„Cox, oder: Der Lauf der Zeit“
Die Zeit: eine Klippe, an der noch jeder Denker gescheitert ist, und das obligatorische Augustinus-Zitat trifft diese frustrierende Erfahrung am besten, es geht so: Was ist also die Zeit? Wenn mich niemand darüber fragt, so weiß ich es; wenn ich es aber jemandem auf seine Frage erklären möchte, so weiß ich es nicht. Nein, wir können nicht über die Zeit denken. Aber wir können Uhren bauen, die die Zeit – was immer sie nun sein mag, eine immaterielle Substanz, eine Idee, eine Variable in einer Formel, ein Rahmen – messen. Und wir können Texte schreiben, die Zeit beschreiben, einfangen, und vielleicht sogar: ihr Vergehen simulieren?
Denn das scheint mir der Kern von Christoph Ransmayrs Text-Kunststück Cox, oder: Der Lauf der Zeit (2018) zu sein. Der größere Teil der Rezensenten ist bald nach Erscheinen des Romans in Lobes-Hymnen ausgebrochen, die mit Superlativen und glitzernden Adjektiven nicht sparen; im Wesentlichen preisen sie die große Schreib-Kunst des Autors als Meister, seine Virtuosität und den berauschenden Effekt seiner Prosa. Aber ein kleinerer Teil von ihnen beharrte darauf, dass große Kunst auch immer in der Gefahr der Künstlichkeit, des Manierismus, der Textbrillanz um ihrer selbst stehe: Denn wo bleiben die Tiefe des Gefühls, die Menschlichkeit der Emotion, das Mitgefühl im emphatischen Sinne angesichts einer – Prachtuhr, eines preziösen Sammlerobjekts, das man anschaut und noch einmal anschaut und dann immer wieder „Oh“ sagt, „oh!“ – aber Bewunderung, ästhetische Ehrfurcht und sinnliche Berauschung sind keine tiefen und warmen Gefühle. Im Gegenteil, man fühlt sich beim Bewundern meist eher – fröstelig; und ist das nicht genau das Gefühl, das Cox, den Uhrenbauer-Superstar, den virtuoso des Uhrwerks, überfällt, sobald er meint, die Kontrolle über etwas zu verlieren? Und empfindet der Kaiser aller Kaiser am Ende nicht selbst ein Frösteln, bevor er die Uhr – aber nein, das wäre nun der ultimative Spoiler; jeder muss das Lese-Uhrwerk selbst in Gang setzen!
Denn das ist Ransmayrs kunstvollstes Machwerk (und das ist nicht in einem negativen, sondern in einem wörtlichen Sinn gesagt: Es ist eine kunstvoll gemachte Text-Maschine): Es ist selbst eine Uhr, ein Zeitmesser, der den Ablauf der Zeit mit dem Bemühen um größtmögliche Präzision ebenso wie größtmögliche Prachtentfaltung mit Hilfe ausgesuchtester Worte und wertvollster Sprachmaterialien simuliert. Die Sätze haben lange, komplizierte Rhythmen aus ineinander gestaffelten Nebensätzen, die sich gegenseitig, wie kleine Zahnräder, immer wieder neu in Gang setzen. Ein solcher Satz erstreckt oft über einen einzigen Absatz, bevor mit dem nächsten Absatz dann die nächste Umdrehung, die nächste Lese-Minute angestoßen wird oder ein Kapitel die Stunde schlägt. Eines der wichtigsten Schmuckelemente dieser Text-Uhr ist dabei der Exotismus Chinas – das nicht das reale China ist, auch nicht ein historisches China, sondern die Utopie eines fernen, unendlich reichen, unendlich brutalen und gleichzeitig unendlich verfeinerten Landes, abgeschlossen von der Realität durch das Wunder der langen Mauer und die Überzeugung von der eigenen Unvergleichlichkeit und Überlegenheit (das sollte man zur Kenntnis nehmen, bevor man allzu viel aktualisierende Deutungen macht; und insbesondere die Identifikation des Kaisers namens Qianlong mit seinem historischen Vorbild, einem chinesischen Aufklärer auf dem Thron, ist sogar ziemlich ungerecht).
