, es drängt sich mir nicht auf! Das entscheidet ja nicht über deren Geltungsanspruch. Aber es eröffnet ein Geistergespräch. Man muss allerdings sein persönliches Unfehlbarkeitsdogma vorher ablegen. Gegen ein permanentes overstatement von angesonnenen Geltungsansprüchen hilft jedoch nur skeptische Immunität (schwierig zu erwerben, sogar im Zeitalter von RNA-Impfstoffen, hält dafür aber lesenslang und immunisiert zusätzlich gegen jegliche Schwarz-Weiß-Malerei, besonders in Kriegszeiten).
Am Ende ist Gleich-Gültigkeit
Und damit zurück zum (inhaltlich) Grauen und einem Schlusszitat, dass die weiteste gedankliche Erstreckung des leitenden Gedankens in Nietzsche’scher Ansinnungsrhetorik und gewagter Wortkombinationskunst („onto-allergisch“!) ausbuchstabiert: „Wie, wenn Empfindung, Nervlichkeit, Störbarkeit, Subjektivität und alles, was daraus folgt, nur ein ‚Versehen des Seins‘ wäre? Wenn das, was wir das Innere nennen, nur ein Epiphänomen wäre, das auf dem Mineralischen aufsitzt, ein Spiel von Botenstoffen in organischen Hypothesen namens Körper? Indes das sachlich Wahre das Tote würde, das sich den Luxus des irrenden, überempfindlichen, onto-allergischen Lebens leistet? Bis das begriffen wird, leben wir im geborgten Licht einer bisher lebensnotwendigen falschen Unterscheidung“. Es gibt kein richtiges Leben in den falschen Begriffen (wahrscheinlich gibt es nicht einmal in richtigen Begriffen ein richtiges Leben). Wer das Grau zu Ende gedacht hat, dem wird vieles gleich-gültig. Aber nicht egal! Und so überrascht der Text schließlich mit einer reservierten Rehabilitierung des Grau-Lauen, Mittleren, Mittelmäßigen: „Das gewöhnliche laue Selbst strebt eine mittlere Selbstverlorenheit an, mit der sich leben läßt. … Vor romantischem Hochmut gegen das Laue sei gewarnt: Lau ist die Betriebstemperatur des Lebens bei den endothermischen Kreaturen“. Aber diese zerstören sich derzeit wieder einmal lieber selbst in den extremistischen Hochtemperaturzonen des unbedingt Schwarz-Weißen und den geistigen Folterkammern der Propaganda.
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