Gastbeitrag von Jakob M. Stephan
Wenn wir an die Emanzipation der Frau denken, werden wir wohl mehr an die Suffragetten, Demonstrationen und an den Slogan „Mein Bauch gehört mir“ denken als an Bibelkreise, gemeinsame Nähabende und Mennonitinnen. Die Mennoniten bilden eine evangelische Konfession, die sich in Folge von religiösen Verfolgungen über den gesamten Globus verstreut haben. Sie stechen durch Vielfältigkeit hervo: Während die einen Plattdeutsch redend in ihren schwarzen Kutschen über die Nordamerikanische Prärie brettern, sind die anderen vollständig in den melting pot ihrer neuen Heimaten verschmolzen. Ein Blick auf die Biographie von Helene (geb. Heese) Toews (1893-1983), einer mennonitischen Kirchenaktivistin, zeigt, wie der Feminismus als eine breite kulturelle Bewegung nicht vor den eher konservativen Mennonitinnen Halt machte.
Jugend und Ehe: „Es schien mir immer, dass ich mehr erreicht hätte, wenn ich als Knabe geboren worden wäre“
Im persönlichsten Dokument, das Helene Toews hinterlassen hat, einer spirituellen Autobiographie namens Gottes Werke an meiner Seele, problematisiert sie gleich auf der ersten Seite ihre Weiblichkeit:
My soul was put into the body of a little girl that received the name Helene, short Lena, by God, her creation that occurred in March 1893. A girl? Why a girl? This question often baffled my brain (…) it always seems to me that I would have accomplished more as a boy (…) (God’s Work 1).
[Gott versetzte meine Seele in den Körper eines kleinen Mädchens, das den Namen Helene, kurz Lene, erhielt. Sie wurde im März 1893 erschaffen. Ein Mädchen? Warum ein Mädchen? Diese Frage beschäftigte meinen Kopf oft (…) Es schien mir immer, dass ich als ein Junge mehr erreichen hätte können.]
Hier zeigt sich, dass Toews ihr Geschlecht als eine Barriere wahrnimmt. Sie fragt sich als gläubige Christin, weshalb Gott entschied, ihre Seele nicht in den Körper eines Mannes zu platzieren. Doch zeigt ihr Lebensweg, wie es ihr in einer patriarchal organisierten Gemeinschaft gelang, eine führende Rolle einzunehmen, ohne dabei in Glaubenskonflikte zu geraten.
Toews wurde 1893 in einer mennonitischen Siedlung namens Choritza in der heutigen Ukraine geboren. Um das Gymnasium in Jekaterinoslaw besuchen zu können, musste sie als 15jährige ihr Heimatdorf verlassen. Sie lebte bei einer mennonitischen Gastfamilie und engagierte sich schon als Schülerin im lokalen Gemeindeleben. In diesem Lebensabschnitt prägte sie besonders die Begegnung mit dem Pastor David Heinrich Epp (1861-1934): „I was allowed to sit at the feet of such a master and to listen to his speeches and doctrines” (God’s Work 2) [Mir was es vergönnt zu den Füßen solch eines Meisters zu sitzen und seinen Reden und seinen Lehren zu lauschen].
Toews hatte ein reges Interesse sowohl am Gemeindeleben als auch an theologischen Fragen. Beide Bereiche wurden gleichermaßen zu dieser Zeit von Männern dominiert. Für Toews hingegen galt es, einen Ehemann zu finden und eine Familie zu betreuen, um den Normen ihres Umfeldes zu entsprechen. Sie verliebte sich in den Sohn ihrer Gasteltern, den sie als intelligenten und strebsamen jungen Mann beschreibt. Als sie sich jedoch ihre gegenseitige Zuneigung gestanden und er Toews umarmte, fühlte sie sich von seiner körperlichen Nähe abgestoßen:
He then confessed that he was in love with me. I was happy. He then hugged me for the first time. His hug was not chaste. I freed myself from the hug and went away. It was for me like a freezing water jet that poured out onto my warm feelings. (God’s Work 4)
[Dann gestand er mir, dass er mich liebte. Ich war glücklich. Danach umarmte er mich zum ersten Mal. Seine Umarmung war nicht keusch. Ich befreite mich aus seinen Armen und rannte weg. Es fühlte sich so an, als hätte man eiskaltes Wasser über meine warmen Gefühle gegossen.]
