(vgl. zur Handlung von Goethes Trauerspiel ‚Faust‘ und dessen Entstehung die am Ende des Beitrags auszugsweise zitierten Wikipedia-Artikel https://de.wikipedia.org/wiki/Faust._Eine_Tragödie.; https://de.wikipedia.org/wiki/Susanna_Margaretha_Brandt ) sowie die auf folgender Homepage versammelten Beiträge zu Verständnis, Interpretation und Rezeption: www.goethesfaust.com
„Das Kleine mir dann an die rechte Brust“ – die Gretchentragödie im ‚Faust‘
Gretchen ist, aus moderner Perspektive, nicht direkt eine emanzipierte Frau, sie ist eher das Gegenteil. In Goethes Faust, wohl dem berühmtesten Trauerspiel deutscher Sprache, wird die Minderjährige von dem reichlich älteren Faust verführt, und zwar ziemlich rasant: Er schenkt ihr einen netten Schmuck, besorgt ihr (assistiert von Mephisto) ein Schlafmittel für die Mutter, die daran prompt für immer entschläft; Gretchen wird nach erfolgter Verführung ebenso prompt schwanger, ertränkt das Kind aus Scham in einem Teich, wird dafür zum Tode verurteilt wurde und gibt sich am Ende willig dem Gericht Gottes anheim. Die sogenannte ‚Gretchen-Tragödie‘ nennt man das, aber im Mittelpunkt des Interesses an Goethes Hauptwerk stand eigentlich immer nur einer: Faust, der große Mann, der sich dem Teufel verschworen hat, um endlich nicht mehr nur noch griesgrämig in seiner Stube über das Leben nachzudenken, sondern es zu erleben; dieser Faust, National- und Identifikationsfigur seit Jahrhunderten, der als erstes ein unschuldiges Mädchen verführen muss, das ihm zufällig im falschen Moment über den Weg gelaufen ist. Gretchen hingegen, eine maximal nicht-emanzipierte Frau, ist das perfekte Opfer. Sie ist aufgewachsen ohne Vater und hat ihre kleine Schwester erzogen, als ihre Mutter schwer erkrankt war. Sie himmelt Faust großäugig an: „Du lieber Gott! was so ein Mann / Nicht alles, alles denken kann! /Beschämt nur steh ich vor ihm da / Und sag zu allen Sachen ja. /Bin doch ein arm unwissend Kind, /Begreife nicht, was er an mir findt“. Sie ist tiefgläubig und denkt immer nur das Beste von den Menschen. Als man am Dorfbrunnen mal wieder darüber herzieht, dass ein Bärbelchen nun auch gefallen ist, verteidigt Gretchen sie: Der Verführer nehme sie doch gewiss zur Frau! Ja, Pustekuchen. Natürlich nimmt Faust sie genauso wenig zur Frau. Er hat ja schon alles bekommen, was er wollte, und die Gewissensnöte, die ihn am Ende ein wenig drücken, sind ungefähr so lästig wie ein neuer und noch nicht eingelaufener Schuh. Sie verschwinden auch so schnell wieder, wie sie gekommen sind, als Gretchen im Kerker zum ersten Mal ihr eigenes Schicksal in die Hand nimmt und seinen Vorschlag, mit ihm zu fliehen energisch abweist: Sie ist längst so gut wie tot, gesellschaftlich tot, moralisch tot und psychisch massiv traumatisiert. Vielleicht ist es die rührendste Stelle dieser ganzen Gretchen-Tragödie, die so selten gegenüber der Faust-Tragödie zu ihrem Recht kam, weil der Schatten der Tragödie des ‚großen Mannes‘ sie bis in den Kerker hinein erstickte; vielleicht ist es die rührendste Stelle, als Gretchen am Schluss, im Angesicht des Todes, Faust eine Grabordnung anweist: Der Mutter solle er den besten Platz geben (der Mutter! sagt die „Kindsmörderin“; zu den „Müttern“ müsse man gehen, orakelt es im zweiten Teil des Fausts); den Bruder, den der Verführer getötet hat, weil er die Ehre der Schwester verteidigen wollte, gleich daneben. Und sie selbst, doch, sie bittet sehr herzlich, „ein wenig bei Seit, nur nicht gar zu weit“. Sie möchte dabei sein, im Tod noch, aber sie weiß, dass sie es nicht darf. Das Kind jedoch, das tote, möge man ihr an die rechte Brust legen. Man stelle sich die Szene vor, bildlich, der Kerker kann gar nicht düster und kalt und unmenschlich genug sein. Das geht über alle Worte.
