Das der Netflix-Erfolgsserie zugrundeliegende Buch von Walter Tevis war nicht als eine Emanzipationsschrift gemeint gewesen. Leser und Leserinnen sprechen in Online-Rezensionen oft von einem Thriller, den sie nicht mehr aus der Hand legen konnten – und hätte irgendjemand vorher für möglich gehalten, dass es so etwas wie einen Schach-Thriller geben könnte? Dass die Hauptfigur Beth Harmon eine Frau ist in der Männerwelt der „Großmeister“; dass sie zeitweise drogen- und alkoholsüchtig ist, dazu aufgrund ihrer traumatischen Kindheit wie ihrer außergewöhnlichen Persönlichkeit emotional eingeschränkt bis zum Asperger – gehört alles einfach zur Geschichte, die eben eine Waisen- und Wunderkindgeschichte mit weiblicher Heldin ist (Beth selbst sagt in einer Folge: „Ihr interessiert euch doch nur für mich, weil ich eine Frau bin!“, und das ärgert sie sehr). Und doch haben all diejenigen nicht ganz Unrecht, die jetzt in der Verfilmung vor allem eine Frauengeschichte gesehen haben. Denn die Serie lebt von den großen Augen von Beth Harmon, die imaginäre Schachspiele an beinahe jede Zimmerdecke zaubern kann; von ihrer sehr ansehnlichen Bilderbuch-Metamorphose vom hässlichen Entlein zum Model-Schwan, von ihrer grazilen Silhouette, der schlangengleichen Eleganz, mit der sie am Tisch Platz nimmt und die Figuren führt so schnell, so energisch, so hochkonzentriert, dass es irgendwann auch den größten Großmeister aller Zeiten einschüchtert. Und heißt die Geschichte nicht sogar The Queen’s Gambit?
Das ist übrigens, für uns Nicht-Eingeweihte und allerhöchstens Hobby-Spielerinnen, eine sehr verbreitete Eröffnung im Schachspiel, das wie jede gute Geschichte aus einer Eröffnung, einem Mittelteil und einem endgame besteht. Schach ist nämlich keineswegs die große Kombinationsfreiheit auf 64 Feldern; nein, es gibt massenhaft vorgegebene, historisch erprobte Zugkombinationen aus einer reichen Schachliteratur Erfolgsrezepte der Großmeister sozusagen, die man erkennen muss und auf die man in einer mehr oder weniger vorgeschriebenen Art und Weise reagieren muss (und ist es nicht in der Literatur ganz ähnlich? Zehrt davon nicht die Erfolgsgeschichte des Begriffs Narrativ: eben keine individuelle Geschichte, sondern ein wiederholbares Erzählmuster, auf das wir alle immer schon warten?). Beim Queen’s Gambit nun geht es um das Angebot eines Bauernopfers des Damenbauers direkt zu Beginn des Spiels. Der dadurch errungene vermeintliche Vorteil ist aber eine Falle, die mit einem kurzfristigen Gewinn lockt, aber langfristig ins Verderben führt (und schon wieder ist man nicht nur in der Strategie, sondern mitten im Leben und in der Literatur, wo bekanntlich ständig Bauern geopfert werden, damit die Könige ihre Ruhe haben!). Bauern haben übrigens kein Geschlecht im Schach; sie sind noch nicht einmal eine „Figur“, sondern nur ein „Stein“. Sie haben auch die geringste Bewegungsfreiheit: gerade einmal einen Schritt, und den nur nach vorn (kein Bauer darf desertieren, niemals!). Denn es ist schließlich der König, der um jeden Preis geschützt werden muss; alle anderen Figuren haben keinen anderen Endzweck, und wenn der König ermattet dahin fällt, plopp!, fällt das Reich und das Spiel ist aus. Der König aber, und das ist eigentlich ziemlich lustig, ist beinahe noch eingeschränkter als die geschlechtslosen Bauern. Er kann zwar in alle Richtungen ziehen, aber auch immer nur einen Trippelschritt weit. Die Dame hingegen, die Königin, ist die allerbeweglichste, die allerwichtigste Figur: Sie durchquert frei den ganzen Raum, in jede denkbare Richtung. Die Damen führt den Angriff, mit Generälen und Bauern, nicht etwa der König!
Bevor wir aber nun in einen fröhlichen Frauenpower-Taumel verfallen, ein kurzer, wie immer lehrreicher Ausflug in die Geschichte und die Symbolpolitik. Dass Schach ein sehr altes Spiel ist, wissen die meisten irgendwie, vage auch, dass es aus dem Osten kommt, wo das Licht und die Weisheit herkommen. Nicht direkt berühmt jedoch ist der frühe Okzident für seine Frauenfreundlichkeit oder seine emanzipatorischen Errungenschaften überhaupt. Dort war die Schach-Dame aber auch ursprünglich überhaupt keine solche, sondern ein Minister: der Wesir nämlich, die mächtigste Figur am Hofe, der Stellvertreter des Herrschers, und das macht auch viel mehr Sinn. Erst als das Spiel im frühen Mittelalter, wohl über die Seidenstraße, nach Europa einwanderte, da mutierte die Figur irgendwann vom Beamten zur Dame. Warum – das weiß keiner so genau, auch die Regeln waren in dieser Zeit noch durchaus in Bewegung. Spekulationsfreudige Kulturhistoriker mutmaßen, dass eindrucksvolle weltliche Herrscherinnen der Zeit das Vorbild waren (Isabella I. von Kastilien wird gern genannt, weil das zeitlich ungefähr passt); oder vielleicht die Blüte der Minnelyrik (die aber die angebetete hohe Frau lieber in die Kemenate einsperrte)? Hätte man trotzdem nicht besser einen General aus dem Wesir machen können, nachdem das Schießpulver erfunden war und damit die Karten auf den realen Schlachtfeldern der Königreiche neu verteilt worden waren? Aber vertrauen wir in diesem Fall lieber der Weisheit des Schachs, und diese sagt: Der König mag zwar unersetzlich sein, aber er ist wenig mehr als ein glorifizierter Bauer in einem goldenen quadratischen Käfig. Mit der Königin jedoch ist zu rechnen; sie ist die freieste Figur und die gefährlichste.