Dieses Uhren-China ist ein Land der Extreme; denn nur ein solches kann die Art von Kunstwerken hervorbringen, die der Meister mit seinen Gehilfen erschafft, im Auftrag eines Mannes, der so allmächtig ist wie – ein Gott: aber auch so enthoben, so isoliert, so einsam wie – ein Gott. Oder wie ein Künstler (der ein Mann ist; die allergrößten Künstler sind immer Männer, und das ist weder böse Absicht noch Zufall; gelegentlich habe ich den Verdacht, Testosteron spielt eine nicht unwesentliche Rolle dabei). Oder wie die schönste Frau der Welt, die Zarteste, Schönste, Süßeste (eine Frau, natürlich; die perfekte Schönheit ist immer weiblich, wahrscheinlich hat es mit Östrogen zu tun). Oder das perfekte Kind wie Cox‘ früh verstorbene Tochter (jenseits von beidem, und eben deshalb perfekt). Oder – es kommt nicht darauf an. Der Thron der Himmelsuhr, mit der der Kaiser gern spielt, ist leer. Er wird gelegentlich besetzt mit Püppchen. Es ist gleichgültig, welche Puppe auf dem Thron sitzt, um den sich die ganze Himmelsmechanik dreht. Es ist nur – ein Spiel, eine Fiktion, ein Machwerk (ein Roman, mit sich umeinanderdrehenden Figuren?).
Natürlich wird Ransmayrs Roman deshalb von seiner eigenen symbolischen Konstruktion ein- wie überholt. Denn Menschen können zwar die kompliziertesten Uhren bauen, sie haben eine atemberaubende Mechanik und verwenden eine Überfülle kostbarster Materialien; aber Uhren brauchen einen Antrieb. Jemand, der sie aufzieht, einen ersten Beweger und danach viele weitere, wenn der Antrieb abgelaufen ist. Gibt es Zeit überhaupt, wenn niemand hinschaut, wenn keiner ihren Ablauf erfährt und darüber nachdenkt? Was ist also die Zeit? Wenn mich niemand darüber fragt, so weiß ich es; wenn ich es aber jemandem auf seine Frage erklären möchte, so weiß ich es nicht. Der Autor konstruiert das Uhrwerk; doch erst die Leserin setzt die Uhr in Gang. Bei jedem Lesen entwickelt sich eine individuelle Lesezeit (es ist nicht diejenige, die der Kindle unten am Rand anzeigt, wenn man ihn lässt: „Verbleibende Lesezeit“ heißt es recht schön, und mit einem kleinen Grusler liest man gelegentlich „verbleibende Lebenszeit“); sie ist auch verschieden je nach Werk, nach Genre, nach Leselust und Lesesituation (Spannung beschleunigt die Leseuhr; Beschreibung verlangsamt sie. Dialoge schaffen eine Art Echtzeit-Simulation; das alles weiß sogar die gelegentlich recht dumme Literaturtheorie). Aber dazu kommen muss der Leser; er ist der erste Beweger, der einen Text in Gang setzt. Und jede erfahrene Leserin kennt das Gefühl, das ein Textende erzeugen kann: Warum muss es aufhören? Kann es nicht weitergehen, in eine epische Ewigkeit sich erstrecken? Ach, die Textuhr ist abgelaufen! Manchmal zieht man sie sogar dann neu auf, mit dem gleichen Text (Zweitlektüren eröffnen eine andere Zeitdimension).
Das alles ist ein wenig trivial und traurig. Zeit läuft ab, man kann sie nicht festhalten; lebe den Augenblick!, und was der Trivialitäten mehr sind. Und wie so häufig enthalten Trivialitäten einen nicht-trivialen Kern von Wahrheit. Der Augenblick zum Beispiel – man könnte ihn als eine Art Gegenpol zum Zeitablauf verstehen, ein Moment geronnener Zeit, ein unerwarteter Stillstand in der Mechanik. Und Augen-blicke (gern auch: im Wortsinn!) spielen eine große Rolle im Roman (es fällt einem aber zuerst gar nicht auf, so sehr scheint alles zu fließen). Religiöse Epiphanie, mystische Erleuchtung, prägnanter Moment (moment of being, so nennt es Virginia Woolf) – das Phänomen hat viele Namen, und seine Unverfügbarkeit verbindet es mit dem gnadenlosen Zeitablauf: Man kann die Augenblicks-Erleuchtung ebenso wie die Ewigkeit nicht herbeiwünschen, nicht herbeidenken, nicht einmal simulieren (das unterscheidet sie von Sex). Kann Lektüre Epiphanien trotzdem ein wenig, um die Analogie zu strapazieren, stimulieren? Vielleicht, vielleicht. Epiphanien hat man zwar, oder man hat sie nicht. Es hat aber mit Empfänglichkeit zu tun, und die kann man immerhin schulen (das kann man dann „ästhetische Erziehung“ nennen, man muss aber nicht).