„wurde ihr durch einen Streich der Kopf glücklich abgesetzt“ – die Kindsmörderin Susanna Margaretha Brandt als Vorbild für Gretchen
Der junge Goethe hat die Figur und Geschichte seines Gretchens nach einer realen Kindsmörderin modelliert: Susanne Margaretha Brandt, eine Soldatentochter und Waise, verdiente sich ihren Lebensunterhalt in einer Frankfurter Wirtschaft, wo sie – vielleicht kommt daher die Idee mit dem Schmuck? – von einem durchziehenden holländischen Goldschmiedegesellen verführt wurde. Es besteht der begründete Verdacht, dass er dabei ein date rape drug verwendet hat; sie berichtete später bei der Vernehmung, sie habe sich nach dem getrunkenen Wein sehr seltsam gefühlt, so, als habe der Teufel seine Hand im Spiel gehabt (sehen wir Mephisto vor uns, wie er Gretchen das Pülverchen für ihre Mutter unterschiebt?). Die Schwangerschaft blieb unbemerkt, trotz mehrerer Arztbesuche, vielleicht wollten sie ja das Allzu-Sichtbare nicht sehen. Das Kind brachte sie in der Waschküche zur Welt, allein, wie die meisten ‚Kindsmörderinnen‘, so weit jenseits einer ärztlichen Betreuung oder eines freundlichen Gebärhauses, wie man nur sein kann. Sie sagte aus, das Kind sei mit dem Kopf voran auf den Steinboden gefallen. Sie habe in Panik nach seinem Hals gegriffen, danach wird die Aussage etwas unklar, am Ende jedenfalls war das Kind tot und Susanne versteckte es an einer Mauer hinter dem Haus und floh. Ihr Geld reichte aber nicht aus, sie musste zurückkehren nach Frankfurt, krank, verzweifelt, ohne jeden Ausweg. Dort war das Kind inzwischen schon begraben worden, man grub es wieder aus und angesichts des winzigen Leichnams brach sie zusammen und gestand. Das Verfahren war kurz, das in solchen Fällen übliche Todesurteil erging, und ein halbes Jahr nach der Geburt bestieg Susanna Margaretha Brandt das Schafott auf der Frankfurter Hauptwache: „Der Nachrichter führte die Maleficantin mit der Hand nach dem Stuhl, setzte sie darauf nieder, band sie in zweyen Ort am Stuhl fest, entblößte den Hals und kopf, und unter beständigem zurufen der Herren Geistlichen wurde ihr durch einen Streich der Kopf glücklich abgesetzt.“ Und Glück hat sie noch gehabt! Es war noch gar nicht allzu lange her, dass die ‚menschenfreundliche‘ Aufklärung die vorher in Kindsmord-Fällen übliche Todesstrafe durch Steinigen, Pfählen, lebendig Begraben (nacheinander, manchmal auch noch ergänzt um Zwicken mit glühenden Zangen)– durch das einfache Köpfen ersetzt hatte (es war aber technisch gar nicht so einfach vor der Erfindung der Guillotine, aber hier wird die Geschichte einfach zu schauerlich).
Kindsmord, Hurenstrafe und ewige Verdammung? – das unlösbar Dilemma der „Kindsmörderinnen“
Der junge Goethe, selbst Jurist und gut vernetzt in Frankfurter Juristen- und Ärztekreisen, ließ sich die Prozessakten zukommen; der Fall interessierte ihn. In dieser Zeit entstand sein Urfaust, der erstmals die alt hergebrachte Faust-Geschichte um eine Gretchen-Tragödie ergänzt. Und das ist nun eine wirklich bemerkenswerte Kombination. Sie stellt die Urtragödie um den allzu intellektuellen, an allem zweifelnden Mann der der allzu liebenden, bedingungslos vertrauenden Frau gegenüber. Der Gedanke, die Geschlechterrollen umzukehren, ist heute verlockend, war aber selbst für Goethe, der später durchaus kluge und emanzipierte Frauen gestalten konnte, nicht denkbar. Nein, hier kam es auf Extreme an, auf Typen, auf maximale Zuspitzung zu dramatischen Zwecken! Und das Aufgreifen der Kindsmord-Geschichte ist in diesem Zusammenhang eine geradezu geniale, wenn auch ein wenig skrupellose Idee: Denn der Kindsmord ist das archetypische Frauendrama schlechthin. Eine Straftat, die – in der engeren Form des Neonatizids, also der Tötung direkt im Anschluss an die Geburt – beinahe nur Frauen begehen. Eine Straftat, bei der die mildernden Umstände und die mangelnde Einsichts- und Urteilsfähigkeit der Täterinnen direkt ins Auge springen: Die meisten Kindsmörderinnen im 17. und 18. Jahrhundert waren wie Susanne Margaretha Brand von niederem gesellschaftlichen Stand, unausgebildet, unwissend, abhängig im höchstem Maße, immer bedroht von Armut und Elend. Ist es ein Wunder, dass ihnen selbst ein Goldschmiedegeselle das Blaue vom Himmel herunter versprechen konnte, um sie wenigstens für diese eine Nacht – und dann natürlich für die spätere Ehe, versprochen! – zu erlösen? Ja, Pustekuchen. Und