In literarischen Texten wird entschieden zu wenig geboren! Das war schon immer eine meiner literaturwissenschaftlichen Lieblingsthesen und vielleicht vor geraumer Zeit sogar ein Anstoß dazu, sich mit so etwas wie „weiblichem Schreiben“ zu beschäftigen. Die These stimmt auch im Großen und Ganzen und vor allem im Blick darauf, welch grundlegende menschliche Erfahrung es ist, Kinder zur Welt zu bringen – und wenn man ständig behauptet, dass Literatur die grundlegenden Erfahrungen des menschlichen Seins auf eine besondere Art zur Sprache bringen kann (was Literaturwissenschaftler jeden Geschlechtes gern tun), sollte eben in literarischen Texten mehr geboren werden.
Aber vielleicht, so murmelte meine auf Geschlechtergerechtigkeit (auch für Männer!) bedachte innere Stimme, vielleicht kann man es männlichen Autoren gar nicht so arg vorwerfen, dass sie solche Szenen so gut wie niemals schildern. Es wäre, auch wenn man die neueren Vorbehalte gegen vermeintliche kulturelle „Aneignung“ sehr energisch nicht teilt (alle Kultur ist Aneignung, es ist geradezu ein Definitionsmerkmal), doch eine Grenzüberschreitung. Umso verblüffter war ich, als ich neulich in einem Text, den ich noch nicht einmal wirklich mag, obwohl er von einem meiner männlichen Lieblingsautoren ist – als ich also im länglichen Versepos Oberon von Christoph Martin Wieland aus dem Jahre 1780 eine Geburtsszene entdeckte! Sie findet sich im achten Gesang, die werdende Mutter heißt Amanda. Sie lebt mit einem Eremiten namens Alfonso und dem nicht-angetrauten werdenden Vater namens Hüon, einem christlichen Ritter, in einer Art Wohngemeinschaft fernab der Welt, und beide haben sich nach ihrem zweimaligen Fehltritt Keuschheit geschworen. Ihre Schwangerschaft versucht sie schamhaft zu verbergen, eine Hebamme ist weit und breit nicht in Sicht, und wir können davon ausgehen, dass keinerlei Wissen über den Geburtsvorgang vorauszusetzen ist. Die arme Amanda ist also ganz allein, um nicht zu sagen: mutterseelenallein – und wir belauschen, was der Sänger uns nun berichtet (in Stanzen, wenn es denn literaturwissenschaftlich hergehen soll):
Die Stunde kam. Von dumpfer Bangigkeit
Umher getrieben, irrt Amanda im Gebüsche,
Das um die Hütten her ein liebliches Gemische
Von Wohlgeruch zum Morgenopfer streut.
Sie irret fort, so wie der schmale Pfad sich windet,
Bis sie sich unvermerkt vor einer Grotte findet,
Die ein Geweb von Efeu leicht umkränzt,
Auf dessen dunkelm Schmelz die Morgensonne glänzt.
Alfonso hatte oft vordem hinein zu gehen
Versucht, und allemal vergebens; eben dies
War seinem alten Freund, war Hüon selbst geschehen,
So oft er, um des Wunders sich gewiß
Zu machen, es versucht. Sie hatten nichts gesehen:
Sie fühlten nur ein seltsam Widerstehen,
Als schöbe sich ein unsichtbares Tor,
Indem sie mit Gewalt eindringen wollten, vor.
Das ist eine bemerkenswerte Idee von Wieland. Denn das Kind muss irgendwo zu Welt kommen, soviel ist klar. Und wie passend stellt sich das Bild eines von der Welt abgetrennten, geschützten, dunklen und vage uterusartigen Geburtsortes ein: eine Grotte, umkränzt von Efeu, der symbolischen Pflanze der ehelichen Treue, in „dunklem Schmelz“ – einer durchaus mehrdeutigen Synästhesie. Und die Männer, Alfonso wie Hüon, befällt an dieser Schwelle eine unerklärliche Scheu; beide sind erprobte Recken, die sich sonst vor nichts fürchten und mit Leoparden wie mit Sarazenen kämpfen, aber hier bekommen sie – Schwellenangst. Ein unerklärliches Gefühl hindert sie am Fortgehen. Die Literaturwissenschaftlerin in mir denkt spontan an Faust, den sie auch nicht besonders mag (die Gestalt, nicht den Text), wo es aber immerhin fast eine Art Geburtsszene samt Uterus gibt. Als der Titelheld nämlich in einer unlösbaren Krise ist, schickt ihn Mephisto „zu den Müttern“ in die Tiefe.
Ein glühnder Dreifuß tut dir endlich kund,
Du seist im tiefsten, allertiefsten Grund.
Bei seinem Schein wirst du die Mütter sehn,
Die einen sitzen, andre stehn und gehn,
Wie’s eben kommt. Gestaltung, Umgestaltung,
Des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung.
Umschwebt von Bildern aller Kreatur;
Sie sehn dich nicht, denn Schemen sehn sie nur.
Faust ängstelt zwar auch zunächst, ganz ähnlich wie Hüon und Alfonso, wagt es dann aber doch, zu den Müttern hinabzusteigen. Er hat auch Erfolg mit seiner Mission; aber davon zu sprechen ist auch hinterher unmöglich, es war eine Grenzüberschreitung in jeder Hinsicht. Es gibt Orte, die sind jenseits der männlichen Sprache; und auch Mephisto spricht davon nur in den allerallgemeinsten Begriffen, die jedoch, in ihrem sanften wellenförmigen Versmaß, etwas Magisch-Beschwörendes haben, etwas geradezu sanft Wehenartiges: „Gestaltung, Umgestaltung / des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung“ – man kann das vor sich hin flüstern, es hat einen eigenen Rhythmus, und man sieht die Schemen dabei schweben, kleine Embryonen? Aber zurück vom Exkurs hin zu unserer werdenden Mutter! Amanda also steht noch vor der Schwelle und zögert:
Man weiß nicht, ob Amanda selbst es schon
Zuvor versucht; genug, sie konnte dem Gedanken,
Die erste, der’s geglückt, zu sein,
Nicht widerstehn; sie schob die Efeuranken
Mit leichter Hand hinweg, und – ging hinein.
