I. Neulich im Städel: Unter Bildungbürgern
Neulich Freitag nachmittags im Frankfurter Städel, immerhin darf man noch ins Museum: Wohlmaskiert schlendert das kulturell interessierte Publikum in gehobener Atmosphäre durch die versammelten Rembrandts samt Zeitgenossen. Nennt mich Rembrandt!, das ist der Aufmacher der Ausstellung. Die etwas sparsamen Text der Kuratoren versuchen darzulegen, dass Rembrandt schon einiges von der neueren Marketing-Kunstform Branding verstand, aber das ist gar nicht so interessant. Eher mäßig interessant sind auch auf den ersten Blick die ziemlich stereotypen Porträts, mit denen der Rundgang eröffnet: wohlbeleibte Niederländer und Niederländerinnen, mit einer Neigung zur rötlichen Knollennase in beiden Geschlechter (eine Dame fragt im Flüsterton bei der gerade vorbeischwappenden Führung: „Durften denn die Leute damals alle betrunken gemalt werden?“, Loriot schwebt kurz durch den Raum und nickt heftig), und nur wenn man genau hinsieht, merkt man, dass die so demütig wirkenden schwarzen Gewänder aus den kostbarsten Stoffen der Amsterdamer Börse gefertigt sind. Den optischen Rest erledigen die Spitzen: „Spitzenprodukte“, wagt der Ausstellungstext einen kleinen Scherz, er ist aber leider unübersetzbar, trotzdem bewundern wir alle die Spitzen mehr als die Knollennasen. Nun ja, andere Zeiten, andere Moden, andere Nasen. Dort zum Beispiel stehen zwei junge Männer vor einem Vollporträt eines stehenden jungen Mannes. Sie tragen Jeans, er trägt seidig schwarz glänzende Kniebundhosen, die in hinreißenden Knierüschen enden. Sie tragen Sneaker, er trägt schwarze Lederschuhe mit einem kleinen Absatz und Spitzenschleifen. Und anstelle eines Pullovers stellt der Porträtierte ein strahlend weißes Hemd mit weitem Kragen zur Schau: geschlossen wird es mit einer sehr dekorativen Silberschnalle, darüber kommen eine kostbar tressierte Jacke und der elegante geschwungene schwarzen Samtumhang. Vorwitzig blitzt direkt über dem hochsitzenden Hosenbund noch eine Art Schleife mit einer weißen Spitze hervor, ähnlich wie ein Schuhbändel, sie sitzt exakt in der Bildmitte sitzt und weist nach unten, zwischen die – aber was ist das? Jetzt weisen die beiden jungen Männer auf etwas hin, das im Porträt am Boden liegt, erst hat man es gar nicht bemerkt: Es ist ein Handschuh, er ist offensichtlich zu Boden gefallen, und jetzt liegt er da, leicht gekrümmt wie ein kleines ängstliches Tier, das sich zusammenkauert. Aber er kann ihm doch nicht von der rechten Hand gefallen sein, dann läge er doch auf der anderen Seite, und warum überhaupt? – da hat der eine junge Mann schon sein Handy gezückt, offenbar liest er etwas nach, und dann diskutieren die beiden weiter, weisen auf den Handschuh, weisen wieder auf das Gesicht, auf die kleine weiße Spitze in der Bildmitte. Derweil fragt der liegende Handschuh, kokett und herausfordernd gleichzeitig die neue Betrachterin: Et tu? Der Text zum Bild hilft nicht viel weiter: Eigentlich weiß man noch nicht einmal genau, wer der Dargestellte ist, aber man hat immerhin ein Entstehungsdatum: 1639, da war Rembrandt selbst 33 Jahre, hatte ein eigenes Atelier in Amsterdam, war verheiratet und Vater zweier Kinder . Aber was machen wir nun mit dem Handschuh? Folgen wir den beiden jungen Männern ohne Handschuh und mit Smartphone und fragen die Quelle aller modernen Weisheit, Wikipedia!