Verborgen hat Ransmayr außerdem durchaus ein wenig tieferes Gefühl eingebaut; er hat es sozusagen vergraben. Denn zwischendurch stirbt eine Figur, eine in dem schmalen Figuren-Set nicht ganz unbedeutende Figur; trotzdem hat man hinterher den Verdacht, dass sie von Anfang ein red-shirt war, ein Bauer auf dem Figurenbrett des Erzählmeisters, der für die Königin sterben muss. Das Sterben von Figuren ist bekanntlich eine der stärksten erzählerischen Waffen eines Autors zur Emotionserregung; man muss es deshalb sorgfältig und sparsam einsetzen. Und das tut Ransmayr; denn die Leserin wird genauso überrascht wie die anderen Figuren selbst, die um den Sterbenden herumstehen und eine ganze andere Szene beobachten, atemlos. Und dann fällt, mehr oder weniger zufällig, einer vom Pferd und ist tot, für immer; gestorben in der Fremde, sinnlos, Opfer eines momentanen Windstoßes, der den prächtigen Schwanz seines kaiserlichen Reitpferdes so aufblähte, dass man ihn für ein Gespenst halten konnte, und das Pferd bäumte sich auf, und einer fiel, fiel unglücklich, und war tot, für immer. Die Mechanik kommt ins Stocken, die Zeit hält an, es ist – eine Pause, ein empfundener Stillstand. Der Tod ist Sand, Staub im Getriebe der Maschine; man kann ihn, weder durch unendliche Macht noch durch unendliche Vorsicht, ausschließen. Der Tod ist ein Skandal.
Doch dann trauert einer, ein Gefährte (und man versteht, dass Gefährten und Gehilfen nicht umsonst Rollen sind, die man in jedem Epos braucht; es ist der Grund, warum Frodo einen Sam hat; Frodo allein ließe einen frösteln). Und man gräbt ein Grab, um den Ort für alle Zeit zu markieren. Er liegt unter einer spitzen Felsnadel, und es zeigt sich, bei der Abreise und nur erkennbar für die geschulten Blick des Uhrenbaumeisters Cox, dass die Felsennadel eine natürliche Sonnenuhr bildet: Sie zeigt den Tagesablauf mit ihrem Schatten an, und in ihrer Mitte, ihrem Herzen liegt – ein toter Mensch. Es ist – das ist jetzt ein schlimmer, aber notwendiger Spoiler! – die perfekte Uhr, das lang gesuchte perpetuum mobile, das alle Fanatiker des Denkens und Fühlens, seien sie allmächtige Kaiser oder perfekte Uhrmacher oder im Übermaß Liebende und Trauernde, verbindet, quer über alle Zeiten und Schichten. Perpetuum Mobile, die immerwährende Bewegung, der Sieg über den Tod: Die Natur hat es längst erfunden. Und alle Sonnenkaiser dieser Welt, die die längsten und blutigsten Schatten der Geschichte werfen, sie alle können nicht die reale Sonne ersetzen, die auf- und untergeht, Tag für Tag, solange sie noch diese Welt unter dem Schutzschirm einer gnädigen Atmosphäre bescheint und hinter Felsennadeln Schatten wirft. Wer sie in Bewegung gesetzt hat? – ach, es ist egal. Setzt auf den leeren Thron, wen ihr wollt! Aber vergesst nicht, dass ihr nur Kunstwerke machen könnt.
Christoph Ransmayr: Cox, oder: Der Lauf der Zeit. Fischer Taschenbuch 2018
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