Kein Widerstand, nirgends. Diese Tür war nur für Amanda bestimmt (oder für jede andere hochschwangere Frau), und sie geht hinein, einfach so, sie muss nur über einen kleinen Gedankenstrich hinwegstreichen, „mit leichter Hand“. Und damit beginnt auch schon der eigentliche Geburtsvorgang, aber zuvor noch eine kleine biographische Notiz, einfach, weil sich die Frage aufdrängt: Ja, Wieland war Vater. Von vierzehn Kindern (also, ehelichen, davor war ein uneheliches). 1768 kam das erste, 1789 das letzte; beim ersten war seine Ehegattin Anna Dorothea 22 Jahre alt, beim letzten 43. „Ihr, die ihr gut gebärt in saubren Wochenbetten (Brecht, Ballade von der Kindsmörderin Marie Farrar, 1922) – ihr Mütter und Nicht-Mütter heute, könnt ihr euch das überhaupt nur vorstellen? Vierzehn Kinder? Aber wie auch immer: Wir können wahrscheinlich davon ausgehen, dass Wieland der Ablauf einer Geburt einigermaßen bekannt war, auch wenn er sicherlich nicht dabei war. Und damit zurück zu Amanda, die soeben in die Geburtsgrotte eingetreten ist:
Kaum sah sie sich darin, so kam ein heimlich Zittern
Sie an; sie sank auf einen weichen Sitz
Von Rosen und von Moos. Itzt fühlt sie, Blitz auf Blitz,
Ein schneidend Weh Gebein und Mark erschüttern.
Es ging vorbei. Ein angenehm Ermatten
Erfolgte drauf. Es ward wie Mondesschein
Vor ihrem Blick, der stets in tiefre Schatten
Sich taucht, und, sanft sich selbst verlierend, schlief sie ein.
Itzt dämmern liebliche verworrene Gestalten
In ihrem Innern auf, die bald vorüber fliehn,
Bald wunderbar sich in einander falten.
Ihr däucht, sie seh drei Engel vor ihr knien,
Und ihr verborgene Mysterien verwalten,
Und eine Frau, gehüllt in rosenfarbnes Licht,
Steh neben ihr, so oft der Atem ihr gebricht
Ein Büschel Rosen ihr zum Munde hin zu halten.
Kaum also hat sich Amanda niedergelegt, beginnen die Wehen einsetzen: „Blitz auf Blitz“ erschüttert ein „schneidend Weh Gebein und Mark“. Das ist nicht besonders originell, aber – nun ja, die knappe Beschreibung trifft es gar nicht so schlecht, das Einschneidende des Schmerzens, seine schlagartige Ausbreitung, und dann den wellenartigen Abklang: „Es ging vorbei“. Anschließend setzt offenbar eine glückselige Vollnarkose ein, gönnen wir sie Amanda. Auch der daraus resultierende Dämmerschlaf zeichnet nicht ungeschickt die Schemen, Gestaltung, Umgestaltung, die vorbeischweben, wenn sich die Betäubung langsam wieder hebt. Denn Amanda, und das ist jetzt wirklich schön gemacht, wird noch einmal kurz wach, sie hat eine letzte sanfte Wehe, die in den Versen an- und wieder abklingt:
Zum letzten Mal beklemmt ihr höher schlagend Herz
Ein kurzer sanft gedämpfter Schmerz;
Die Bilder schwinden weg, und sie verliert sich wieder.
Doch damit ist es auch schon vorbei, sie erwacht erneut und sieht sich – zu ihrer Überraschung als Mutter (wir erinnern uns: sie weiß nichts darüber, wie die Kinder auf die Welt kommen):
Doch, einen Pulsschlag noch, und wie unnennbar groß
Ist ihr Erstaunen, ihr Entzücken!
Kaum glaubt sie dem Gefühl, kaum traut sie ihren Blicken
Sie fühlt sich ihrer Bürde los,
Und zappelnd liegt auf ihrem sanften Schoß
Der schönste Knabe, frisch wie eine Morgenros
Und wie die Liebe schön! Mit wonnevollem Beben
Fühlt sie ihr Herz sich ihm entgegen heben.
Den Rest lassen wir aus, die Szene wird im Folgenden arg sentimentalisch und noch ein wenig metaphysisch überlagert als eine Art Wiederholung der Christus-Geburt, das ist das Übliche, männliche Symbolpolitik eben. Aber immerhin durfte Amanda eine kurze Zeit lang ganz bei sich sein, und bei ihrem Kind, und fernab der männlichen Welt. Ob sich die Grotte danach wieder schließt und verschwindet; oder ob der Efeu sie überwuchert mit dunklem Schmelz; oder ob sie da bleibt, als ein verstecktes Monument der Mutterschaft, ein verschlossener Schrein des Unsagbaren, ein Heiligtum der ursprünglichsten aller Bindungen – wir wissen es nicht. Sie gehört allein den Müttern (das ist ungerecht, aber so ist die Natur; seien wir einfach froh, dass sie uns nicht alle zu Männern gemacht hat!).
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