Dann las ich, eher zufällig noch zwei weitere Weihnachtsgeschichte, wohlgewählte Geschenke von Freunden. Die eine war eine Maigret-Geschichte (Weihnachten bei den Maigrets, 1950), und eigentlich mag ich Maigret auch nicht so gern, er ist aber nicht so schlimm wie Pan Tau. Man soll ihn auch nicht mögen, man mag ja auch Ebenezer Scrooge nicht. Maigret ist auch ein knurriger Einzelgänger und ein mittelalter weißer Mann, obwohl er verheiratet ist. Aber er führt ein allzu alltägliches Leben mit seiner Frau, die ihn gewohnt ist, und man steht Weihnachten durch, wie man es jedes Jahr tut, nämlich allein, und das heißt, aus Gründen, die nur angedeutet werden: kinderlos. Gegenüber jedoch wohnt die Waise, und man weiß eigentlich gar nichts von ihr, aber aufgrund einer seltsamen nächtlichen Erscheinung lernt man, dass die Waise krank ist und so knappgehalten wird, dass sie beinahe ihr einziges Weihnachtsgeschenk, eine Puppe, wieder verliert. Und Madama Maigret, diskret im Hintergrund wie stets, fragt ein wenig zu oft, wie es ihr denn gehe, dem armen Mädchen. Und als sie am Ende, immerhin, für eine Übergangszeit bei den Maigrets einziehen darf und vielleicht ein wenig mehr geliebt wird – macht Maigret deutlich, dass das eben nur ein Übergang sein wird. Nicht für immer. Keine Lebenswende, noch weniger eine Zeitenwende. Aber ein französisches Weihnachtswunder mit Kommissar.
Die zweite geschenkte Weihnachtsgeschichte spielt in Irland und ist demgemäß auch deutlich näher an Dickens; sie ist sogar verdächtig nahe an Dickens, aber das fiel mir erst mit etwas Abstand auf (Wikipedia weiß es aber auch schon; die Autorin ist Claire Keegan, der Titel Kleine Dinge wie diese, 2021). Die Hauptfigur mit dem ebenfalls ziemlich charaktervollen Namen Bill Furlong ist ein Kohlenhändler in einer irischen Kleinstadt, der es zu sehr prekärem Wohlstand gebracht hat und fünf Töchter versorgen muss. Und wie er durch die vorweihnachtliche Nacht läuft und seine Kohlen ausliefert (man sieht ihn ein wenig als eine Art verrußten Kermit, mit fünf kleinen Schweinchen mit Zöpfchen zuhause), kommt er ins Nachdenken über die Routine seines täglichen Lebens, ihren Segen und ihren Fluch – Small Things Like These heißt das Buch, und die Formel taucht genau in diesen beiden Formen auf: als Fluch und als Segen. Seine weihnachtliche Erscheinung hat Furlong, als er das lokale Kloster besucht und zufällig über den dort offensichtlich systematisch betriebenen Kindesmissbrauch stolpert – minderjährige, häufig: gefallene Mädchen, die ausgebeutet und misshandelt werden. Und er weiß, dass er seinen eigenen, prekären Wohlstand ebenso wie die Zukunftschancen seiner eigenen Töchter riskiert, wenn er das eine Mädchen rettet, das ihm eher zufällig in die Arme gefallen ist; aber er weiß auch, dass er nicht einfach so weiterleben kann, als sei nichts passiert. Und so rettet er, wie Maigret, das eine Kind für alle Kinder, wenn auch, wahrscheinlich, nur für eine Übergangszeit; es kann eine Lebenswende sein, es kann eine Katastrophe werden, das lässt das Buch offen.
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