Wie so oft beginnt die Geschichte bei Goethe. Dort las ich in einem der bekannteren ästhetischen Aufsätze von den „Wunderwerken eines Huysum, einer Rachel Ruysch …, welche Künstler sich gleichsam über das Mögliche hinübergearbeitet haben“. Etwas in mir stockte einen Moment, nein, gleich drei Dinge stockten in diesem Moment, sie stolperten geradezu übereinander: Warum diese außerordentliche Hochschätzung von (so lautet die etwas abschätzige Berufsbezeichnung) „Blumenmalern“? Wer waren eigentlich die derart hochgeschätzten, also „Huysum“ und „Rachel Ruysch“? Und warum, zum dritten und letzten und stockendsten: Warum nennt Goethe hier eine weibliche Künstlerin, von der ich noch nie in meinem (kunsthistorisch nicht ganz uninformierten) Leben gehört hatte? Wer war Rachel Ruysch, wen sie zuhause war? Welche „Wunderwerke“ erschuf sie, und woher kannte Goethe sie eigentlich?
Einige Wikipedia-Artikel samt einer amazon-Bestellung eines billig gemachten, aber trotzdem eindrucksvollen Bildbandes später war ich klüger und noch mehr beeindruckt. Also, zur Rettung einer fast vergessenen Blumenmalerin und mit einem Tusch auf die Emanzipation der Frauen im niederländischen 18. Jahrhundert:
I. Malende Frauen, oder: Wer war Rachel Ruysch?
Rachel Ruysch wurde 1664 als Tochter eines Professors für Anatomie und Botanik in Den Haag geboren, und das war ein Glücksfall für alle Beteiligten. Denn der Vater hatte eine umfangreiche botanische Sammlung, und es stellte sich frühzeitig heraus, dass die Tochter ein ungewöhnliches Talent zum Zeichnen hatte; sie war so gut, dass sie bald ihren Vater und ihren Bruder unterrichtete. Ihre Lehre erhält sie bei einem bekannten Blumenmaler in Amsterdam: Er soll ihr beigebracht haben, die Blumen absichtlich so in einer Vase zu arrangieren, dass es spontan und nicht-künstlich aussieht – was, um ehrlich zu sein, auch nur ein Grundgesetz aller Kunst ist, soweit sie sich irgendwie im weitesten Sinne als Naturnachahmung versteht, und dazu eine Technik, die von Frauen weltweit schon seit eh und je praktisch geübt wird. Kaum ist Ruysch 18 Jahre alt, verkauft sie bereits erfolgreich ihre ersten eigenen Blumenstilleben und baut an ihrem Netzwerk, indem sie Kontakte zu bekannten männlichen und weiblichen BlumenmalerInnen ihrer Zeit knüpft. Zwischendurch heiratet sie, einen Maler namens Juliaen Pool, der nicht einmal einen eigenen Artikel in der (deutschen) Wikipedia hat; und sie bekommt nicht weniger zehn Kinder mit ihm, von denen sechs überleben. Ein Porträt zeigt sie das Künstlerpaar: Entspannt, beinahe flegelig sitzt sie im Zentrum des Bildes, einer der Söhne schaut bewundernd und liebevoll zur Mutter auf. Der wohlbeleibte Ehemann steht hinter ihr (hinter jeder großen Frau steht ein Mann?), die Hand etwas besitzergreifend auf ihre Schulter gelegt; mit der anderen zeigt er auf eine Staffelei, die – man kann es nicht ganz genau erkennen, das ist wohl auch Absicht, aber zeigt es nicht? – genau, es zeigt das gleiche Blumenbukett, das neben Rachel auf einem Tisch steht und verdächtig „natürlich“ arrangiert aussieht; also ein Werk der berühmten Frau, nicht eines des eher wenig berühmten Porträtmalers!
