Eine osteuropäische Geschichten über Frauenweisheit, Gattenwahl, Strohschuhe und eiserne Tische
Die Geschichte spielt in einem osteuropäischen Land, und sie berichtet von unruhigen Zeiten. Ihr Wahrheitsgehalt lässt sich nicht recht ergründen, vieles in ihr klingt wundersam und übermütig. Heute würden einige leichthin von Fake News sprechen. Aber sind nicht alle Geschichten, wenn sie irgendwie interessant und bedeutend sind – alternative Fakten? Sind nicht die Mythologie aller Kulturkreise unbestätigte Geschichten, weitergereicht von Ohr zu Ohr und von Hand zu Hand und dabei immer wieder verändert und so lange abgeschliffen, bis sie ganz rund und golden glänzen vor lauter Bedeutung und Symbolik? Wie diese Geschichte, die in einem osteuropäischen Land und in unruhigen Zeiten spielt, aber mit einem kleinen, nicht unwesentlichen Unterschied zur heutigen bewegten Gegenwart: Sie handelt von einer herrschenden Frau und Landesmutter; und sie erzählt den Gründungsmythos einer Nation, der nicht auf Gewalt und Völkermord und Vergewaltigung aufgebaut ist (wie bei Homer), sondern auf weiser Frauenherrschaft, ein wenig List bei der Gattenwahl und der Bescheidenheit eiserner Tische. Erzählt und wiedererzählt haben sie, von frühen böhmischen Chroniken des Mittelalters an, viele Dichter; Opern und Schauspiele tragen ihren Namen, Märchen und Gedichte. In allen Versionen schillert die Geschichte ein wenig anders, und es wäre verführerisch, all diesen Spuren nachzugehen (in einer Version hat die Herrscherin Libussa zum Beispiel eine wehrhafte Leibwache aus lauter Frauen, die sie nicht von ihrer Seite lässt!). Aber dieses ist das Internet, das Medium der kurzen Geschichten, in einer Zeit begrenzter Aufmerksamkeitsressourcen. Deshalb kommt jetzt das Kurzreferat der Herder-Version aus seiner multikulturellen Volksliedsammlung. Dort trägt es den Titel „Eine böhmische Geschichte“.
Erzählt wird also die Geschichte Libussas, der dritten, schönsten und weisesten Tochter des legendären Königs Krok in Böhmen. Gegen einigen Widerstand hatte er sie vor seinem Tod als Nachfolgerin eingesetzt, und das geht auch eine Zeitlang gut – jedenfalls solange, bis sie sich mit einem Oligarchen anlegt. Bei Herder klingt das so:
Wer ist Jene, die auf grüner Heide
Sitzt in Mitte von zwölf edeln Herren?
Weise Tochter, Böhmenlandes Fürstin,
Aber itzo spricht sie scharfes Urteil
Rotzan, einem Reichen. Und der Reiche
Fähret auf im Grimme, schläget dreimal
Mit dem Speer den Boden und ruft also:
»Weh uns, Böhmen, weh uns, tapfre Männer!
Die ein Weib verjochet und betrüget,
Lieber sterben als dem Weibe dienen.«
Die schönste Frauenfeindlichkeit also; lange Haare, kurzer Sinn, jaja, alles schon dagewesen, und: „Lieber sterben als dem Weibe dienen!“ Aber der Oligarch macht seine vielversprechende Drohung leider nicht wahr, sondern es ist an Libussa als weiser Frau, ihm zuzuhören und einen diplomatischen Ausweg zu finden, auch wenn es innerlich kocht:
Und Libussa hörts und ob es freilich
Tief sie kränkt in ihrem stillen Busen,
Denn des Landes Mutter, aller Guten
Und Gerechten Freundin war sie immer;
Dennoch lächelt sie und redet gütig:
»Weh denn euch, ihr Böhmen, tapfre Männer,
Daß ein lindes Weib euch liebt und richtet;
Sollet einen Mann zum Fürsten haben,
Heute pflegen wir die Geier „Falken“ zu nennen, jedenfalls wenn sie sich in der männlichen Kriegspolitik herumtreiben, und das ist nicht nett gegenüber dem Falken, der ein recht hübscher Vogel mit einem geradezu pausbäckig-gutmütigen Gesichtsausdruck ist, und was kann er dafür, dass er Mäuse jagen muss? „Tauben“ hingegen – nun ja, ein wenig langweilige Tiere, aber tatsächlich friedlich, und dafür muss man sie loben. Leben auch in ehelicher Treue ihr kurzes Taubenleben lang und sind Vegetarier. Libussa aber hat während dieser Digressionen in die Ornithologie nachgedacht und ist auf eine Idee gekommen. Denn sie verkündet, dass sie nun endlich gewillt sei, den Bund der Ehe einzugehen, um dem Land einen männlichen Herrscher zu bescheren:
»Morgen ist der Tag, wenn ich euch rufe,
Sollt ihr haben, was ihr wünschet.«
Alle Blieben stumm und tiefbeschämet stehen,
Fühlten alle, wie sie übel lohnten
Ihrer Treu‘ und Mutterlieb‘ und Weisheit;
Doch gesprochen wars und alle lüstern
Auf den Morgen, auf den Mann und Fürsten,
Gehn mit hellen Haufen auseinander.
