Aus Goethes Wörtertasche
Wahrsagung und Weissagung: Man könnte meinen, die wesentliche Verbindung zwischen beiden Wörtern (außer dem willig wiederklingenden W) sei ihr Ausgestorbensein: Außer Wetterpropheten – na gut, und Zukunftsforschern und Trendspürern; und Zeitschriftenastrologen und Epidemiologen – na gut, genauer besehen ist weder das Wahrsagen noch das Weissagen ausgestorben; man nett es nur schicker. Für uns bei schoengeistinnen.de ist aber etwas anderes interessanter, nämlich ein gravierender Unterschied zwischen beiden Worten und den ihnen korrelierten Phänomenen: Weissagende nämlich sind bei Goethe (und vielleicht ja auch anderswo?) weise Männer, Philosophen, Propheten, berühmte Astrologen, die antiken Leber- und Vogelbeschauer, notfalls auch: begnadete Prognostiker und Menschenkenner (sogar den Dichtern traut er ein wenig Wahrsagerei zu!). Wahrsagerinnen hingegen sind – Frauen. Sie sind nicht weise, sondern sagen nur die Wahrheit (und das ist natürlich irgendwie komisch in seiner Ambivalenz). Wahrsagerinnen treten dabei in zwei Formen auf, nämlich als Hellseherinnen und als Zigeunerinnen (sorry, heißt so bei Goethe und in der Literatur seiner Zeit), oft genug auch beides zusammen (na gut, eine Ausnahme: Kassandra. “Leider muss man nur meistenteils verstummen, um nicht, wie Cassandra, für wahnsinnig gehalten zu werden, wenn man das weissagt, was schon vor der Tür ist“; Goethe meint die Französische Revolution, nicht ein Pferd). Warum kein einziger männlicher Zigeuner in der Weltliteratur eine Gabe zur Hellseherei hatte – ich weiß es nicht, es ist einfach so. Hellsehende Zigeunerinnen hingegen findet man in jedem romantischen Text, der nur halb auf sich hält (der Unterschied zu Goethe jedoch ist, dass der Weimarer Meister gleichzeitig romantisch und realistisch sein kann!)
Dazu eine Geschichte, die sogar ein klein wenig österlich ist. Also: Es tritt in einem realen Festzug vor dem Hof im Jahr 1819 in Weimar eine Zigeunertochter auf (es ist eine Zigeunertochter, weil die sich hübscher machen in einem öffentlichen Festzug als die urromantische Figur der „alten Zigeunerin“). Der später veröffentlichte Text Goethes dazu liefert eine Art laufende Untertitel samt Interpretationsangebot:
„Und fernerhin Zigeuner zeigen an/ Es sei um Ordnung im Reich getan./ Denn wie die Schwalbe Sommer deutend schwebt, /So melden sie, daß man im Düstern lebt, / sind räuberisch, entführen oft zum Scherz, /Wahrsagerinnen, Menschen Geist und Herz“. (gesamter Text steht weiter unten!)
Volles Klischee, keine Frage! Aber da drängt sich auf einmal besagte hübsche Zigeunertochter vor und erhebt im Auftrag ihrer „Schwestern“ das Wort zu ihrer Verteidigung; „nicht ungehört“ solle man sie verdammen! Und dann kommt ein ziemlich kompliziertes Argument, wir versuchen uns an einer möglichst textnahen Zeichendeutung. Denn nicht etwa kennten die Zigeunerinnen auf irgendeine magisch-abergläubische Weise die Zukunft! Vielmehr brennten ihre Augen „lichterloh in Finsternissen / Und erhellen uns die Nächte“. Ist das eine Art Katzen-Nachtsichtigkeit? Nein, wohl eher: eine brennende Leidenschaft, die die Zigeuner-Schwestern in der Nacht, der Stunde der Liebe und der Finsternis, erfasst und sie im wahrsten wörtlichsten Sinne des Wortes: hell-sichtig macht.
Dasjenige aber, was ihre Augen auf eine überirdisch scheinende Weise leuchten und brennen macht, sind nicht „Gold und Perlen und Juwelen“ (das Räuberei-Stereotyp schwebt noch im Raum); nein, es ist etwas halb-Menschliches, Halb-Göttliches, auf jeden Fall jedoch Geschlechtliches: Es ist die „Mutterlieb, so süß vom Throne, / Zu der Tochter, zu dem Sohne“.
