Natürlich wusste ich vorher nichts von Olga Tokarczuk. Aber als dann der Name da war, und als ich mich entschlossen hatte, mich repräsentativ für ihr umfangreiches und vielfältiges Gesamtwerk auf ihr letztes und umfangreichstes Buch zu stürzen, Die Jakobsbücher; und als ich schließlich mit anfänglicher Verwirrung, zunehmender Begeisterung und schließlich großer Bewunderung die 1.200 Seiten hinter mich gebracht hatte – war ich beeindruckt von der außerordentlichen Weisheit dieser Nobel-Entscheidung. Nicht nur, dass Tokarczuk diesen Preis verdient hat – das hätten sehr viele andere Autorinnen und Autoren auch, und letztlich ist Literatur kein Wettlauf in einem Spitzensport, wo man hinterher sagen kann: Erster, Zweiter, Dritter, sondern ein Volkslauf mit vielen Gewinnern. Nein, Tokarczuk ist auch eine perfekte Ergänzung zu Peter Handke: ein Mann, eine Frau; ein etablierter, gesetzter, altersweiser Autor und eine aufsteigende Autorin auf der Höhe ihrer Schreibkünste; ein Meister des lakonischen Worts, des kurzen Versuchs und eine Meisterin des enzyklopädischen, ausschweifenden, vielstimmigen Erzählens – kann man besser die Vielfalt erzählerischer Möglichkeiten zeigen, die Unmöglichkeit eines einzigen Wertkriteriums, die Spannweite literarischen Schaffens?
Buchwissen und Erzählwissen von der Welt
Olga Tokarczuk wurde, um kurz das nötigste Biographische zu sagen, 1962 in Polen geboren; sie lebte dort an verschiedenen Orten mit ihren Eltern, studierte ab 1985 Psychologie an der Universität Warschau, arbeitete danach als Therapeutin und wurde eine Anhängerin von C.G. Jung. Seit den 90er Jahren erhielt sie zunehmend öffentliche Anerkennung für ihr vielfältiges Werk, die Reihe der Literaturpreise kulminierte mit einer gewissen Logik schließlich im Nobelpreis als Krönung. Für die Jakobsbücher, deren Handlung um die historische Figur des „Messias“ Jakob Frank kreist, recherchierte sie sechs Jahre lang in Archiven und Bibliotheken, las historische und philosophische Quellen, vertiefte sich in jüdische Mystik und die Kulturgeschichte des Ostjudentums. Eine der liebenswürdigsten Figuren ihres Textes, der Dechant Chmielowski (historisch natürlich auch er) schrieb eine Enzyklopädie, die all das zerstreute Buchwissen seiner Zeit zusammenfassen sollte: Neues Athen, oder Academie voll jedweder Szienzia, nach verschiedenen Titeln wie nach Classes untertheilt. Den Klugen zum Gedächtnis, den Idioten zur Belehrung, den Politikern zur Praxis, den Melancholikern zur Zerstreuung eingerichtet. […] Imaginiert doch nur: alles zur Hand, in jeder Bibliothek. Das gesammelte menschliche Wissen in einem. Olga Tokarczuk nannte ihre Jakobsbücher daraufhin: Die Jakobsbücher oder Eine grosse Reise über sieben Grenzen durch fünf Sprachen und drei grosse Religionen, die kleinen nicht mitgerechnet. Eine Reise, erzählt von den Toten und von der Autorin ergänzt nach der Methode der Konjektur, aus mancherlei Büchern geschöpft, und bereichert durch die Imagination, die größte natürliche Gabe des Menschen. Den Klugen zum Gedächtnis, den Landsleuten zur Besinnung, den Laien zur erbaulichen Lehre, den Melancholikern zur Zerstreuung. Man kann diesen barocken Titel nicht wörtlich genug nehmen, in seiner Hybris und in seiner Präzision. Genau das sind die Jakobsbücher: ein enzyklopädisches Werk über das 18. Jahrhundert aus einer ungewohnten räumlichen Perspektive, seine aufklärerischen wie seine antiaufklärerischen Ideen, seine Hauptfiguren und seine Nebenfiguren, basierend auf genauen historischen Recherchen, dem Wissen der Bücher, und der „Konjektur“ der erfahrenen Autorin. Konjektur, das ist eigentlich ein akademisches, textkritisches Verfahren, in dem der Herausgeber Lücken im Originaltext aufgrund besten Wissens, Forschens und Glaubens füllt. Die Romanautorin jedoch tut das gleiche mit den Mitteln der „Imagination“; und das was sie damit erreicht, ist nicht mehr und nicht weniger als das, was die schreibende Frau im Text, Elisabeth Druzbacka (historisch, natürlich), mit einer ganz wunderbaren Formulierung die „Vollkommenheit der unprecisen Formen“ nennt. Erst gemeinsam mit ihrem Gegenpart, dem gebildeten, das Lateinische bevorzugenden und auf die völkerverständigende Kraft des Wissens vertrauende Priester Chmielowski, ist das schreibende Universum umzirkelt, und zur „Vollkommenheit der unpresicen Formen“ gesellt sich die Unvollkommenheit des präzisen Wissens, wie es der Dechant beschreibt: „Die Quellen markire ich skrupulös, ergänze allerorten ein ‚teste‘, was bedeutet: Prüfe nach, werter Leser, dort und dort, nimm das Mutterbuch zur Hand und sieh, wie das Wissen sich verflicht und ineinanderschlingt seit Hunderten von Jahren“.