II. What’s in a glove?
Handschuhe, also, Kurzfassung samt Fun Facts: Gab es schon immer. Schon in der Frühzeit, sie waren damals nur unförmig, aber handlich für die anfallenden groben frühneuzeitlichen Arbeiten. Doch kaum erhob die Zivilisation ihre schweren Flügel, wurden die Handschuhe schon zum Luxusobjekt: Tutanchamun, bekannt eher ein minderer Pharao, hatte 27 Paar feine Lederhandschuh in seiner Grabkammer. Bei den Römern hießen Fingerhandschuhe digitales, und die eher kulturkritisch gesinnten unter den römischen Philosophen hielten sie für ein handgreifliches Symbol der beginnenden spätrömischen Dekadenz (auch Oliven sollte man lieber mit baren Händen pflücken, so ein entsprechender Ratgeber). Großer Sprung ins Mittelalter, einer geradezu symbolhörigen Zeit, wo der Handschuh die volle Entfaltung seiner Bedeutungsbreite erreicht. Erster Finger: Machtsymbol! Könige und Kaiser haben kostbare Handschuhe, und wenn sie jemand unter ihre Fittiche nahmen, bekam er ebensolche als Symbol geschickt, zur öffentlichen Ausstellung. Zweiter Finger: Kampf! Wenn ein Ritter einem anderen den Handschuh vor die Füße knallte oder ins Gesicht wischte, hieß das: schwere Beleidigung und Herausforderung zum ritterlichen Zweikampf (mit Schutzhandschuhen, natürlich). Dritter Finger: Sauberkeit und Hygiene! Und zwar sowohl im wörtlichen Sinn – vor der Erfindung des Bestecks trugen Damen beim Mahl gern Handschuhe – also auch im übertragenen Sinne: Der Sachsenspiegel, einer der ersten mittelalterlichen Rechtsbücher, gebot Richtern, mit unbedeckten Händen ihres Amtes zu walten und dadurch ihre Ehrlichkeit und Unbestechlichkeit zu demonstrieren (zur gleichen Zeit wurden Bittgesuche gern mit Handschuhen verschickt, die prall mit Geld gefüllt waren). Vierter Finger: Ästhetik! Imagesymbol! Kulturelles Kapital! Im Verlauf der Zeit und mit der Entwicklung des Kunsthandwerks wurden die Handschuhe immer mehr zu einem Kunstobjekt; erst nur für die Herrscherkasten (Pharao! Kaiser! Bischof!), aber im nivellierenden Fortgang der Zivilisation auch für die etwas begüterten Massen (Arbeitshandschuhe sind ein anderes Thema. Gab es immer, wurden nur technisch besser). Die Dame von Welt trägt Handschuhe, am Hof sowieso, aber bald unter dem allmächtigen Diktat der Mode überall. Der Dandy von Welt auch. Und damit kommen wir elegant zum fünften Finger (es muss aber nicht der kleine sein) und zur geschlechtergeschichtlichen Symbolik: Wenn die Dame dem Ritter ihren Handschuh überreicht, versichert sie ihm ihrer Gunst (weitere Glieder sollte sie sich aber nicht entblößen, jedenfalls nicht in der reinen Minne). In den Niederlanden zu Rembrandts Zeiten hat man die höfische Galanterie aber weitgehend hinter sich gelassen; wenn der Gatte hier der Dame bei der Hochzeit den Handschuh überreicht, ist er ein Symbol für ihre künftige Unterwerfung unter seine Herrschaft (wir sind also wieder bei 1, sozusagen). Verwerflich und unaufgeklärt, natürlich, aber was sagt der eine junge Mann da gerade? Zitiert er nicht – ja, er zitiert tatsächlich Schillers Ballade Der Handschuh, die er in der Schule habe lernen müssen und von der er noch die letzte Zeile erinnere: „Den Dank, Dame begehr ich nicht!“ Nun gut, es ist der vorletzte Satz, aber wir Bildungsbürgerinnen sind nicht kleinlich, zumal es der entscheidende Satz und die Pointe ist. Schillers Ballade ist nämlich sozusagen ein umgekehrtes Lehrstück in Sachen Emanzipation. Der Ritter emanzipiert sich von der überholt-stereotyphaften Verteilung der Geschlechterrollen, indem er den von der Dame für ihn in den Ring geworfenen Handschuh – wo sich gerade Löwen und Tiger gegenseitig zerfetzten – zwar den Untieren entriss, anschließend aber auf die Gunst einer solchen „Dame“ dankend verzichtete und erhobenen Hauptes den Ring verließ. Das hätte man auch gern von Rembrandt gemalt gesehen, nicht immer nur alttestamentarische Männermörderinnen, die alle verdächtig Saskia ähnelten und eine Knollennase hatten! Chapeau für Schiller!