Ein sexualisiertes Liebesverhältnis widersprach Toews Beziehungsideal. Sie wollte in einer Beziehung nicht als Frau, sondern als Mensch behandelt werden: “I said to myself, he only regards me as a woman, and not as a human, this is not a true love that wants to make the other unhappy.” (God’s Work 4). [Ich sagte zu mir selbst: Er sieht mich nur als Frau und nicht als Mensch an. Eine wahre Liebe macht den anderen nicht unglücklich.]. Ihren Ehemann, Bernhard Toews, heiratete sie nicht aus Zuneigung, sondern aus einem Pflichtgefühl heraus: “I decided to love him as much as I could when I married him.” (God’s Work 6) [Ich entschloss mich ihn so sehr wie ich konnte zu lieben, als ich ihn heiratete]. Ehe sie ihn heiratete, konnte sie ein Jahr lang als Lehrerin an der Chortitza Mädchenschule arbeiten und dabei einer Berufung nachgehen, die sie als Fortsetzung ihrer Familientradition empfand. Denn ihr Urgroßvater Heinrich Heese (1787-1868) hatte die Chortitza Zentralschule gegründet. Nach ihrer Eheschließung durfte sie jedoch nicht mehr als Lehrerin arbeiten und wurde Hausfrau und Mutter, wie es das „Schicksal“ für sie vorgesehen zu haben schien.
In Toews‘ spirituellen Memoiren spielen die zahlreichen politischen Umbrüche im Zuge des 1. Weltkriegs, der Oktoberrevolution, des Bürgerkrieges und der Gründung der Sowjetunion eine untergeordnete Rolle, vielmehr beklagt sie sich über ihr glückloses Eheleben, das von der Alkoholkrankheit und Spielsucht ihres Gattens negativ geprägt worden war:
Whenever he returned home completely drunk in the morning, where he found me still awake, he was dissatisfied with me. He then requested his good night kiss. At this point, the alcohol smell was disgusting to me to so that I refused to kiss him. He immediately fell asleep but I tossed and turned sleeplessly in bed pondering about my situation. I did not speak to him for years, my throat felt constricted. (God’s Work 6)
[Immer dann, wenn er völlig besoffen morgens nach Hause kam, und er sah, dass ich noch wach war, war er sauer auf mich. Er verlangte dann einen Guten-Nacht-Kuss. Doch der Geruch von Alkohol widerte mich bereits so an, dass ich es ablehnte, ihn zu küssen. Danach schlief er sofort ein, während ich mich schlaflos in meinem Bett hin und her räkelte und über meine Situation grübelte. Viele Jahre lange sprach ich nicht mit ihm. Meine Kehle war wie zugeschnürt.]
Religiöse Überzeugungen und gleichberechtigte „Reichsgottesarbeit“
Das Engagement in der Gemeinde bot Helene Toews eine temporäre Ausflucht aus ihrer Ehe. Sie besuchte regelmäßig Gottesdienst und Bibelkreise. An ihren Reflexionen lässt sich erkennen, wie intensiv sie sich mit fundamentalen Fragen der Theologie beschäftigte. So distanziert sich Toews scharf von dem Konfessionalismus ihrer Umgebung. Es ist für sie nicht entscheidend, ob ein Christ wie ein Mennonit als Erwachsener getauft wird, sondern für Toews zählt allein der individuelle Glaube:
I am Christian in the first place. For me, any way of baptizing at any time is equally correct and holy whether it takes place during childhood or adulthood as long as it happens with belief and heart (God’s Work 3).
[Vor allem bin ich eine Christin. Meiner Meinung nach ist jede Form der Taufe gleichermaßen korrekt und heilig. Sie mag während der Kindheit oder des Erwachsenenalters stattfinden, solange sie nur vom Herzen und aus Glauben vollzogen wird.]
Glauben war für Toews keine rein rationale Angelegenheit, sondern sie sehnte sich nach einer persönlichen und emotionalen Gottesbindung. In ihren Memoiren finden wir zum Beispiel den Bericht einer Vision, die sie erlebte, als eines von ihren vier Kindern an einer lebensbedrohlichen Lungenentzündung litt. Glücklicherweise überlebte es.