Nun ist eine kleine Lücke in der Geschichte, so wie sie Herder erzählt. Er berichtet nämlich ganz grob nur davon, dass Libussa viele reiche und mächtige Bewerber schon abgewiesen hatte: „Wollte nie sich Hand und Thron verkaufen“! Anderen Quellen wissen hingegen, dass Libussa sich schon einmal verliebt hatte; in einen gewissen junge Premysl nämlich, dem sie auch ein Paar weiße Stiere verehrt hatte und dann zurück aufs Land geschickt, wo er sich nun einer magisch unterstützten Produktivität hingab. Aber die kluge Libussa hatte von ihrem Vater nicht nur die Weisheit, sondern auch die Gabe der Weissagung geerbt; und so verkündet sie nun den erwartungsvollen Männern und Fürsten am nächsten Morgen:
»Auf! wohlauf ihr Böhmen, tapfre Männer,
Hinterm Berge dort, an Bila’s Ufer
Soll mein weisses Roß den Fürsten finden,
Der Gemahl mir sey und Stammes Vater,
Fährt da emsig mit zwei weissen Stieren,
In der Hand die Ruthe seines Stammes,
Und hält Tafel da auf eiserm Tische.
Eilet, Kinder, Schicksalsstunde eilet.«
Die tapfren Männer packen Königsmantel und Krone, eilen weisungsgemäss zu den Rossen, machen sich auf den Weg und folgen dem weißen Pferd ihrer Herrscherin:
Bis an Bila’s Ufern überm Berge
Stand das Roß und wiehert einem Manne,
Der den Acker pflüget. Tiefverwundert
Stehen sie. Er schreitet in Gedanken,
Pflüget emsig mit zwei weissen Stieren,
Denn gefunden haben sie (vielmehr das kluge Pferd) – besagten Premysl, sein Name bedeutet der „Denker“, und als solcher erweist er sich auch gleich (im Hintergrund riecht es ein wenig nach Philosophenkönig, nicht nach magischem Stierdung). Denn er will eigentlich gar nicht König werden, und wenn es schon unbedingt sein muss, dann will er erst seinen Acker fertig pflügen und sein Mittagsmahl auf dem eisernen Tisch seines Pfluges einnehmen! Die Mahlzeit immerhin wird ihm nicht verwehrt, und er lädt sogar die Gesandten noch zum frugalen Mahl an der neuen, eben: eisernen Fürstentafel ein (es folgen noch ein paar Prophezeiungen, die weißen Stiere entschwinden in den Lüften, alles nicht wichtig für uns heute und hier). Beim Aufbruch stellt sich dann heraus, dass die Gesandten neben Mantel und Krone auch noch schicke Schuhe mitgebracht hatte; der Denker wehrt jedoch ab:
»Lasset, ruft der Fürst vom weissen Rosse,
Laßt mir meine Schuh von Lindenrinde,
Und mit Bast von meiner Hand genähet,
Daß es meine Söhn‘ und Enkel sehen,
Wie ihr Königsvater einst gegangen!«
Küßt die Schuh und barg sie in den Busen.
Am Ende werden die Liebenden vereint, und das Volk ist zufrieden, nachdem jetzt endlich ein Mann im Hause ist. Als Doppelspitze regieren Libussa und Premysl „gut und froh und lange, gaben treffliche Gesetz‘ und Rechte“, und die Pflugschar ruhte nicht im fleißigen Lande (von Gewehren hingegen ist nicht die Rede). Und so war, wie es sich in einem Märchen gehört, am Ende alles, alles gut – bis auf einen Nachsatz, den Herder, abgetrennt durch tiefsinnige Sternchen, anfügt (die Moral daraus zu ziehen, überlassen wir der geneigten Leserin, sie ist nicht unaktuell):
***
Und die armen Schuhe sind gestohlen,
Und der Eisentisch ist güldne Tafel.
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