Samantha Harveys Roman Umlaufbahnen
Siehst du manchmal des Nachts zum Himmel empor? Und da, da bewegt sich ein kleiner gelber Punkt, er leuchtet etwas heller als die meisten Sterne (du solltest eigentlich wenigstens ein paar Sternbilder kennen, aber meist findest du doch nur den Großen Wagen), und er bewegt sich. Er bewegt sich erstaunlich schnell, aber er ist kein Flugzeug; nein, du weißt (die App auf deinem Handy hat es dir verraten), es ist die ISS: die International Space Station auf ihrem Weg durch den Orbit. 16mal am Tag umkreist sie die Erde mit einer Geschwindigkeit von 28.000 km/h. Bei dem Gedanken wird dir ein wenig schwindlig; aber halte den Blick fest, folge noch einen Moment ihrer Bahn: Sie ist nicht ganz kreisförmig, wie alle Umlaufbahnen im niedrigen Orbit, sondern elliptisch. Und dann gehst du hinein, ins warme Wohnzimmer, und nimmst ein Buch zur Hand: Umlaufbahn heißt es, es ist ein Roman von Samatha Harvey, und er wurde gerade mit dem Booker-Preis ausgezeichnet.
Leider ist die Doppeldeutigkeit des englischen Originaltitels Orbital nicht übersetzbar: Orbital ist sowohl die Umlaufbahn selbst als auch ein Adjektiv mit der Bedeutung „kreisförmig“; er meint also die Sache und die mit ihr verbundene Bewegung. Und während der Roman vier Astronauten und zwei Kosmonauten (das erste ist die westliche, und das zweite die russische Bezeichnung; und immer beide zu nennen, ist nicht nur sprachpolitische Korrektheit, sondern macht ein unterschiedliches Gefühl beim Lesen und Denken!) dabei beobachtet, wie sie die Erde beobachten, umkreist er in 16 Kapiteln die ISS, diese erste menschengemachte Raumstation, die vergänglich ist wie alles Menschengemachte (2031 wird sie im All abgewrackt). Und wer sich dabei dem Rhythmus der Sprache überlässt, gerät nach einiger Zeit selbst in ein zeitloses Kreisen, in dem die Gegensätze von unten und oben ebenso verschwinden wie die von vorher und nachher: „Ein neuer Tag, aber einer, an dem sie die Erde sechszehn Mal umkreisen. Sie werden sechszehn Sonnenaufgänge sehen und sechszehn Sonnenuntergänge, sechszehn Tage und sechszehn Nächte. Roman sucht am Geländer vor dem Fenster Halt, die Sterne der südlichen Hemisphäre verflüchtigen sich gerade. Ihr seid an die koordinierte Weltzeit gebunden, sagen ihnen die Crews am Boden. Ihr dürft keinen Zweifel daran aufkommen lassen, zu keiner Zeit. Blickt oft auf die Uhr, gebt eurem Verstand einen Anker, sagt euch beim Aufwachen vor: Dies ist der Morgen eines neuen Tages. Ein neuer Tag. Aber einer, der fünf Kontinente mit sich bringt, Herbst und Frühling, Gletscher und Wüsten, Wildnis und Kriegsgebiete“ – das ist die tägliche Perspektive der Figuren im Roman.
Kann man sich das überhaupt vorstellen, zuhause im heimischen Wohnzimmer auf dem Lesesessel? Dieser Zweifel hat auch die Autorin nach ihrem ersten Roman-Entwurf überfallen. Man hat sich Samantha Harvey als eine sehr private Person vorzustellen. Sie hat eigenen Aussagen zufolge kein Handy, keinen social media account, keine Homepage. Zu ihrer Person und zu ihrem Roman kreisen einige wenige, immergleiche Interview-Häppchen im Internet; starke Zitate, zweifellos, aber man wüsste gern mehr. Was man also wissen kann, ist: Samatha Harvey wird nächstes Jahr fünfzig Jahre alt werden. Sie ist geboren in Kent in Südostengland, studierte Philosophie und wurde danach Autorin und Bildhauerin. Heute unterrichtet sie kreatives Schreiben an einer Universität in Bath. Sie hat bisher fünf Romane geschrieben, alle extrem unterschiedlich; und diese Unterschiedlichkeit ist philosophisches Programm. Denn für Harvey ist Philosophie kein akademisches Fach und keine abstrakt-logische Disziplin, sondern eine Art Aufmerksamkeitsfokussierung; dazu ein besonders hübsches Häppchen: „Philosophie nimmt eine Idee und gibt ihr diejenige Aufmerksamkeit, die sie im täglichen Leben selten bekommt. Romane können das auch“. Deshalb wählt Harvey für ihre Romane gern unterschiedliche Welten; es ist ein Versuch, dadurch auch ein unterschiedliches Denken zu erzwingen. Was jedoch alle ihre Romane, bei aller Unterschiedlichkeit des settings eint, ist: ihre Fähigkeit, Prosa zum beinahe lyrischen Klingen zu bringen, eben: eine Umlaufbahn so zu simulieren, dass man mitfliegt und mitschwingt (als Vorbild nennt sie gern Virginia Woolf, und jede Woolf-Leserin versteht das).
