Zum Kosmopolitismus – der Idee eines Weltbürgertums – haben sich seit der Antike eigentlich nur Männer geäußert. Bekannt sind die Ideen von Cicero, Immanuel Kant, Adam Smith, Hugo Grotius oder John Rawls. Wie erfrischend, dass sich nun endlich eine Frau zu Wort meldet: Martha Nussbaum, eine der führenden Philosophinnen der Gegenwart.
Kürzlich erschien in deutscher Übersetzung ihr Werk „Kosmopolitismus. Revision eines Ideals“ (2020). Martha Nussbaum konzentriert sich auf die Philosophie der Antike, um hiervon die ‚Revision‘ für das Hier und Jetzt abzuleiten. Sie möchte auf der Grundlage stoischer Ideen einen gemäßigten Kosmopolitismus für unsere heutige Welt ableiten, ohne die Emotionslosigkeit der Stoiker zu übernehmen. Martha Nussbaum schloss ihre Arbeit an dem Werk noch vor der Coronakrise ab, so dass sie leider nicht anhand der Pandemie das Konzept eines Weltbürgertums durchspielt (dazu später mehr).
Einen großen Raum nehmen dabei ihre Gedanken um die Migrationspolitik ein, die immer wieder heiß und kontrovers in unserer Gegenwart diskutiert wird. Martha Nussbaum plädiert dafür, in einem ersten Schritt die Gründe für Abneigungen gegenüber bestimmten Gruppen und für Diskriminierungen jedweder Art zu analysieren, um anschließend nach Lösungen zu suchen.
Wenn wir Gesellschaften aufbauen wollen, die auf eine realistische Weise nach globaler Gerechtigkeit und universeller Achtung streben, benötigen wir ein realistisches Verständnis der menschlichen Schwächen und Grenzen, der Kräfte des menschlichen Lebens, die es so schwierig machen, Gerechtigkeit zu erreichen. Dazu müssen wir Angst, Ekel, Wut und Neid verstehen. Wir brauchen Erklärungen für die Cliquenbildung und Unterordnung von Gruppen, für Frauenfeindlichkeit und Rassismus sowie die vielfältigen anderen Formen von Stigmatisierung und Vorurteilen. Und wir müssen nach der Möglichkeit verstehen, wie sich bösartige Kräfte entwickeln, indem wir untersuchen, welche Beiträge die Forschungen zur Evolution des Menschen, zur Entwicklung der Kultur insgesamt leisten – die allesamt auf komplizierte Weise interagieren.
Martha Nussbaum geht davon aus, dass der Mensch kaum imstande ist, gerecht und ohne Vorurteile seinen Mitmenschen zu begegnen bzw. sein eigenes Umfeld gerne bevorzugt. Darin knüpft sie an Cicero an, der glaubte, dass das Gefühl der Verbundenheit und damit die Bereitschaft zur finanziellen Unterstützung durch das Band der Nation und der Sprache, denselben Staat, Verwandtschaft (auch entfernte), Hausgemeinschaft (Lebenspartner), Freundschaft und gemeinsame politische Institutionen oder politische Gesinnungen begünstigt werde. Übertragen auf die Migrationspolitik spricht sich Martha Nussbaum für eine Obergrenze aus. Dabei weist sie jedoch darauf hin, dass es eine enorm schwierige moralische Frage sei, bei welcher Zahl ein Staat die Migration begrenzen sollte. Wenn man diese Aussage einem politischen Spektrum zuordnen möchte, so wird hier eine stark konservative Haltung offensichtlich. Dieser konservativen Haltung steht jedoch der eher linksliberale Ansatz gegenüber, indem sie für gleiche Chancen für alle Weltbewohner*innen wirbt. Diese gleichen Chancen will sie sie anhand eines ‚Fähigkeitenansatzes‘ zur Gerechtigkeit messbar machen.
Die wirklich wichtigen Fähigkeiten für eine faire Gesellschaft sind also diejenigen, die ich ‚kombinierte Fähigkeiten‘ nenne: interne Fähigkeiten verbunden mit äußeren Bedingungen, die es möglich machen, sich für sie zu entscheiden.
Demnach sollen für alle Menschen, egal wo sie leben, idealerweise folgende Bedingungen gegeben sein: eine normale Lebenslänge, körperliche Gesundheit, körperliche Integrität die Möglichkeit Sinne, Fantasie und Denken angemessen einsetzen können, Emotionen ausleben zu dürfen, im Sinne der praktischen Vernunft das Leben kritisch hinterfragen zu können, Zugehörigkeit zu verspüren, sorgsam mit Tieren und Pflanzen umzugehen, Raum für Spielen und Freizeit zu haben sowie Kontrolle über die eigene Umwelt.
