Zu Donna Leons neuem Brunetti-Krimi Geheime Quellen
Natürlich erwartet man nichts Neues, wenn man einen Krimi von Donna Leon zur Hand nimmt. Milde wundert man sich vielleicht, dass die alte Dame immer noch schreibt; dass es noch ein venezianisches Verbrechen gibt, das ihr so sanfter, so gern die Klassiker lesende Commissario Brunetti noch nicht aufgedeckt (aber bemerkenswert selten seiner vollständigen juristischen Aufarbeitung zugeführt) hat. Wir kennen die Palazzi, Calle und Brücken auch entlegener Stadtteile, die Cafés mit ihren Tramezzini, die Wohnung der weiter bemerkenswert harmonisch alternden Familie Brunetti mit ihren bemerkenswert wohlgeratenen Kindern – und ach, wie entspannend, wie moralisch aufbauend ist das alles, man trifft sich wie mit guten alten Bekannten auf einen erfrischenden Weißwein auf der Dachterrasse, und eigentlich wollte man sowieso schon lange mal wieder nach Venedig, wegen Corona und trotz Corona – aber auf einmal kippt die Stimmung beim Lesen, es wird schwül, immer schwüler, pestartige Gerüche wabern durch die ausgetrockneten Kanäle unter der Sommerglut, und sind es wirklich schon wieder mehr Touristen geworden, ja, ist das denn überhaupt noch möglich?
Denn in Donna Leons 29tem Brunetti-Krimi ist zwar alles auf den ersten Blick wie gewohnt, vertraut bis in die Blumenarrangements von Signorina Elettra und das gockelhafte Gehabe von Patta, aber es ist in ein schwüles Licht getaucht. Die bekannten Gestalten bewegen sich wie in einem Kammerspiel nur auf Zehenspitzen umeinander, eine monströs adipöse Ärztin hilft in einem fast menschlich anmutenden Hospiz einer noch gar nicht alten Mutter in den letzten Tagen ihres schonungslos beschriebenen Krebstodes, während Quecksilber durch die austrocknenden Adern von Venedig läuft und Brunetti das Bild einer japanischen Pietà nicht aus dem Kopf bekommt, das Kind bizarr vom Gift verkrampft auf ihrem Schoß. Jedes Gespräch wird, ob man will oder nicht, ein Verhör, jedes sticht in eine neue Wunde, und mit großer, nein: mit minimalistischer Kunstfertigkeit (hat Donna Leon vielleicht mit Paola zu viel Henry James gelesen?) zeigt die alte Dame, was alles hinter, unter und neben den Wörtern geschieht, wenn es um das Sterben und die Wahrheit geht. Ach was, die Wörter sind fast das Unwichtigste dabei. Was in den Pausen geschieht, zwischen den Wörtern, den Sätzen; was zwischen den Blicken geschieht, bei den sparsamsten und doch so sprechenden Bewegungen einer Sterbenden; und was in den Köpfen geschieht bei all dem, vielleicht sollte man besser sagen, auch wenn man nicht gläubig ist: in den Seelen. Man weiß nach den ersten Seiten, warum sich diverse amazon-Rezensenten über die Handlungsarmut und das etwas Lähmende der Lektüre beklagt haben, und man weiß wenige Seiten später, dass es darum auch nicht geht. Es geht um Beziehungen, im allerweitesten Sinne (und, zum Glück, beinahe überhaupt nicht um die erotische Liebe, diese engste und begrenzteste aller Beziehungen, auch wenn Brunetti zwischendurch die schönsten aller ironischen Liebeserklärungen macht). Um Beziehungen zwischen Lebenden und Sterbenden, Ärzten und Patienten, Vorgesetzten und Angestellten; es geht außerordentlich viel um Beziehungen zwischen Kollegen, ja, man könnte sogar behaupten, dass Brunettis Beziehungen zu seinen besten, langjährigen Kollegen – vom volksweisen Bootsführer Foa über die empathische Claudia Griffoni, den unauffälligen und doch so aufmerkenden Vianello bis hin zu Signorina Elettra, dem heimlichen und immer ein wenig hermetischen Herzen des ganzen Kreises – sowieso Liebesbeziehungen sind: Sie kennen sich alle von innen, und reden müssen sie sowieso nicht mehr, um sich zu verstehen.
Die alten wie die neuen Katastrophen von Venedig ziehen sich über diesen Köpfen zusammen, es sind immer die gleichen seit den Zeiten der Alten, die Brunetti unermüdlich liest: Gier, Korruption, Verrat, schiere Dummheit, Hybris. Aber es muss ja nicht immer eine Tragödie sein; man kann auch ein Kammerspiel daraus machen, mit einzeln eingestreuten funkelnd absurden Szenen (am Ende war es ein Kühlschrank). Niemals löst sich die Schwüle auf in einen erlösenden Sommerregen, kein deus ex machina steigt herab (am Ende war es ein Kühlschrank). Außer natürlich in Signorina Elettra Büro, wo die Blumen sich in erfrischender Kühle entfalten und die Bluse am Abend immer noch die gleichen Bügelfalten hat wie am Morgen, während Brunettis Hemd mal wieder zu Schweiß zerflossen ist, und wir alle hoffen, dass die Tür zu Pattas Büro noch ein wenig länger geschlossen bleibt, damit die Kühle nicht entweicht. Und zum Glück ist Elettra nicht Aphrodite in diesem absurd angehauchten Kammerspiel vor griechischer Kulisse, oh nein! Für Männer hat sie sich schon lange nicht mehr schön gemacht, sie sehen es sowieso nicht, noch nicht einmal Brunetti, der aber immerhin jeden Morgen aufs Neue sanft erstaunen kann. Sie ist auch nicht Athene, die Allzu-Kluge, sie trägt keine Helme und verachtet die Dummheit zwar, aber eher nebenbei. Vielleicht ist sie ja – Artemis, die jungfräuliche Göttin, immer auf der Jagd, und unfehlbar ist die digitale Verfolgungskunst, mit der sie ihre Netze wirft? Und wer jetzt mit der trivialen Formel vorprescht, zusammen seien sie eben alle ein „unschlagbares Team“ – hat leider nichts von Schicksalsmächten verstanden. Und auch nichts von Venedig, einem absurden Traum, gebaut auf einem Sumpf und in der letzten Phase seines sehr öffentlichen Dahinschwindens. Der Rest ist Schweigen.
Donna Brunetti: Geheime Quellen (Trace Elements). Brunettis neunundzwanzigster Fall. Übersetzt von Werner Schmitz. Diogenes Verlag 2020.
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