I then stood up. The entire room was illuminated by a celestial shine. A brightness that did not blind, but transmitted a marvelous warmth. This warmth was a balm on my wounded heart. I felt the presence of a celestial being in the room but I only noticed the bright shine, did not hear a voice, but my heart received the certainty: Your child will be alive (God’s Work 7).
[Dann stand ich auf. Ein himmlisches Licht erleuchtete das gesamte Zimmer. Dieses Licht blendete jedoch nicht, sondern es ging von ihm eine wundersame Wärme aus. Diese Wärme war wie Balsam für mein wundes Herz. Ich fühlte die Anwesenheit eines himmlischen Lebewesens im Zimmer. Jedoch nahm ich nur das helle Licht wahr. Ich hörte keine Stimme. Doch mein Herz spürte die Gewissheit, dass mein Kind am Leben bleiben wird.]
1927 immigrierte Helene Toews mit ihrer Familie nach Kanada. Nach anfänglichen Schwierigkeiten dabei, sich in Kanada ein neues Leben aufzubauen, und dem Tod ihres Ehemannes hatte sie die Möglichkeit ihr Leben der Gemeinde bzw. der Reichgottesarbeit (um mit ihren eigenen Worten zu sprechen) zu widmen. Dabei erfüllte sie sich auch ihren Wunsch, als Lehrerin tätig zu sein, als sie anfing, an einer Sonntagsschule zu unterrichten.
Später wurde Toews eine engagierte Organisatorin der lokalen mennonitischen Frauenvereinigungen Ontarios, deren Gründung nach dem Zweiten Weltkrieg von vielen mennonitischen Männern skeptisch beobachtet worden ist. Denn ihnen war es untersagt, an den Treffen ihrer Frauen teilzunehmen. Somit etablierten mennonitische Frauenvereinigungen Strukturen, die eine gewisse Unabhängigkeit von den männlich dominierten Gemeinden ermöglichten.
Eine weitere wichtige, wenn nicht identitätsstiftende Beschäftigung der Frauenvereine waren die gemeinsamen Nähzirkel. Hier konnten die Frauen nicht nur ihre Kreativität ausleben, sondern sich auch sozial vernetzen, um gemeinsame Ziele zu verfolgen. Der Erlös aus dem Verkauf der kunstvollen Textilien, insbesondere der berühmten Nordamerikanischen Mennonite Quilts, wurde dafür verwendet, soziale Projekte zu finanzieren.
Trotz des substanziellen finanziellen Beitrags, den weibliche Nähkreise für die mennonitische Gemeinden leisteten, waren Mennonitinnen von der Organisation der mennonitischen Kirchen ausgeschlossen. Toews war die erste Frau, die an den großen Konferenzen der mennonitischen Kirchen in Kanada teilnahm. Im Gegensatz zu den männlichen Teilnehmern musste sie aber für ihre Anreisekosten selbst aufkommen.
Auf einer der Zusammenkünfte hielt Toews eine Rede mit dem Titel Die Frau ohne u. durch Christus. Die wahre Bestimmung der Frau, in der sie darlegte, weshalb der christliche Glauben gebietet, dass Frauen uneingeschränkt wie Männer an der Reichgottesarbeit partizipieren dürfen. Für ihre Argumentation griff sie auf das Beispiel von Maria Magdalena zurück, die Jesus wie die zwölf Apostel begleitete. Toews Argument ist, dass der neuen Bund, den Jesus zwischen Gott und den Menschen schloss, eine neue Gleichheit zwischen den Geschlechtern stiftete, wie sie vor- bzw. nichtchristliche Gesellschaften nicht kennen. Für alle Christen wie Christinnen sei es gleichermaßen, dass höchste Anliegen, sich in der Reichgottesarbeit zu engagieren:
The true nature of the woman lays in the work for God’s Kingdom. For, the service in which God gave, and the human acted and took is the highest good that we can aspire (Wahre Bestimmung 6).
[Die wahre Natur der Frau besteht in der Reichgottesarbeit. Denn die Arbeit, in der Gott gibt und der Mensch handelt und nimmt, ist das höchste Gut, nach dem wir streben können.]
