Irgendwann würden sie zum Leuchtturm fahren. Er war gewöhnlich gut zu sehen von ihrem Haus an der Küste aus; außer es war Nebel, oder die Wellen schlugen so hoch ans Ufer, dass man gar nichts mehr erkennen konnte. Natürlich musste einer von den Eltern mitkommen, aber das würde sich doch einrichten lassen. Eines Tages würden sie ganz sicher dorthin fahren, mit dem Boot. Die Eltern hatten es ja versprochen!
Leben, erster Teil
Aber man konnte sich nicht auf die Eltern verlassen. Die Mutter – sie war eine berühmte Schönheit gewesen – starb, als sie dreizehn Jahre war. Virginia erlitt ihren ersten Nervenzusammenbruch, und das Haus an der Küste wurde verkauft. Der Halbschwester Stella führte nun den Haushalt und wurde auch die Ersatzmutter für Virginia – bis Stella selbst heiratete und auszog und wenig später starb, noch auf der Hochzeitsreise, an einer Bauchfellentzündung. Einige Jahre später starb der Vater, Leslie Stephens; er war ein bekannter Literat und Biographist gewesen, die Queen hatte ihn geadelt, und im Haushalt verkehrten berühmte Leute. Er war nicht einfach gewesen, eine dominierende Persönlichkeit, und Virginia bekam wieder einen Nervenzusammenbruch. Dass dann aber noch zwei Jahre später der Lieblingsbruder starb, bei einer Griechenlandreise an Typhus, war mehr als man tragen konnte; fortan würden sie die Depressionen begleiten, ein dunkler Schatten auch über den hellsten Zeiten.
Aber in gewissem Sinne war der Tod des Vaters auch eine Befreiung. Die junge Virginia Stephens war zuhause unterrichtet worden, und seit sie denken konnte, wollte sie das gleiche wie ihr Vater: Schriftsteller werden – und das war ein Beruf, der zu dieser Zeit allein in männlicher Form existierte. Man lebte natürlich noch im viktorianischen Zeitalter, selbst als liberal gesinnte Intellektuelle; und der Platz der Frau war im sitting room, wo sie die Gäste empfing. Natürlich konnte sie gebildet sein, brillant sogar, aber ihr Platz war im Haus. Ihre Brüder gingen hinaus ins Leben und studieren und in den Krieg, aber Virginia, die nach Bildung hungerte wie selten eine Frau vor ihr, durfte nicht studieren. Aber als der Vater gestorben war, zog sie zu ihrem Bruder nach London; hier versammelten sich die jungen Intellektuellen, eine ganz neue Generation, und man diskutierte, rauchte, reiste, dachte sich wilden Schabernack aus. Natürlich bekam sie den einen oder anderen Heiratsantrag, schließlich war sie nicht umsonst die schöne Tochter einer schönen Mutter. Aber man konnte nun zum Beispiel, und genau das tat Virginia, einen Mann heiraten, dem man zwar sehr zugetan war, der klug war, freundlich und so großzügig, dass es gar nicht nötig war, in ihn verliebt zu sein. Nein, Virginia Stephens und Leonard Woolf waren Geistesverwandte, sie leben und dachten und arbeiteten gemeinsam, sie kauften ein Haus, sie gründeten einen Verlag, und sie schrieben. Von Kindern hatte der Arzt abgeraten – Virginias Gesundheit sei zu schwach. Man weiß nicht, ob das vielleicht einer der Gründe war, aber der dunkle Schatten kam wieder, und diesmal versuchte Virginia zu ersten Mal sich das Leben zu nehmen. Sie wurde gerettet, und es war ein Glück für die Literatur – denn sie hatte zwar bisher schon erfolgreich für Zeitungen und Zeitschriften geschrieben, aber noch keiner ihrer großen Romane war erschienen.
