4. Wüstenblumen und Vampire
Am deutlichsten (und das heißt, wie wir nach der siebenfachen Lektüre der Judenbuche wissen: am rätselhaftesten) sieht man Annette von Droste-Hülshoff jedoch in einer ihrer bekannteren Balladen, dem Fräulein von Rodenschild. Schon die Stoffgeschichte ist verwirrend und bezeichnend genug: Die Spukgeschichte taucht in westfälischen Sagen auf (aber situiert an einem anderen Ort), ihre wirkungskräftige Form erhält sie jedoch von der Droste so gründlich, dass spätere westfälische Sagensammlungen eigentlich mehr Droste zitieren als die ursprüngliche Geschichte (so macht man nämlich Literatur: Nicht, indem man vermeintlich Ungesehen-Unerhörtes-Originelles sich ausdenkt, sondern indem man gegebenes Material so formt, dass es wirklicher als die Wirklichkeit wird und sich darüber legt). Und natürlich legt sich beim Lesen sofort das Bild der Droste selbst über das des Fräuleins von Rodenschild, wie es nächtlich so dasteht und hinabschaut in den Schlosshof. „Jungfräulich siedend“ ist ihr Blut, sie löst das Mieder und die Locken, und wir halten den Atem an, jetzt, jetzt endlich wird die Droste doch sinnlich, wir haben es gewusst, von wegen Wüstenblume! – aber es ist die heilige Osternacht, das Personal hat sich im Schlosshof versammelt, die graue Zofe hält dort unten noch Ordnung, und gleich wird die Erscheinung des auferstandenen Christus erwartet, die man mit Glockengeläut und Gesang begrüßen wird, wie es der Brauch ist in Westfalen und anderswo, wo man eine Heimat auf dem Lande haben kann. Da erscheint, unerwartet, schaurig, höchst erschreckend, die exakte Doppelgängerin des Fräuleins. Ihre Haare sind gelöst wie das Mieder, mit den gleichen Bewegungen gleitet sie durch den Hof, betritt das Schloss, steigt die Treppen empor, durchstreift den Festsaal, und alles hält den Atem an – doch nun steht sie vor der Archivtür (welches Archiv, springt einem sogleich der Gedanke in den Kopf, sind wir nun doch in einem kafkaesken Schloss gelandet, wo uns ein Archiv nicht verwundern würde, im Gegenteil?), und dieser Sachverhalt versetzt das Original-Fräulein nun in die energischste Bewegung: „Und wie ein Aal die beherzte Maid / Durch Nacht und Krümmen schlüpft ihre Bahn, / Hier droht ein Stoß, dort häkelt das Kleid“. Ungewiss, ob man angesichts der Aaligkeit und der Häkeligkeit des Unternehmens nicht doch besser lachen sollte als schauern, folgen wir dem Fräulein. Und finden uns an der Pforte zum Archiv, atemlos, einen Spalt ist sie geöffnet, ganz wenig nur, und die eine Hand greift nach dem Türgriff von der Außenseite, und die andere nähert sich ganz genau spiegelbildlich von der Innenseite, aber das kann man in dürrer Prosa nicht beschreiben:
Sie fährt zurück, – das Gebilde auch –
Dann tritt sie näher – so die Gestalt –
Nun stehen die beiden, Auge in Aug,
Und bohren sich an mit Vampyres Gewalt.
Das gleiche Häubchen decket die Locken,
Das gleiche Linnen, wie Schnees Flocken,
Gleich ordnungslos um die Glieder wallt.
Ordnungslos, nun gut, darauf waren wir vorbereitet, gelöste Locken und gelöste Mieder; aber gleich Vampirblicke? Es kommt jedoch nicht zu einer direkten Berührung. Einen Luftzug nur spürt die eine Hand, während die andere in diesem Moment – dämmert, zerrinnt, entschwindet. Coitus interruptus, ist man geneigt zu sagen, das mag aber eine durch moderne Vampir-Erotik fehlgeleitete Assoziation sein – oder doch vielleicht nicht? Ein blutroter Rubin ist auch noch mit im Spiel, ebenfalls verdoppelt; ein Symbol oder nicht, Wikipedia hilf: in esoterischen Texten gern als der Stein des Lebens und der Liebe bezeichnet, soll er gegen den Teufel und die Pest schützen (vielleicht auch gegen Vampire?) Was jedoch passiert in diesem magischen Moment der Beinahe-Berührung, das ist: gar nichts; das Phantom löst sich auf, und das Gedicht macht einen großen Zeitsprung in eine undefinierte Zukunft:
Und wo im Saale der Reihen fliegt,
Da siehst ein Mädchen du, schön und wild,
– Vor Jahren hat’s eine Weile gesiecht –
Das stets in den Handschuh die Rechte hüllt.