niemals wird der Mann bestraft, der zur Zeit der Geburt meist lange schon das Weite gesucht hat. Alle Handlungsalternativen jedoch – sind versperrt, durch die Gesetzgebung selbst. Würde die schwangere Frau nämlich ihren Zustand einem Familienmitglied, einem Beichtvater, wem auch immer enthüllen – würde sie angezeigt werden, ‚Unzuchtsstrafe‘ oder ‚Hurenstrafe‘ nannte man das, und sie bestand in öffentlicher Schande, Auspeitschen, an den Pranger stellen – was war schlimmer, der Tod oder diese Tortur? Nein, die ‚Unzuchtsstrafe‘ trieb die Mädchen direkt dem Kindsmord in die Arme; wenn das sichtbare Zeugnis verschwinden würde, würde auch das Vergehen verschwinden. Ach, es verschwand allzu oft nicht. Kann man sich vorstellen, in welcher Situation diese Frauen waren? Arm, ungebildet, sexuell unaufgeklärt, mutter-seelen-allein, wahrscheinlich auch mitgenommen von der Schwangerschaft (schließlich mussten sie weiterarbeiten, auf dem Land, in der Wirtschaft). Für viele mag sogar, wie für Gretchen, die erlebte Schande das Schlimmste gewesen sein: Denn natürlich waren diese Frauen tiefgläubig, und für ihren Fall würden sie ganz gewiss auf ewig in der Hölle schmoren! Schließlich, das Kind – ach, an das Kind durfte man gar nicht denken. Daran, dass etwas in einem wuchs, was man nicht verstand. Daran, dass es das einzige war, was der Verführer zurückgelassen hatte, und vielleicht – hatte man ihn ja für eine Nacht geliebt, selbst wenn er ein komischer alter Mann war wie dieser Faust, bei dessen optischer Verjüngung der Teufel die Hand im Spiel gehabt hatte. Gretchen ist die andere Seite von Faust; sie ist das Elend der Welt, konzentriert in einem Schicksal – keinem von übermütigen jungen Dramatikern ausgedachten Sensationsstück, sondern einem realen, fatalen, ausweglosen Schicksal. „Heinrich, mir graut‘s vor dir!“, das sind Gretchens letzte Worte an Heinrich Faust, und sie sind sehr, sehr nachvollziehbar.
Faust. Eine Tragödie. (auch Faust. Der Tragödie erster Teil oder kurz Faust I) von Johann Wolfgang von Goethe gilt als das bedeutendste und meistzitierte Werk der deutschen Literatur. Die 1808 veröffentlichte Tragödie greift die Geschichte des historischen Doktor Faustus auf und wird in Faust II zu einer Menschheitsparabel ausgeweitet.Im Allgemeinen wird „Faust I“ als Verbindung der „Tragödie des Gelehrten Faust“ mit der „Gretchentragödie“ betrachtet.
Inhalt:
Heinrich Faust, wie sein historisches Vorbild Johann Georg Faust (ca. 1480–1538) ein nicht mehr junger, aber angesehener Forscher und Lehrer zu Beginn der Neuzeit, zieht eine selbstkritische Lebensbilanz. Er ist beruflich und privat durch und durch unzufrieden: Als Wissenschaftler fehle es ihm an tiefer Einsicht und brauchbaren Ergebnissen und als Mensch sei er unfähig, das Leben in seiner Fülle zu genießen. Tief deprimiert und lebensmüde geworden, verspricht er dem Teufel Mephisto seine Seele, wenn es diesem gelingen sollte, Faust von seiner Unzufriedenheit zu befreien und für stetige Abwechslung zu sorgen. Mephisto schließt mit Faust einen Pakt in Form einer Wette. Der Teufel Mephisto, dem neben Zauberkräften auch Humor und Charme zu Gebote stehen, ist bestrebt, Faust vom rechten Weg abzubringen. Er verwandelt ihn zurück in einen jungen Mann, nimmt ihn mit auf eine Reise durch die Welt und hilft ihm, die Liebschaft mit der jungen Margarete (Gretchen) einzufädeln, einer naiven, sehr jungen Frau, in die sich Faust sofort verliebt, nachdem ihm Mephisto einen Zaubertrank übergeben hat. Faust richtet die junge Frau zugrunde, indem er sie verführt und dabei schwängert und indem er den Tod von Gretchens Mutter und Bruder herbeiführt. Gretchen bringt ein uneheliches Kind zur Welt, tötet es, aus Verzweiflung halb wahnsinnig geworden, und wird daraufhin verhaftet. Faust will sie mit des Teufels Hilfe vor der Hinrichtung retten; er versucht vergeblich, sie zur Flucht zu überreden, kann sie aber nicht vom Wahnsinn erretten. Er muss sie schließlich ihrem Schicksal und der Gnade Gottes überlassen.
Hintergrund:
Susanna Margaretha Brandt (* 8. Februar 1746 in Frankfurt am Main; † 14. Januar 1772 ebenda) war eine Frankfurter Magd, die Goethe zusammen mit dem Fall Maria Flint als Vorbild für die Gretchentragödie in seinem Faust diente. Sie tötete ihr neugeborenes Kind und wurde dafür zum Tode verurteilt und hingerichtet.
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