Archetypen des Weiblichen und Männlichen
Die Handlung des Buches kann man schlechthin nicht nacherzählen; sie ist aber, samt dem umfassenden zeitgeschichtlichen Hintergrund, gut zugänglich im Arbeitsjournal der beiden Übersetzer Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein, die eine kaum genug zu preisende Übertragung ins Deutsche vorgelegt haben (http://www.toledo-programm.de/arbeitsjournale/772/journal-zur-ubersetzung-des-romans-ksiegi-jakubowe-von-olga-tokarczuk-2014). Natürlich sind die Jakobsbücher ein Buch über Religion, über die verführerische Kraft von messianischen Figuren, über das schwierige Verhältnis der Religionen untereinander (die Ringparabel fehlt nicht), über die Erkennbarkeit Gottes und der Welt. Sie sind ganz gewiss ein Buch über Bücher, ihre Kraft und ihre Möglichkeiten wie ihre Grenzen und ihre Zerstörbarkeit. Sie sind, und das ist nicht das kleinste ihrer Verdienste, ein Buch über Frauen – starke Frauen und schwache Frauen, Frauen, die viel zu früh verheiratet werden, Frauen, die im Kindbett sterben, Frauen, die an andere Männer weitergegeben werden wie Waren; aber auch Frauen, die aufs höchste verehrt, als Heilige stilisiert, als Jungfrau angebetet werden: „Die Frau ist das höchste Geheimnis und hier, in der unteren Welt, entspricht der heiligen Tora“. Das ist das Wort des Messias Frank, und daran anschließend gibt es Gruppensex, der Messias hat einen ungeheuren Frauenverbrauch. Aber es gibt auch die schreibende Frau; es gibt die kämpfende Frau, die prophezeiende Frau, die „Mannfrau“ Kossakowska: Sie ist politisch unermüdlich tätig, aber bei ihrem ersten Auftritt im Roman leidet sie unsäglich unter Unterleibsschmerzen, weil sie ihre Tage hat, und die anderen Frauen tauschen Tipps aus, wie man Blutflecken aus den kostbaren Stoffen der Gewänder entfernt. Frauen sind Körper in diesem Text. Während die Männer Kopfgeburten sind, brütend über uralten Schriften und immer unsinnigere Theorien entwerfend, bluten sie, gebären sie, versorgen das Haus und die Gäste – und schreiben Gedichte, in der „Vollkommenheit der unpresicen Formen“.
Über allem aber schwebt Jenta, die uralte Urmutter. Durch das Einverleiben (man muss es so sagen und wörtlich nehmen) eines Amuletts – sie sollte nicht während der Großhochzeit sterben, und man band ihr deshalb einen Papierfetzen mit der Aufschrift „Warte“ um, den sie prompt verschluckte – schwebst sie zwischen den Welten der Lebenden und des Todes. Olga Tokarzczuk hat in einem Interview gesagt, dass sie ohne den rettenden Einfall dieser Figur niemals des Buches mächtig geworden wäre. Jenta hält die Welt zusammen, sie sieht die Vergangenheit wie die Zukunft, sie allein schafft Zusammenhang im Disparaten, erkennt die verborgenen Motive. Am Ende ist ihr Körper ein Kristall geworden, tief in einer Höhle (allein über die Höhlen-Motive könnte man eine Doktorarbeit schreiben, die Höhle ist ein Archetyp der verborgenen, inneren Weiblichkeit): „geronnene Tropfen aus Licht, die aufgehört hätten zu leuchten, so tief in der Erde“. Während das männliche Wissen oben in der Welt seine Triumphe feiert und seine Vergänglichkeit erfährt – Bücherverbrennungen sind ein anderes Motiv –, kristallisiert sich das weibliche Wissen aus. Unterirdisch und jenseits der Worte. Am Ende aber, so Nachman, sind diese Unterschiede unwesentlich: „Denn wir unterscheiden uns nicht wesentlich. Wir alle sind Formen, die das Licht annimmt, sobald es die Materie streift“.