Man sagt, kalt sei sie wie Eises Flimmer,
Doch lustig die Maid, sie hieß ja immer:
»Das tolle Fräulein von Rodenschild.«
Es ist nicht gesund, seinen Doppelgänger zu berühren, Vampir oder nicht. Nicht einmal ein lustiges, schönes, wildes, sogar tolles und mutiges Mädchen wie unser Fräulein von Rodenschild steckt das einfach weg. Was sie hingegen wegsteckt, ist später die verdorrte Hand, nämlich in einen Handschuh; und die Kälte ihrer Hand hat sich offensichtlich über ihre ganze Person ausgesteckt, die nun – die grammatische Beziehung lässt das aufs schönste unklar – ebenso kalt ist wie die verdorrte Rechte. Das ist der Preis, den man bezahlt, wenn man die Locken löst und das Mieder und seiner gespenstischen Doppelgängerin begegnet, die gerade im Begriff ist, das Familienarchiv zu stürmen – wir können nur vermuten: Um die Tradition anzugreifen, Schande über den guten alten Namen zu bringen, ja, die Geschichte ganz zu zerstören, zu infizieren mit flammender Hitze oder eisiger Kälte, und hinterher ist nichts mehr, wie es einmal war, die Familie zerstört, die Heimat entweiht, die Religion geschmäht, so wie es im Gedicht Mein Beruf so drastisch als Gegenwartgemälde geschildert wurde? Die Dichterin hingegen, gerufen von Gottes Gnaden als lebendige Seele zum Schutz der Lebenden wie der Toten, der Mütter und der Kinder, der heiligen ehelichen Liebe und der Begeisterung für die Heimat, springt ein; wenn sie in diesem Moment nicht das Archiv schützen würde, auch um den Preis der erstarrten Hand, wäre alles dahin, für das sie bisher gelebt hat.
Mit den kühlen Handschuhen der Dichtung
Dass sie anschließend nur – aber wer sind wir, um hier „nur“ zu sagen? – eine Wüstenblume ist, farblos und allen Duftes bar; dass sie die Dinge dieser Welt nur noch mit den Handschuhen der Dichtung berührt und nicht mit den heißen Patschhändchen der Leidenschaft; dass sie dabei so lustig sein kann, wie sie will, sogar gelegentlich toll und wild, auf jeden Fall aber: genauso mysteriös wie klarsichtig – das muss für sie eben reichen. Wenn Franz Kafka Felice Bauer geheiratet hätte, wäre er nicht nur ein anderer Mensch, sondern vielleicht auch kein Dichter geworden; oder ein sehr anderer. Der Prozess wäre in einem ordentlichen Gerichtsurteil geendet, die diversen Morde der Judenbuche zur allgemeinen Zufriedenheit aufgeklärt und der Gerechtigkeit allseits Genüge geschehen, die Leser könnten in Frieden schlafen gehen, ob in Westfalen oder in Prag. Kafka und die Droste aber geben uns nicht einmal den Anschein von poetischer Gerechtigkeit, mit der uns die Dichter seit der Antike verwöhnt haben, hier noch ein deus ex machina und dort eine unerwartete Wendung der Ereignisse hin zum fröhlichen happy end. Man fühlt sich eher, als hätte einen ein kühler Handschuh gespenstisch berührt; und ein Autor, eine Autorin drehen sich um und sagen, mit einem tollen Grinsen: „Diese Geschichte war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt – und lasse sie offen in alle Ewigkeit“. Man braucht gute Nerven, um vor solchen Autoren zu bestehen.
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