Jetzt wird es doch wieder ein wenig dunkel beim Deuten: Die Mutter auf dem Thron ist natürlich die Gottesmutter Maria, die traditionell von den Zigeunerinnen wie Zigeunern besonders verehrt wird, beispielsweise in den berühmten schwarzen Madonnen (das hätte Goethe sicherlich auch gefallen, dem Farbenlehrer). Aber wie kommt Maria zu einer Tochter? Aber warum sollte sie eigentlich keine Tochter haben? Vielleicht starb Marias Tochter ja nicht in Golgatha am Kreuz, sondern nahm das Kreuz der meisten Frauen der meisten (historischen) Zeiten auf sich, nämlich: wurde jung verheiratet, und wenig wurde fortan mehr von ihr gehört? Und vielleicht ist die Mutterliebe insgesamt einfach eine „Gegengabe Gottes“ (so immer noch in den Goethe’schen Untertiteln zum Festzug) speziell für die Frauen, die Schwestern, diejenigen, die immer im Dunkeln stehen und die man nicht sieht? Die Zigeunerinnen aber sehen ins Helle, sie sehen das Helle; sie wenden sich zuerst geblendet ab, und dann wenden sie sich wieder hin, angelockt von der süßen Mutterlieb, die nicht nur auf „Thronen“ wohnt, sondern auch in der „niedren Hütte“.
Das Festzug übrigens, das wurde bisher verdunkelnd verschwiegen, fand nicht nur vor dem Fürsten samt Hof und Landeskindern statt, sondern zu Ehren eines hohen Ehrengastes, der dem Hofe verwandtschaftlich verbundenen Zarin Maria Fjodorowna nämlich (und Goethe war Hofdichter genug, um für diesen würdigen Anlass auch erwartungsgemäß zu liefern). Maria Fjodorowna (und das sei nicht nur nebenbei gesagt, sondern führt zum Kern der Sache) hatte ihrem verstorbenen Zaren-Ehemann acht Kinder geboren, sie war eine der mächtigsten Frauen ihrer Zeit, und sie war berühmt für ihr karitatives Engagement. Es gibt also tatsächlich auch in Goethes Gegenwart hellsehende Frauen in niederen Hütten und in Palästen, die nicht nur weise reden, sondern das Gute tun? Da sieht man, wo man hinkommt, wenn man ausgestorbene Wörter wiederbelebt und Frauen die Wahrheit sagen lässt!
Und fernerhin Zigeuner zeigen an
Es sei um Ordnung in dem Reich gethan.
Denn wie die Schwalbe Sommer deutend schwebt,
So melden sie daß man im Düstern lebt,
Sind räuberisch, entführen oft zum Scherz,
Wahrsagerinnen, Menschen Geist und Herz.
Zigeuner-Tochter tritt vor.
Schwestern, wir wollen es nicht ertragen,
Wir wollen auch ein Wörtchen sagen.
(Zur Gesellschaft.)
Eure Gnade sei zu uns gekehrt!
Ihr verdammt uns nicht ungehört.
Werde wahrzusagen wissen,
Nicht weil wir die Zukunft kennen:
Aber unsre Augen brennen
Lichterloh in Finsternissen
Und erhellen uns die Nächte.
So kann unserem Geschlechte
Nur das Höchste heilig deuchten,
Gold und Perlen und Juwelen
Können solcher edlen Seelen
Himmelsglanz nicht überleuchten.
Der allein ist’s der uns blendet.
Aber wenn wir abgewendet
Stehn betroffen, lockt uns wieder
Mutterlieb‘, so süß vom Throne,
Zu der Tochter, zu dem Sohne;
Doch sie steigt vom Throne nieder
Und beseligt niedre Hütte;Kennet Wunsch, Bedürfniß, Bitte,
Längst bevor sie ausgesprochen,
Allem, allem thut sie G’nüge.
Dafür leuchtet aus der Wiege
Ihr ein Knösplein aufgebrochen,
Eine Gegengabe Gottes!
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