Ein Gastbeitrag von Kiara Francke
Wir alle haben unseren Müttern einiges zu verdanken – sei es das bloße Am-Leben-Sein. Was die Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux mit ihrer Mutter verbindet, ist jedoch weitaus mehr. Eine Frau (1986) setzt der Mutter ein Denkmal. Nach ihrem Tod möchte Ernaux nicht stumm, sondern schreibend Abschied nehmen. „Jetzt habe ich das Gefühl, als schriebe ich über meine Mutter, um sie dadurch zur Welt zu bringen“ verkündet sie, und da steht sie also: Die Programmatik ihres Werkes. Wort für Wort erweckt sie die Mutter zum Leben, schöpft aus der eigenen Erinnerung und verwandelt sie in eine Lebendige. Sich selbst verortet sie als radikalen Bruch innerhalb der Familiengeschichte. „Dieses Wissen, über Jahrhunderte von Müttern an ihre Töchter weitergegeben, endet mit mir, ich bin nur noch seine Archivarin.“ Und dieser Rolle wird Ernaux mit all ihrer Sorgfältigkeit gerecht. Das Vergangene, das familiäre Erbe will sie keinesfalls verloren wissen.
Grob, zärtlich vereint.
Behutsam schreibt sich Ernaux in eine neue Realität. Eine Realität ohne Mutter, die einzige Frau, die ihr etwas bedeutet hat. Gewohnt autobiografisch, nimmt sie die Leser*innen mit auf Spurensuche und legt ihren Schreibprozess derweil schonungslos offen. Wie erzählen, von dieser Frau, die so vieles war, so vieles sein wollte? Wie berichten, ohne das eine über dem anderen zu vergessen? Ohne den Wandel, ohne all die Hoffnungen, die Sehnsüchte und Realitäten miteinander zu vermischen? Ernaux will vereinen, alle Seiten der Mutter, mögen sie noch so widersprüchlich sein. Fragmente der Erinnerung sollen ein stimmiges Bild ergeben. Die gute und die schlechte Mutter, die strahlende und die demente Frau, die Grobe und die Zärtliche, die stolze Arbeiterin und die verzweifelt um Bildung Bemühte.
Doch nicht nur die Eigenschaften der Mutter sind widersprüchlich: Auch ihr Verhältnis zueinander ist zwiespältig. Liebe und Scham wechseln im Seitentakt. Klar ist, ihre Bildung und akademische Laufbahn hat Ernaux ihrer Mutter zu verdanken. Weshalb sich Eine Frau gewissermaßen als Dankesrede lesen lässt. Berührend wird der Mutter Anerkennung gezollt, während sich auf subtile Weise immer wieder eine tiefsitzende Scham darüber legt. Ein Unwohlsein, das die eigene Herkunft betrifft, das einfache Leben. Fabrikarbeit. Leben auf dem Land. Sonntags: Messe. Schule? Weniger wichtig. Wirklich was wert, ist einzig die unermüdliche Arbeitskraft.
Aufstieg als Kluft
Wie eine Kluft gräbt sich Ernauxs sozialer Aufstieg zwischen sie und die Mutter. Was Letztere sich ein Leben lang wünschte, ist der Tochter nun geglückt. Auch dafür scheint sich Ernaux zu schämen. Für die Ungerechtigkeit. Für die unerfüllten Träume der Arbeiter*innen, die in ihr nun Verwirklichung finden. Ihr Milieuwechsel als französische Intellektuelle kreiert in der Mutter-Tochter-Beziehung eine unüberwindbare Distanz. Wie sehr diese Verfremdung schmerzt, wird spätestens deutlich, als die Mutter in ihrem Gesicht plötzlich den Klassenfeind entdeckt. Beiläufig bespielt sie ihre Erinnerungen mit Zitaten, an die sie sich erinnert. Detailtreue und Authentizität dienen der Geschichte als solides Fundament.
Großartig ist jedoch nicht nur das feinfühlige Portrait ihrer Mutter, sondern das darüber liegende Gesellschaftliche. Unaufgeregt webt die Literaturnobelpreisträgerin ihre persönliche Geschichte in die kollektive Zeit. Sanft tastet sie sich vom Allgemeinen ins Individuelle, pointiert ihre ausschweifenden Beobachtungen gekonnt im biografischen Detail. Charakter und Lebensgeschichte werden nicht einfach geschildert, um dieser einen Frau ihre letzte Ehre zu erweisen, nein – es ist die Suche nach einer größeren Wahrheit. Dem Einordnen in gesellschaftliche Konstrukte, in eine soziale Ordnung. Im Kleinen hangelt sie sich über die großen Ereignisse dieser Zeit hinweg: Die schwarzen Jahre, Wirtschaftskrise, Streik, Krieg, und das Danach. Dabei ist die Mutter nicht einfach Mutter. Sie ist Repräsentantin, sie ist Arbeiterin, sie ist eine Zeugin. Dass Ernaux auf den letzten Seiten bemerkt: „Sie starb acht Tage vor Simone de Beauvoir“ zeigt ihr Verlangen nach Frieden. In einer größtmöglichen Ehrung erhebt sie die Mutter auf Höhe der bekanntesten Intellektuellen Frankreichs. Einer feministischen Ikone. Annie Ernaux erzählt von ihrer Mutter, einer Frau, die niemals sein konnte, wer sie gerne gewesen wäre. Erst im Tod und im Schreiben löst sich dieser Kampf auf.
Comments: no replies