III. Zwei Rätsel, weiter ungelöst
Belehrt kehren wir zurück zu Rembrandts jungem Mann mit dem hingeworfenen Handschuh, der uns immer noch anstarrt (der Handschuh). Nachgetragene kunstgeschichtliche Forschungen im Museums-Café nebenan ergeben: Die kunsthistorische Forschung weiß es auch nicht besser. Zum einen weiß sie nicht genau, wer dargestellt ist: Es gibt zwei Kandidaten aus dem städtischen Umfeld Rembrandts, beide sehr gehobenes Amsterdamer Bürgertum, und von dem einen weiß man, dass er mal bei Rembrandt ein Porträt in Auftrag gegeben hatte; es sind aber andere Abbildungen von ihm überliefert, und die Ähnlichkeit, Knollennase hin oder her, kann kaum auch nur als entlegen bezeichnet werden. Der andere wäre ein wenig ähnlicher, aber man hat keinen Papierkram dazu. Einig ist man sich deshalb nur, dass der Dargestellte ziemlich jung gewesen sein muss; dass er Geld gehabt haben muss (Indizien: Kleidung und Ganzkörperformat); und dass er ziemlich cool überkommt mit seiner etwas geckenhaften Haltung. Zum zweiten weiß man nicht, was der Handschuh soll; und die Deuter kommen auch nicht viel weiter als wikipedia. Es gibt zwar Vorbilder für ähnliche Darstellungen bei anderen berühmten Malern; und wenn wir in der humanistisch-rätselverliebten Hochrenaissance gewesen wären mit ihrer Vorliebe für Mystizismus und allegorische Verkleidungen, hätte sich sicherlich auch eine breitere Deutungsdiskussion entsponnen. Nicht aber beim knollennasigen Amsterdamer Bürger Rembrandt, dem das Verschmitzte nur gelegentlich in eine kleine Zeichnung entwischt, da haben die Kunstkritiker Eselsohren. Aber wir haben inzwischen Glühwein mit den jungen Männern getrunken und können deshalb auch selbst ein wenig spekulieren.
IV. Übergestülpte Deutungen
Da wir vorher schön systematisch waren und uns anhand von Wikipedias Weisheit die fünf symbolischen Deutungsmöglichkeiten von Handschuhen fingerweise erarbeitet haben, müssen wir sie nun nur noch durchgehen.
Also, 1: Macht. Man kann sich tatsächlich des Eindrucks nicht erwehren, der junge Mann wolle noch etwas werden, schimmert da nicht etwas Kevin-Kühnert-Mäßiges durch den Blick? Darauf sind die Kunsthistoriker auch schon gekommen, sie schlagen beispielsweise vor, er könnte seinen Handschuh sozusagen als Bewerbung für eines der vielen ehrenhaften und/oder gutbezahlten öffentlichen Ämter – Bürgermeister, Vorsteher des Leprösen-Hauses, Richter mit sauberen Händen – in den Ring geworfen haben. Wäre denkbar, aber vielleicht wirkt er dafür doch etwas gar zu locker? Aber immerhin, er konnte sich ein Rembrandt-Ganzkörper-Porträt leisten, und alle diese wunderbaren Spitzenprodukte noch dazu! Also: ein entschiedenes Vielleicht!
2: Kampf, Fehde, Herausforderung: Definitiv nicht. Weniger kämpferisch kann man sich kaum hinstellen. Zu einem Menuettschritt könnte er vielleicht ausholen, oder zu einer angedeuteten Verbeugung, um der Dame einen Handschuh aufzuheben. Nicht aber zu einem Ausfallschritt mit dem Schwert. Die Spitzen würden auch schmutzig werden. Definitely not.