Konjekturen und die Reparatur der Wirklichkeit
Das sagt Nachman, und in ihm wohl am ehesten die Reflexionsfigur der Autorin erkennen. Nachman soll und will die Geschichte Jakobs, des Messias, an den er glaubt und den er liebt, aufschreiben, für die Nachwelt, für die Ewigkeit (und es gehört übrigens zu den wesentlichen genialen Erzähltricks des Buches, das der Messias als Person nur in der Projektion der anderen auftaucht; Jakob selbst, wer er ist, wir wissen es nicht nach 1.200 Seiten). Daneben aber schreibt Nachman die „Reste“, seine eigene, uninteressante Geschichte als Schreiber des Herrn: „Sein Schreiben auf dem Deckel des Kistchens, das er auf den Knien hält, ist Staub und Mühsal der Reisen, ist eigentlich tikkun, die Reparatur der Welt, das Flicken und Stopfen der Löcher im Gewebe, das übervoll ist von Mustern und Linien, Geflechten und Verschlingungen“. Jenta sieht die Muster und kann sie deuten, von oben; Nachman aber kann nur flicken, stopfen, reparieren – und es ist wohl kein Zufall, dass dieses klar weibliche Motive sind: Es sind die Frauen, die die reale Welt auf diese Art und Weise zusammenhalten; und ihr Blut macht die Flecken im Gewebe. Einmal, und das ist wohl die zentrale poetologische Stelle des Romans, denkt Nachman darüber nach, dass es drei verschiedene Wegen des Erzählens gibt. Der Gedanke beruht im dichten intertextuellen Gewebe des Textes zwar auf einem ukrainischen Volksmärchen, ist aber komplex. Der mittlere Weg, so Nachman, sei schnurgerade und für die Dummen: Es ist ein unbefangenes, einfaches Erzählen, das vertraut auf die Richtigkeit und Macht von Tatsachen, die unvermittelt erzählt werden in der sicheren Gewissheit, dass es so und nicht anders war. Es ist der falsche Weg. Der nach rechts führende Weg, so Nachman weiter, sei der für die Überheblichen: Es ist ein selbstreflexives, kompliziertes Erzählen, in dem sich die Figur des Erzählers selbst ständig in den Vordergrund rückt, die Tatsachen infiziert und bei dem die Leserin hinterher mehr über die Figur des Erzählers weiß als über das, was er erzählt. Es ist der falsche Weg. Der dritte Weg jedoch, der linke, ist der für die wahrhaft Mutigen. Es ist ein Erzählen, bei dem der Erzähler sich leiten lässt vom Schicksal, von den Stimmen, die er hört, von dem, was ihm passiv widerfährt. In diesem Schreiben ist er nur ein Schiffchen auf den Wogen des Lebens selbst, er wird hin- und hergeworfen, aber erst auf diese Art und Weise kann das Erzählen wirklich und wahrhaftig werden: Die Welt erzählt sich dann selbst.
Die sich selbst erzählende Welt – sind wir nun unvermutet nicht doch wieder bei Handke angekommen? Ja, das sind wir, und das ist unerwartet und in höchstem Maße aufschlussreich. Denn es stellt sich heraus, dass bei allen Unterschieden auf der Oberfläche doch das Erzählen von Handke und Tokarczuk (zumindest in den Jakobsbüchern) Gemeinsamkeiten hat. Beide sind, zunächst, Orts- und Raumerzähler: Sie sehen Städte, Dörfer, Regionen als Kulturräume, die die Menschen zutiefst prägen. Beide vertrauen auf die Aussagekraft der Welt jenseits des sich ständig als Ich eitel vordrängenden Erzählers; die Welt spricht selbst, und nicht umsonst spielen für dieses Modell bei beiden Autoren mystische Gedanken eine Rolle. Sie spricht bei Tokarczuk in einer kaum beherrschbaren Vielzahl von Sprachen, anderen Texten, auch in Bildern (der Roman zeigt häufig das, was er erzählt, in zeitgenössischen Stichen und Drucken, und man möchte es nicht missen); in einer Vielzahl von miteinander unterirdisch verwobenen Einzelschicksalen, an denen der brave Nathan verzweifelt, die die schwebende Jenta aber sieht: Zusammenhänge, Linien, Übergänge. Genau wie bei Handke. Nach der Lektüre von Olga Tokarczuks Jakobsbüchern wird man neu über die europäische Geschichte des 18. Jahrhunderts gehen, und man wird die Risse unter dem Eis sehen.
So sehr ich es auch wollte, alles vermag ich nicht aufzuschreiben, zu eng sind die Dinge miteinander verbunden – berühre ich mit dem Ende der Feder das eine, stößt es zugleich an das nächste, und schon breitet ein Meer sich vor mir aus. Und wie wenig wären diesen Fluten die Ränder meiner Seele oder die Spur meiner Feder ein Damm.
Olga Tokarczuk: Die Jakobsbücher. Übersetzt von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein. Zürich 2019
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