Nach Nussbaum kann man auf Nationalstaaten nicht zugunsten eines Weltbürgerstaates verzichten, weil man über die Nationalstaaten die politische Teilhabe, den demokratischen Prozess organisiert. Dennoch: Sie sieht alle Menschen in der Verantwortung, nicht nur Menschen im eigenen Umfeld Hilfe zu leisten, sondern auch jenen, die außerhalb des eigenen Netzwerkes leben. Damit widerspricht sie Cicero, der Hilfen nur auf das eigene Umfeld oder Netzwerk beschränkte. Laut Cicero sind „die Ressourcen der Einzelnen (…) begrenzt und die Bedürftigen sind eine grenzenlose Menge.“ (infinita multitudo) Diesem Credo hält Martha Nussbaum entgegen:
Wenn wir gegenwärtig über internationale Netzwerke nachdenken, stoßen wir allerdings auf Gründe, warum wir Ciceros Argument in Zweifel ziehen sollten. Warum sollte es so sein, dass nur diejenigen, die es bereits geschafft haben, einem internationalen Netzwerk anzugehören, Pflichten der materiellen Hilfe für Menschen in anderen Ländern haben? Unwissenheit und Vernachlässigung rechtfertigen, so scheint es, sich selbst. Wenn ich, wie allzu viele Amerikaner, mein Leben so führe, dass ich nur minimale Kenntnisse über und Kontakte zu irgendeinem anderen Teil der Welt habe: befreit mich das dann von allen Verpflichtungen gegenüber dieser Welt? Das kann nicht richtig sein.
In diesem Kontext könnte man bei Martha Nussbaum kritisch nachfragen, ob es in der globalisierten Welt einen Kosmopolitismus der Elite gibt. Bilden jene eine Gemeinschaft, die gut ausgebildet und international agil im Bereich Wirtschaft, Wissenschaft und Politik zusammenarbeiten? Ist Kosmopolitismus elitär?
Wie schade, dass dieses Buch bereits vor der Coronakrise fertiggestellt wurde. Wie gut könnte man Kosmopolitismus, Solidarität und die Verpflichtung zur gegenseitigen Hilfeleistung anhand der aktuellen Lage diskutieren. Während wir einerseits während der Pandemie eine globale Solidarität spüren, kommt es jedoch andererseits zu einer Rückbesinnung auf die Nationalstaaten. Diese Dialektik zeigt sich im Wetteifern der einzelnen Staaten um die niedrigste Sterbequote, die geringste Auslastung der Krankenhäuser und die beste Impfstrategie in einem nahezu täglichen Ranking und tatsächlich geleisteter solidarischer Hilfen wie beispielsweise dem Einsatz der Bundeswehr in Portugal. Bezogen auf die Hilfeleitungen könnte man sich fragen: Sollte sich jedes Land abschotten und Impfstoffe für seine eigenen Einwohner bestellen – ganz nach dem Motto: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst? Die Europäische Union verfolgte eine gemeinsame Impfstrategie. Doch dieser Schritt wurde kontrovers diskutiert, nicht zuletzt, weil nun sehr wenig Impfstoff zur Verfügung steht. Mit Neid schauen viele zu jenen Ländern, die schon mehr Menschen geimpft haben. Dabei übersehen sie gerne, dass es insgesamt hauptsächlich die reichen Länder sind, die ausreichend Impfstoffe und Impfstrategien haben. Sollte der vorhandene Impfstoff weltweit aufgeteilt werden? Aber wer zahlt ihn dann? Ist das Besinnen auf die Nationalstaaten, auf die eigenen Staatsbürger*innen in einer Notsituation sinnvoll oder nicht? Es wäre interessant zu erfahren, wie Martha Nussbaum diesen Konflikt analysiert. Zumindest wäre sie voraussichtlich auch zu dem Schluss gekommen, dass Kosmopolitismus bislang ein Ideal geblieben ist.
Martha Nussbaum: Kosmopolitismus. Revision eines Ideals. Aus dem Englischen von Manfred Weltecke. wbg Theiss. Darmstadt 2020. Gebundene Ausgabe. 30 €
Weitere Informationen zu Martha Nussbaum
… gibt es hier.
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