Rachel hat auch allen Grund, entspannt zu sein. Die zehn Kinder werden, das kann sie sich leisten, von einer Kinderfrau betreut. 1699 wird sie als erstes weibliches Mitglied in die renommierte Malergilde Confrerie Pictura in Den Haag aufgenommen. 1708 erhält sie eine Berufung als Hofmalerin in Düsseldorf; sie erwirkt in ihrem Vertrag, dass sie zu Hause arbeiten darf (home office im frühen 18. Jahrhundert!) und ihre Werke nur gelegentlich ihrem Arbeitgeber in Düsseldorf abliefert. Aus einem Einzelporträt aus dieser Zeit blickt der Betrachterin eine nüchterne, nicht unattraktive Frau mit natürlichen braunen Locken in ihren 30er Jahren entgegen. Das Dekolleté ist sehr freizügig, der samtige Pelzkragen schmeichelt ihrer glatten Haut und erweckt den Eindruck von bürgerlichem Reichtum. Wohlhabend sieht sie aus, entspannt, angekommen. Eine niederländische Geschäftsfrau, die auch in hohem Alter nicht in Rente geht: Denn Rachel Ruysch wird alt, sie stirbt mit 86 Jahren in der Mitte des Jahrhunderts, genau 1750. Bis ins 83. Lebensjahr malt sie; man weiß das, weil sie gelegentlich das Alter mit verzeichnete auf den Bildern. Es gibt sogar noch ein ganz spätes weiteres Eheporträt, einen Stich, der sie als Matrone zeigt, die ihren Ehemann überlebt hat. Ein etwas spöttisches Lächeln gleitet hier über das immer noch ernsthafte, immer noch disziplinierte Gesicht, während der über ihr schwebende Mann (er war schon gestorben zu diesem Zeitpunkt) sorgenvoll die Augenbrauen kräuselt. Und auf dem Medaillon, das ihr Porträt rahmt, ist wieder das Alter verzeichnet: gesegnete 84 Jahre. Seit ihrem 18. Lebensjahr hat sie gemalt, und ihr Werk ist heute noch kaum vollständig verzeichnet. Die Bilder erzielen lange Zeit Höchstpreise auf dem Markt: Überliefert sind zwischen 750 und 1200 Gulden, Rembrandt bekam meist nicht mehr als 500 Gulden. Dass eine Frau auf dem Kunstmarkt besser bezahlt wird als die Männer, wäre heute eine Rarität. Aber nun gut, sie war halt eine Blumenmalerin, ein typisch weibliches und in der Hierarchie der Bildgattungen eher niederes Genre; sie malte hochdekorative, wenig anspruchsvolle Gemälde, die man sich gut in einem höfischen oder gehoben bürgerlichen Ambiente vorstellen mag. Wenig Revolutionäres, wenig Aufregendes, keine Skandale, von „Relevanz“ ganz zu schweigen!
Goethe aber sprach, und das ist nicht wenig, von „Wunderwerken“. Warum nun diese Hochschätzung einer Blumenmalerin (ein ziemlich minderwertiges Genre in der Zeit, und gern Frauen überlassen) bei einem, der es gewohnt war, hohe und höchste Maßstäbe an die Kunst anzulegen? Es wird Zeit, endlich auf die Kunstwerke selbst zu schauen!
II. Rachel Ruyschs Blumenstilleben, oder: Ästhetische Erziehung durch Betrachtung
Wenn man sich die von Details überquellenden Werke von Rachel Ruysch anschaut, ist man zuerst überwältigt: So viel Leben, so farben-prächtig (das Wort gewinnt eine ganz neue sinnliche Bedeutung!), so sinnlich-vielfältig ist das alles! Es gibt ein Tierleben neben dem Pflanzenleben; wir sehen: das Farbige Funkeln der Schmetterlinge, das Durchsichtige der Libelle, das imponierende Geweih des Hirschkäfers, und da, schaut die Eidechse nicht ein wenig dämonisch drein, genau wie bei Hieronymus Bosch? Sogar die Kreuzspinne baut ungestört an ihrem Netz, ein weiteres Kunstwerk der Natur. Aber dann, die Hauptdarsteller, die Blumen: die üppigen Paradiestulpen, immer geöffnet auf dem Höhepunkt ihrer Pracht, aber beinahe meint man schon zu sehen, dass die Blätter demnächst fallen werden. Dazu die gefüllten Rosen und Nelken, Sammlerobjekte wie Kunstobjekte wie Wissenschaftsobjekte! Die Fülle und Unordnung, die immer eine schöne ist und nie eine chaotische! Fleischige Blätter füllen die Lücken zwischen den hervorstehenden Blüten, Grünwerk in allen denkbaren Formen; doch das Üppige ballt sich meist im Herzen des Bildes, von dort aus führen einzelne, zierliche Lilienstengel nach außen, greifen aus in den dunklen Hintergrund – und geben der überwältigen Betrachterin eine kleine Hilfestellung zur Orientierung: Linien, Perspektiven, Proportionen – kennt man das nicht alles aus anderen, mehr klassischen, aber auch: mehr abstrakten Gemälden? Finden wir einen goldenen Schnitt, ein gleichseitiges Dreieck, miteinander korrespondierende oder komplementäre Formen und Muster?
Natürlich finden wir das alles. Es sind ästhetische Grundprinzipien, egal ob man eine Madonna oder eine Blumenvase darstellt; es sind, wahrscheinlich, sogar anthropologische (wie die Symmetrie, die nicht nur ein Kunst-, sondern auch ein Naturprinzip ist). Wir finden aber auch, wenn wir uns wieder auf die Ebene der Gegenstände hinablassen: neben all den kostbaren Kunstblumen Wildblumen; sogar ein Kaktus verirrt sich gelegentlich dazwischen, und eine Sonnenblume wird zum Gegengewicht der Prachttulpe, die das ganze Bild in eine Art dynamisches Kreisen um seine verschiedenen Zentren versetzt (man könnte sich das Ganze sogar von Mondrian gemalt vorstellen, so abstrakt kann es wirken).