Eine andere Erklärung für die Mutation Wesir-Königin geht übrigens etymologisch: Der Wesir hieß im Persischen (der zweiten Station des wandernden Schach nach Indien wahrscheinlich) „farzin“, im Arabischen „firz“; die Europäer machten phonetisch „fers“ daraus, was eine vage Hörähnlichkeit wiederum mit dem französischen Wort „vierge“ hat, was für die Gottesmutter steht. Diese aber ist gleichzeitig Jungfrau und Himmelskönigin. Nicht ganz so emanzipatorisch gedacht und auch sehr zweifelhaft wie die meisten Ableitungen aus der Wortgeschichte, aber immerhin ein Versuch! Zudem, so ritterlich war das Mittelalter noch, war vor dem Angriff auf die Dame zu warnen: „gardez!“ – Pass gefälligst auf deine Dame auf! – so wie dem „Schachmatt“ die Ankündigung im „Schach!“ vorauszugehen hat. Bauern hingegen werden ungewarnt geopfert; aber es gibt einen kleinen Trick, wie auch ein Bauer Königin werden kann!
Zunächst aber zurück zu Beth Harmon und dem Damengambit. Beth, die geniale Waise, ist zu Beginn der Geschichte maximal eingeschränkt in ihrer Bewegungsfreiheit. Im Waisenhaus sind die Wege genau vorgeschrieben, und schon, dass sie sich in den Keller begibt, wo der etwas gollumartige schachkundige Hausmeister wohnt, ist eigentlich ein schwerer Verstoß gegen die Hausordnung. Der Hausmeister aber ist nur äußerlich ein beliebiger Bauer; innerlich ist er mindestens ein Turm, ein Fels in der Brandung jedenfalls für das ernsthafte Mädchen, das am Rand des Feldes steht und sehnsüchtig darauf wartet, endlich eingelassen zu werden in das Spiel, und so lange schaut mit ihren großen Augen, bis er endlich sagt: „Let’s play chess!“ „Let’s play chess“, das sind die magischsten Worte überhaupt, denn sobald Beth sich auf das Brett konzentriert, verschwindet die Welt um sie herum und eine neue entsteht in ihrem seltsam mathematischen Kopf unter der strengen Pagenfigur. Von da an, aus dem Kellergeschoss, arbeitet sie sich empor, Schritt für Schritt, Zug um Zug erweitert sie ihre Bewegungsfreiheit, erobert ihre Heimatstadt, erringt die US-Meisterschaft, geht nach Paris (die Kleider werden immer besser) und schließlich nach, die Krönung jeder Schachkarriere: Moskau. Moskau, das ist ein magischer Ort, wo Schach in den Parks gespielt wird und die Paläste und Hotels Schachbrettern ähneln; man ist aber nie allein, sondern verfolgt von dunklen Geheimagenten, und selbst die eigene Regierung lässt einen nicht aus den Augen (Schach ist Politik. Schon immer gewesen). Am Ende gelingt Beth damit das, wovon jeder Bauernstein träumt: Denn wenn er (oder sie) bis in die Grundlinie des Gegners vordringt, wenn es ihr (oder ihm) gelingt, das ganze Feld zu durchqueren, allein, als kleiner Bauer, ungeschützt – dann darf er gewandelt werden; und meistens steht sie dann als Königin wieder auf. Um sie herum fallen derweil die Männer zu ihren Füßen (also: um Beth jetzt). Einer nach dem anderen gibt auf. Auf dem Brett gibt es dafür verschiedene Möglichkeiten: Der König wird gekippt, geschlagen, umgelegt, eine tote Figur. Oder er bietet die Aufgabe an, mit Worten oder Taten, nämlich der ausgestreckten Hand, die der Gegnerin den höchsten Respekt zollt. Beth jedoch wird verlassen. Immer wieder. Keiner hat ihr Opfer, ihr persönliches Damenopfer angenommen; keiner war stark genug dafür; nicht für die Großmeisterin, nein (im Schach bleiben sie ihr durchaus treu); für die Frau.
Dass Beth bei all dem Glück im Spiel keines in der Liebe hat, ist natürlich auch ein bekanntes Narrativ, aber gar kein so beliebtes. Dass sie nicht nur von den Männern, sondern auch von zwei Müttern verlassen wird und nur mit Hilfe einer hartnäckigen, lebensweisen Freundin ihre Sucht in den Griff bekommt – ist aber wohl der Preis für die Macht der Königin. Am Ende der Serie ist sie zu einer Eiskönigin geworden, ganz in modischstes Weiß gewandet, allein im fernen Russland und völlig frei. Doch als sie die Einladung annimmt und sich schlangengleich bei den alten Männern im Park an ihren einfachen Schachtischen niederlässt, und als die magischen Worte fallen: „Let’s play chess“ – da taut das Eis auf und die Welt versinkt.
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