Mrs. Dalloway (1925) und To the Lighthouse (1927)
Nun aber schrieb Virginia Woolf, sie druckten die ersten Romane auf ihrer eigenen Presse, handgesetzt, in kleiner Auflage. Aber ihre Romane wurden immer größer, sie zogen immer weitere Kreise; sie waren erzählerisch neu und gewagt, sie benutzten die Technik des Bewusstseinstroms, die James Joyce eben erst berühmt gemacht hatte – aber was war das für ein Unterschied, dass es nun ein weibliches Bewusstsein war, durch den die Dinge strömten, Gedanken, Gefühle, Erlebnisse, Träume; in einem weiblichen Kopf, in dem so viele andere Dinge ihren Platz finden mussten wie in dem eines Mannes? Mrs. Dalloway, die Heldin ihres zweiten Romans, will eigentlich nur ein Fest ausrichten, es ist ein großer Tag, was ist nicht zu alles tun und zu bedenken! Aber während Mrs. Dalloway all die kleinen Dinge tut, die erforderlich sind, zieht ein ganzes Leben vorbei, nein, mehrere Leben ziehen vorbei, eng miteinander verknüpft, und noch die kleinsten alltäglichen Handlungen gewinnen unendliche Bedeutung in diesem klugen, selbstbewussten, originellen und gefühlvollen weiblichen Kopf! Zwei Jahre später erscheint dann derjenige Roman, in dem die Reise zum Leuchtturm immer wieder aufgeschoben wird. To the Lighthouse heißt er, und er ist zu großen Teilen inspiriert von ihrer schwierigen Familiengeschichte und ihrem eigenen Erleben. Auch er arbeitet mit der Technik des Bewusstseinsstroms, aber das ist kein Grund, sich vor der Lektüre zu fürchten; denn er ist nicht schwierig und avantgardistisch und konstruiert, sondern in gleichem Maße poetisch wie klug wie menschlich.
Alle Romane von Virginia Woolf wurden sensationelle Romane. Und sie wurden es nicht, weil sie von einer Frau geschrieben wurden, sondern weil sie von einer klugen, sensiblen, künstlerisch mutigen und menschlich reifen Frau geschrieben wurden, die sich nicht eine Minute dafür schämte, dass die Literatur jetzt weiblich wurde, dass ein Einkauf die gleiche Bedeutung bekommen konnte wie ein Feldzug; oder dass jetzt endlich der Körper zu seinem Recht kam, auch der kranke, empfindliche, fragile Körper der Frau; oder dass die Herstellung eines Menüs so sprechend sein konnte wie ein ganzes Parlament voller Männer, die sowieso nur immer dasselbe sagten und dumm genug waren, um immer wieder den gleichen Krieg zu führen. Es waren Romane, die von einer anderen Welt erzählte – aber diese andere Welt war immer da gewesen, es hatte nur keiner von ihr erzählt, und alle Frauen (begeisterte Romanleserinnen, seitdem der Roman erfunden war) hatten damit leben müssen, dass immer nur Männergeschichten erzählt wurden, von Männern für Männern, und dass diese Männer ihnen vor-schrieben, wie sie sein sollten, denken sollten, fühlen sollten.
Essays
Virginia aber schrieb über Dinge, über die noch nie ein Mensch in einem Roman geschrieben hatte. Sie schrieb gerne auch Essays, wie ihr Vater, eine besonders männliche Form der Literatur: gedankengeladen, formvollendet und doch leicht sollten sie sein, Glanzstückchen des gehobenen Literaten, kleine funkelnde Meisterwerke, denen man die Mühe gar nicht ansah, die in sie geflossen war, das Denken, das Erleben, die mühsame Arbeit mit der Feile. Virginias Essays waren nicht nur brillant und klug, sie waren auch poetisch. Sie konnte beschreiben, wie man in den Straßen nach London nach einem neuen Bleistift jagt – und es war nicht nur ein neues unverbrauchtes Thema, es war auch ein wichtiges: Denn man trifft die unterschiedlichsten Menschen auf der Straße und ihre Geschichten, und hinter jeder Straßenecke, in jedem Schaufenster wartet eine andere Welt, wenn man nur genau hinschaut und ein wenig Phantasie hat. Virginia konnte schauen, oh, was hatte sie schauen gelernt!
Das, wenigstens, war ein Vorteil, wenn man keine Schulen und Universitäten besuchen musste und nicht in sinnlosen Kriegen abstumpfen und in öden Brotberufen geistig verhungern. Der sitting-room war zwar eine Plage gewesen, aber auch, wie man im Englisch so schön sagt, eine education, ein ganz besonderer Bildungsakt, eine Schule der Beobachtung und Menschenkenntnis. Man kennt das alltägliche Leben hinterher nicht wie seine Westentasche, sondern man kennt die Westentaschen des Lebens; man hat sie gekauft, gewaschen und geflickt, vielleicht sogar gewendet, und was hatte man dabei erlebt und gefunden! Ein Essay, so schrieb Virginia, sollte den Leser verzaubern; er sollte einen Vorhang um ihn ziehen, der ihn von der Welt isoliert und ihn ganz in seinen Bann zieht. Noch nie hatte ein Mann einen Essay so definiert; Männer wissen einfach zu wenig von Vorhängen.