3: Sauberkeit, äußerliche oder innerliche: Schmutz scheint hier eher nicht das Problem zu sein. Die Umgebung wirkt zwar etwas düster, aber für Rembrandt ist sie eher außergewöhnlich gut beleuchtet. Man kann sogar eine Art antikisierenden Hintergrund erkennen, mit einem Steintor mit Muscheldekor über der mit Nieten besetzten Tür; mit Kacheln auf den Weg davor, einem kleinen geometrischen Element; und einer etwas rätselhaft unscharfen Büste, die skeptisch von oben auf den jungen Geck herabzublicken scheint (ein Selbstporträt Rembrandts, der eine kleine Obsession mit Selbstporträts hatte? nein, nicht genug Knollennase). Aber nichts, was man nicht auch mit bloßen Händen anfassen könnte. Bleiben die Ehrlichkeit, die Offenheit, die Demonstration von Ungeschütztheit: Ich zeige euch meine nackte Hand, hier liegt sie, ziemlich in der Bildmitte, ganz in der Nähe von dem kleinen weißen Zipfel am Hosenbund, sie ist so weich und wohlgepflegt, sie könnte beinahe eine Frauenhand sein, und sie trägt keinen Ring! Das bringt uns zu
4. Ästhetik: Nein, keine Sprünge, wir gehen schön die Finger entlang. Ästhetisch macht der Handschuh so total Sinn, wie jedes Detail bei einem großen Meister Sinn macht. Man denke ihn sich weg, und das Bild hätte eine Lücke. Es wäre langweiliger. Es würde etwas fehlen, in der Bilddiagonale, die vom skeptischen Blick der Büste über die weiche Hand in der Mitte und die Spitze am Hosenlatz genau in die gegenüberliegende Ecke unten führt, wo der kleine verkrümmte Handschuh liegt. Mit seiner irgendwie organisch anmutenden Krümmung nimmt er auch ein wenig Kontakt auf zur Muschel über der Tür und bildet farblich und formal ein Gegengewicht zum Schwarz-Weiß- der Figur und der Fliesen. Im Gegensatz zur leuchtend hellen Hand in der Bildmitte ist er ein dunkles Gegengewicht am Rande. Macht er damit den Dargestellten nicht auch irgendwie – menschlicher? Ach, man mag sich vorstellen, dass das Modell irgendwann, aus Erschöpfung oder Unlust beim Modellstehen im Atelier, einen Handschuh hatte fallen lassen. Gerade wollte er sich danach bücken, aber Rembrandt wäre aufgefahren von seiner Staffelei und hätte gerufen: „Nee, lass liegen! Das ist genau das, was mir noch gefehlt hat! Könntest du ihn vielleicht nur ein kleines Stückchen weiter nach links – noch ein klein wenig weiter, genauso, nein, mach ihn nicht gerade! Wunderbar!“ Warum nicht? Ästhetik geht immer, deshalb ist es ja ein Kunstwerk. Aber Rembrandt kannte kein art pour l’art.
Ästhetik geht immer, deshalb ist es ja ein Kunstwerk. Aber Rembrandt kannte kein art pour l’art.
5. Gender. Zudem trägt der Schöne keinen Ring, und damit wären wir bei 5., der geschlechtergeschichtlichen, nennen wir sie hier aber lieber: der erotischen Bedeutung. Die Forschung geht davon aus – das mögen wir ihr glauben –, dass das Bild nicht der Teil eines jener Doppelporträts war, die für Ehe- oder Brautleute verbreitet waren, Knollennase links, Knollennase recht, und viel Spitzen auf beiden Seiten. Nein, der junge Mann steht für sich selbst. Könnte es nicht sein, dass er, als früher Vorläufer der Schiller’schen Emanzipation der Männer vom Handschuh-Aufheb-Zwang, einfach seinen Handschuh hat fallen lassen, damit eine vorübereilende Schöne ihn ihrerseits aufnimmt? Ist es vielleicht ein Bewerbungsporträt, aber nicht für das Bürgermeisteramt, all seiner Reize zum Trotz, sondern für die wohlbeleibten und rotbackigen Amsterdamer Bürgerdamen, und es sagt, im Handschuh nur mäßig verschlüsselt: Wo ist sie, die Dame meines Herzens, die es wagt, den Handschuh aufzunehmen? Die das Prachtstück zu schätzen weiß, das ich hier darstelle, seht doch nur, die Rüschen und Spitzen und Locken? Wo ist sie, die andere Hälfte meines künftigen Doppelporträts, ich könnte sie sogar von dem berühmten Rembrandt malen lassen? Why not?
Die beiden jungen Männer schauen skeptisch. Sollen sie doch. Sie haben andere Handschuhe zu werfen und aufzuheben, heutzutage. Nennt mich – ?
Nennt mich Rembrandt! Städel Museum Frankfurt, 6.10.2021-30.1.2022
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