Eigentlich war ich dabei, Die Zeuginnen von Margaret Atwood zu lesen, doch dann kam Elena Ferrante dazwischen! Kürzlich erschien der vierte Band der neapolitanischen Familiensaga als Taschenbuch und ich hab Margaret Atwood noch einmal zur Seite gelegt. Schon die drei vorherigen Bände von Elena Ferrante hatte ich regelrecht verschlungen. Nach über 2.000 Seiten ist die Familiensaga über die Protagonistin Elena Greco mit Band vier nun zu Ende erzählt. Ich fühle mich erfüllt und leer zugleich, denn ich konnte gar nicht anders, als es empathisch-identifikatorisch zu lesen – ich hab miterlebt, mitgefühlt und mitgedacht. Ein ganzes Menschenleben ist mit den Seiten an mir vorbeigerauscht. Nun muss ich die mir bekannt gewordene Figur und deren Leben wieder loslassen. Das ist gar nicht so einfach und ich glaube, Elena Greco wird noch lange in meinem Kopf bleiben, vielleicht sogar ein Leben lang. Dieses Gefühl beim Leser zu erzeugen, ist eine Kunst und eine Gabe zugleich – nicht umsonst ist Elena Ferrante mittlerweile eine international gefeierte Autorin. Vor einiger Zeit hab ich bereits Band 1 rezensiert. https://schoengeistinnen.de/elena-ferrante-und-die-frauenliteratur
Die vier Bände sind chronologisch gegliedert von der Kindheit und Jugend (Band 1) über Heirat, Berufsfindung und Familiengründung (Band 2/3) bis hin zum Leben einer reifen Frau (Band 4). Wem diese Aufzählung als belanglos erscheinen mag, der wird über die Kraft der Gedanken, Worte und der Geschichte selbst eines Besseren belehrt. Denn Elenas Weg ist keinesfalls einfach, noch belanglos. Ihr Weg enthält Irrwege, Sackgassen und führt doch immer ein bisschen weiter, denn die Protagonistin lernt aus ihren Fehlern und entwickelt sich stets weiter. Der Roman ist eine ständige Reflektion über das eigene Handeln, das Verhalten der Mitmenschen sowie der wirtschaftlichen und politischen Lage Italiens ab den 1950er Jahren. Er erinnert an einen Bildungsroman in der Tradition der Aufklärung, da er an den Bildungsbegriff des 18. Jahrhunderts anschließt. Er steht damit in der Tradition eines Wilhelm Meisters von Goethe, der „Jugend-, Wander- und Meisterjahre“ der männlichen Hauptfigur erzählt. Bei Elena Ferrante ist es die Geschichte einer Frau. Es handelt sich um eine Frau namens Elena Greco, die mehrere Lebenswelten geschickt miteinander zu verbinden versucht, die daran arbeitet, die eigenen Fähigkeiten auszubauen und aus den prekären Verhältnissen ihrer Eltern dank ihres scharfen Verstandes auszubrechen. Es ist die Suche, das Finden und das Verlieren von Freundschaft und Liebe, es ist die Suche nach einem Platz in dieser Welt – beruflich als Autorin (die Protagonistin Elena Greco ist Schriftstellerin wie auch Elena Ferrante), als Frau und Geliebte, als Mutter sowie – und das ist ganz wichtig – auch als Freundin. Denn die Lebensgeschichte von Elena Greco erzählt sich nur in Verbindung mit ihrer „genialen Freundin“ Lila.
Zwei Seelen wohnen ach! in meiner Brust
In Lila vereinen sich für Elena seit der Kindheit beste Freundin und größte Konkurrentin zugleich. Lila ist für Elena Seelenverwandte und ihr größter Gegenpol gleichermaßen. Sie motiviert Elena und ist ebenso die größte Kritikerin. Elena ist stets auf der Suche nach dem richtigen Verhältnis von Nähe und Distanz zu ihrer Freundin und schwankt dabei von Faszination über Liebe und Verbundenheit bis hin zu Neid und Hass. Ihr Lebensweg wäre ohne Lila vermutlich ein komplett anderer gewesen. Elena wird getrieben durch ständiges Vergleichen, sie will gefallen, will besser sein und hat Sorge, die Schwächere und Dümmere zu bleiben. Sie ist durch und durch mit Selbstzweifeln behaftet – gleichzeitig ist das ihr größter Antrieb zu Spitzenleistungen. Dass sich zwei Freunde in der Art aneinander abarbeiten können, das ist vermutlich nur Frauen bekannt. In gewisser Weise ergänzen sie sich perfekt und jede wäre ab und zu gerne wie die andere und kann doch nicht aus ihrer Haut. Ich fühle mich auch hier an Goethe erinnert – diesmal an den Faust-Stoff: „Zwei Seelen wohnen, ach! In meiner Brust, Die eine will sich von der anderen trennen; Die eine hält, in derber Liebeslust, Sich an die Welt mit klammernden Organen; Die andere hebt gewaltsam sich vom Dust Zu den Gefilden hoher Ahnen.“ Faust steckt bei Goethe in einem seelischen Dilemma zwischen dem Streben nach Tugendhaftigkeit und dem Drang, sinnlichen Freuden nachzugeben. Bei Ferrante stellen beide Frauenfiguren eine eigene innere Welt dar, die aber eine Einheit bilden – sie sind ein Konglomerat aus zwei Körpern und zwei Seelen, die ohneeinander nicht existieren können oder wollen. Ihre beiden Seelen und Körper scheinen unsichtbar miteinander verbunden zu sein, was ebenfalls wie in Goethes Faust zu seelischen Dilemmata führt. Das macht beim Lesen einen besonderen Reiz aus, da man sich in Lilas Faszination für das Böse, in ihren Nihilismus einfinden kann und ebenso Elenas Optimismus, Wissensdurst und ihrer Gefallsucht folgen kann. Unsere Seele ist ein weites Feld und darf sich hier beim Lesen mit zwei Gedankenwelten identifizieren.

Kitschige Cover
Bitte lasst Euch beim Kauf der Bücher von den furchtbar kitschigen Covern nicht abschrecken. Sie werden dem Inhalt nicht gerecht. Man assoziiert, es handle sich um Rosamonde Pilcher, während ich gerade Vergleiche mit Goethe heranziehe (gewiss ohnehin eine gewagte These, aber man darf Goethe auch mal vom Dichterthron holen). Eines sei vorweggenommen für alle, die die Familiensaga noch lesen werden: Nichts ist so, wie es ursprünglich scheint. Positionen werden im Alter (in Band 4) überdacht, neu be- und gewertet. Für mich liegt genau darin die erzähltechnische Stärke des Werkes, denn es ist ähnlich wie das Leben selbst – man gewinnt (hoffentlich) mit zunehmenden Alter an Reife und damit an klugen Einsichten. Doch damit kann nicht jede Kluft im Leben überwunden werden, mit manchen Brüchen muss man leben. Älterwerden ohne Narben ist nicht möglich, aber sie als Teil von einem anzuerkennen, den Schmerz zu überwinden, die eigene Fehlbarkeit zu akzeptieren und es künftig besser machen zu wollen – das könnte helfen und ist vielleicht ein bisschen Lebensweisheit.
Comments: no replies