Orlando (1928)
Nachdem sie endlich genug Frau und Schriftstellerin hatte sein dürfen, wurde Virginia noch freier und machte einen Schritt weiter. Konnte man nicht auch Frauen lieben? Man konnte, und es waren andere Liebesbeziehungen als die, über die die Männer schrieben. Konnte man nicht auch sein Geschlecht wechseln? Man konnte; und Virginia schrieb mit Orlando den ersten Roman der Weltliteratur, in dem der Held zuerst ein Mann war und dann eine Frau wurde; und er/sie durchlebte die Geschichte aus wechselnden Perspektiven, durchwanderte die Länder und die Zeiten wie die Geschlechter, ein wahrhaft freier Geist – denn war es nicht so, dass in jeder Frau ein Mann steckte und in jedem Mann eine Frau, und bei manchen Menschen war die eine Seite dominant und bei manchen die andere, aber nur beide zusammen ergaben ein Ganzes.
A Room of one’s own (1929)
Konnte man nicht schließlich fordern, dass es eine Selbstverständlichkeit sein sollte, dass Frauen schreiben? Sie brauchen dafür nur, so schrieb Virginia Woolf in dem Gründungsmanifest weiblicher Autorschaft bis heute, nur zweierlei: finanzielle Unabhängigkeit (offensichtlich) und ein Zimmer für sich, a room of one’s own. Männer haben immer genug Räume, wo sie für sich sein können; Frauen aber haben nur Räume, in dem sie arbeiten müssen, Funktionen erfüllen, Erwartungen entsprechen. Aber in der Küche kann man so wenig schreiben wie in der Wäschekammer; und auch im sitting room oder dem Schlafzimmer gehört man nicht sich selbst allein, man gehört dem Geliebten oder der Gesellschaft. Um zu schreiben, muss man jedoch sich ganz allein gehören können. Man muss bei sich sein, und nicht bei den anderen, und zwar ungestört, ohne ständige Unterbrechungen und Ablenkungen. Und dann kommt vielleicht, vielleicht jener wundersame Genius, den man niemals mit Gewalt bezwingen oder herbeibefehlen kann, und lässt die Gedanken strömen und die Worte – bis es wieder an der Türe klopft und jemand etwas will, die Wäsche geholt werden muss oder das Abendessen vorbereitet.
Leben, zweiter Teil
Mehrere Romane später kam der Zweite Weltkrieg, und die Schatten wurden tiefdunkel. Der Ehemann war Jude, es hatte niemals eine Rolle gespielt in ihrer langen, ruhigen Partnerschaft. Gemeinsam würde man aus dem Leben gehen, wenn die Nazis kämen, so beschlossen die beiden, und man kann sich vorstellen, dass sie auch dabei ganz ruhig blieben. Die Nazis kamen nicht, aber Virginias Depressionen wurden wieder stärker; sie hatte psychotische Phasen, in denen sie Stimmen hörte, sie war dann nicht mehr sie selbst, und sie fürchtete sich vor nichts mehr, als: davor, nicht mehr schreiben zu können. Und so entschloss sie eines Tages, als es nicht mehr auszuhalten war, ihrem Ehemann ein Stück voran zu gehen. Sie füllte sich die Taschen ihres Mantels mit Steinen und ging zum Fluss, und dann ging sie in den Fluss, und erst drei Wochen später fand man ihre Leiche. Und das sagt sich so sachlich, aber es ist unendlich furchtbar, sich das vorzustellen. Aber das muss man tun, wenn man davon schreibt, man muss es ganz tun und ehrlich, und man hätte diese Frau nicht verdient, wenn man sich nun davor drückte die Szene innerlich auszumalen: Wie sie die Steine wählt, sie müssen schwer sein, aber auch in die Tasche passen (was trägt man für einen Selbstmord?). Es muss ein unbeobachteter Moment sein, aber man kennt die Umgebung, man wählt den Zeitpunkt klug, man will niemand belasten, der zufällig Zeuge sein könnte. Und dann schreibt man die letzten Zeilen an den Mann, mit dem man sein Leben geteilt hat, man schreibt vielleicht mit der gleichen Feder – nein, wahrscheinlich gab es dafür eine Schreibmaschine. Aber Schreiben war Virginias Leben, und nun schreibt sie: „Ich glaube nicht, dass zwei Menschen glücklicher hätten sein können, als wir es waren“.
Es gab sicherlich keinen Leuchtturm am Fluss Ouse, in dem Virginia Woolf ihr Leben beendete; aber vielleicht wird die Szene erträglicher, wenn man sich vorstellt, dass sie einen Leuchtturm sah, als letztes, in der Ferne; und dass sie ganz sicher war, dass sie ihn nun, endlich, erreichen würde.
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