Und da, schon wieder dieser blaue Fleck, kennen wir ihn nicht schon, kehrt er nicht immer wieder, setzt er nicht einen farblich ganz singulären Effekt in der Orgie von warmen Rot-, Gelb- und Grüntönen, ist er vielleicht eine Art – Markenzeichen? Das lässt sich überprüfen, sogar in unserem billigen Bunt-Nachdruck. Tatsächlich kehrt der blaue Fleck wieder, beinahe in jedem Gemälde; und da Kataloge dazu tendieren, das Dargestellte gelegentlich auch botanisch zu charakterisieren, lernen wir (wir kannten die Form aber schon aus dem eigenen Garten): Es ist eine Winde, botanisch Convolvulus. Was hat es, und damit nähern wir uns einer gewundenen Bewegung dem Schluss dieser ästhetisch-botanisch-lebensgeschichtlichen Blumenreise, auf sich mit dem Convolvulus?
III. Convolvulus, oder: die wiedergefundene blaue Blume
Convolvulus, oder: die gemeine Winde, ist eine sehr interessante Pflanze, und zwar botanisch wie ästhetisch wie symbolisch. Es ist eine große Artenfamilie mit beinahe weltweiter Verbreitung; eine Wildpflanze, einjährig und so ausdauernd und fortpflanzungsfreudig, dass sie heute häufig als Unkraut gesehen wird. Wie beinahe alle Pflanzen hat sie medizinische Anwendungen; zudem enthält sie LSD-ähnliche psychoaktive Substanzen. Aber hier drängt sich die Symbolik etwas zu massiv auf, wir konzentrieren uns lieber auf die eher gebändigten syn-ästhetischen Potentiale. Viele Winden verströmen einen sehr starken, süßen Geruch. Sie sind auch ansprechend geformt, wie kleine Herzen. Es gibt sie in vielen Farbvarietäten; besonders beliebt und auffällig sind die blauen Varianten, Ruyschs „Markenzeichen“: Die Blüten strahlen in einem kräftigen Blau, das sehr selten ist in der Pflanzenwelt und zu dem das Reinweiße des inneren Kelchbereichs aufs schönste kontrastiert – es ist eine sozusagen beinahe vergeistigte Pflanze schon in der Farbgebung, die Kombination von reinem Blau und strahlenden Weiß gemahnt an allerhöchste Gegenstände der Kunst, beispielsweise: die klassische Madonnendarstellung, mit blauem Mantel (als Zeichen der Geistigkeit) und weißer Lilie (als Zeichen der Jungfräulichkeit).
Dazu kommt der Name: Convolvulus, lateinisch für: das sich Umschlingende, Windende, was auf der Sachebene die Wachstumsform mit den langen dünnen Stängeln beschreibt, die Halt brauchen, an Zäunen, Stäben, Ackerpflanzen. Auf der Bildebene aber gemahnt die umschlingende Winde aber auch an den starken Baum umschlingenden Efeu, schon seit der Antike ein traditionelles Symbol des Weiblichen als des Anschmiegsamen, Haltsuchenden in der traditionellen – aber halt! Hat sich Rachel Ruysch denn wirklich als eine anschmiegsame Künstlerinnengattin gesehen, die sich um ihren Mann schmiegt? Die Porträts erzählen eine andere Geschichte, genauso wie ihr Leben. Warum also kehrt der sich windende Convolvulus immer wieder, einmal abgesehen von seinen unbestreitbaren ästhetischen Qualitäten, warum sticht er gerade aus den Farbsymphonien hervor? Reizt sie vielleicht genau das? Die Winde ist eine Einzelgängerin, ein fremd leuchtender Einzelakzent in der Fülle des warmen Blütengewirrs und -geschwirrs, zwischen all den Prachttulpen und Zuchtrosen, die sich in den Vordergrund drängen. Sie ist ein wenig – anders; aber auf eine unübersehbar attraktive und Aufmerksamkeit erzeugende Art und Weise. Und ist sie nicht auch, man lerne noch einmal von der Botanik: eine Eintagspflanze? Die blaue Winde blüht nur einen Tag und folgt dabei, sich windend, der Sonnenbewegung; ohne Sonne wird sie niemals blühen, und wenn man sie an ihrer natürlichen windenden Bewegung um die Sonne hindert, wird sie eingehen.
Rachel Ruysch war sicherlich keine Eintagsmalerin. Aber wenn man sie daran gehindert hätte, ihrer Sonne zu folgen, ihr Talent nicht nur auszubilden, sondern auch in wirtschaftlichen Erfolg und eine emanzipierte Lebensform umzusetzen, wäre sie sicherlich verkümmert. So aber strahlt sie aus ihren Blumenbildern, die „Wunderwerke“ der Natur und der Kunst sind, bis zu uns hinüber.
Rachel Ruysch: Paintings (Annotated by Raya Yotova). Leipzig 2019
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