In einer anderen Rede, die Toews anlässlich der ersten Konferenz der mennonitischen Frauenvereinigungen hielt, deren Vorsitzende sie mehrere Jahre lang war, unterstreicht sie, wie elementar es für Christinnen ist, sich gemeinschaftlich der Reichgottesarbeit zu widmen. Die Gemeinschaft unterstützt sie dabei, sich Gott anzunähern:
The scripture taught us to practice God’s salvation industriously and to obtain God’s salvation with fear and trembling. Nowhere you will learn these things better than in the community. There is something marvelous about the community that we are unable to grasp (Purpose and Aims of the Sewing Circles and the Women; Conference, 4).
[Die Heilige Schrift lehrt uns eifrig nach Gottes Heilslehre zu handeln und sie ehrfürchtig und zitternd anzunehmen. Dies kann man nirgendwo besser lernen als in einer Gemeinschaft. Gemeinschaften haben etwas Wundersames an sich, das wir nicht verstehen können.]
Dabei ist zu betonen, dass für Mennonitinnen Reichgottesarbeit keine weltabgewandte Mediation darstellt, vielmehr besteht sie in tatkräftigem sozialem Engagement. Es war Toews‘ Ziel, sich in der Reichgottesarbeit nicht als Frau oder Mann, sondern als Mensch Gott zu erfahren.
Neben den hier diskutierten Reden und der spirituellen Autobiographie befinden sich zahlreiche Abschriften von theologischen Schriften, Kirchenlieder und geistiger Lyrik sowie ein Reisetagebuch in Toews‘ Nachlass. Sie war eine der ersten Mennoniten, die in den 60ern nach der Stalinära in die Ukraine reiste, um ihre dort verbliebenen Familienangehörige zu besuchen.
Dass ihr Nachlass 2018 erst 35 Jahren nach ihrem Tod gesichtet worden ist, liegt darin begründet, dass er sich in einem anderen Nachlass befand. Den Mappen, die Helene Toews Schriften enthielten, war ein Block beigelegt, in der Klara Wiens Knelsen, eine Mitstreiterin von Helene Toews, deren Manuskripte von Kurrent in gut lesbare lateinische Schrift übertragen hatte. Hier erkennt man ein Interesse daran, Helene Toews‘ Andenken und Ideen zu bewahren.
Anmerkung: Im Rahmen eines Praktikums am Mennonite Archives of Ontario in 2019 hatte ich die Möglichkeit, mich mit Toews‘ Nachlass auseinanderzusetzen. Da das Archiv coronabedingt geschlossen hat, greift dieser Blogartikel auf meine eigenen Übersetzungen von gewählten Texten vom Helene Toews zurück, welche ich wiederum für diesen Artikel ins Deutsche übertragen habe.
Texte:
Toews, Helene. Die Frau ohne u. durch Christus. Die wahre Bestimmung der Frau, TS, Mennonite Archives of Ontario.
Die Werke Gottes an meiner Seele, übersetzt von Jakob Michael Stephan, TS, Mennonite Archives of Ontario.
“Woher? Wohin?.” Glueckliche Sonnige Schulzeit, herausgegeben von Helene Toews, Niagara Press, 1952, 105-109.
Ein einmaliges Ereignis. Meine Reise nach Ruszland. TS, Mennonite Archives of Ontario.
Ziel und Zweck der Nähvereine und der Frauenkonferenzen, TS, Mennonite Archives of Ontario.
Bilder (nach Reihenfolge im Text)
Helene Toews in höherem Alter. https://archives.mhsc.ca/index.php/helene-toews-first-president-of-the-ontario-womens-group, zuletzt eingesehen am 3.8.2021, mit freundlicher Genehmigung des Mennonite Archives of Ontario (https://uwaterloo.ca/mennonite-archives-ontario/) bereitgestellt.
Helene Toews (vierte Frau von rechts) als Sonntagsschullehrerin. https://archives.mhsc.ca/index.php/vineland-united-mennonite-church-sunday-school-teachers, zuletzt eingesehen am 3.8.2021, mit freundlicher Genehmigung des Mennonite Archives of Ontario (https://uwaterloo.ca/mennonite-archives-ontario/) bereitgestellt.
Verkauf von Mennonitischen Quilts in Ontario, https://archives.mhsc.ca/index.php/rugs-and-quilts-on-display-at-ontario-mennonite-relief-sale-1974, zuletzt eingesehen am 3.8.2021, mit freundlicher Genehmigung des Mennonite Archives of Ontario (https://uwaterloo.ca/mennonite-archives-ontario/) bereitgestellt.
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