Orbital nun hat eine sehr spezielle und etwas längere Entstehungsgeschichte. Sie hängt zum einen damit zusammen, dass das Einzige, was man von Harveys Privatleben erfährt, ist: dass sie längere Zeit, ein Jahr mindestens, an chronischer Schlaflosigkeit litt (dazu gibt es auch einen Text, The Shapeless Unease: A Year of Not Sleeping, dt. als: das Jahr ohne Schlaf, 2020/2022). Und so schaute sie wohl, stellt man sich vor, in den langen schlaflosen Stunden des Nachts in den Himmel schaute; und sie sah einen gelben Punkt, der etwas heller strahlte und – siehe oben! Es gab aber auch die Möglichkeit, die Perspektive umzukehren: nämlich von dem gelben Punkt aus hinunter auf die Erde zu schauen, wie sie vorbeizieht, Kontinente und Ozeane, Wirbelstürme und Korallenriffe, 16mal an einem Tag – über den ISS Livestream nämlich. Und es sind (wie sich jede noch heute überzeugen kann, Link siehe unten) wunderbare, faszinierende, beinahe unwirkliche Bilder, und es sind unendlich viele von ihnen: Denn nichts ist Wandelbarer als die Erde von oben. Und so schaute Harvey, und sie begann zu schreiben, etwas, was sie später ein „space pastoral“ nennen würde (wir kommen darauf zurück); aber nach 5000 Wörtern gab sie auf. Es fühlte sich richtig an, da es nun einmal keine korrespondierende Erfahrung gab und auch niemals geben würde (im Unterschied zu ihren Figuren wollte Harvey niemals eine Astronautin werden). Aber dann kam COVID; und die Zeit begann sich wieder ins Endlose zu ziehen, und der Raum schrumpfte auf das eigene Wohnzimmer. Harvey nahm ihre 5000 Wörter wieder vor – und sie zogen sie so in ihren Bann, dass sie weiterschrieb. Sie informierte sich im Übrigen natürlich auch, wie jede ordentliche Autorin das tut, grundlegend über ihren Gegenstand – die ISS also und ihre temporären Bewohner. Was ziemlich gut möglich ist, weil die ISS eben ein ziemlich öffentliches Unternehmen ist, aufgearbeitet und präsentiert bis in alle Details für Schulklassen ebenso wie für die Spezialforschung aller beteiligten Disziplinen; sogar die Astronauten-Tagebücher sind öffentlich zugänglich, und Harvey zog all das zu Rate. Gerade bei den Aufzeichnungen der Astronauten (und Kosmonauten) jedoch fehlte ihr etwas, das sie als eine Art „metaphysische Lücke, eine magische Erfahrung“ beschreibt – und das nun der Roman, das space pastoral, hinzufügen soll.
Was jedoch ist diese magische, dieses metaphysische Element? Dazu verlassen wir einen Moment die engere Umlaufbahn und machen einen Umweg über einen kleineren, nur noch sehr verhalten leuchtenden Stern: das pastoral nämlich, zu Deutsch: die Schäferdichtung. Ein Genre mit ehrwürdiger Abstammung aus der Antike, als es noch tatsächlich Schäfer und Hirten gab, sie lebten vielleicht sogar im realen Arkadien. Aber der Schäfer-Dichtung ging es nicht so sehr um literarischen Realismus (was überhaupt eine sehr späte Erfindung in der Literaturgeschichte ist); nein, die Schäferdichtung zeigt ein idyllisches Land, das es nie gegeben hat, aber in dem alles gut war – friedliche, schöne, nimmer alternde Menschen lebten in unberührter, maßvoller Natur – murmelnde Bächlein, satte Wiesen, höchstens hügelige Berge – in völliger Harmonie mit derselben. Und wenn sie nicht die wolligen Schäflein hüteten oder mit der schönen Schäferin flirteten (was schon ziemlich viel Zeit in Anspruch nahm), bliesen sie auf der Hirtenflöte einfache, aber harmonisch-schöne Hirtenlieder. Kunst, Natur, Leben und Liebe – alles in perfekter Einheit miteinander, die Tage verflossen kaum spürbar ineinander, kreisten in einer einfachen Umlaufbahn um sehr begrenzte Räume, und gefühlt war immer Frühling. Darüber kann man sich leicht lustig machen, und spätestens seit der Renaissance gab es zur Schäferdichtung auch immer die Satire. Aber Arkadien, wenn wir dem Komplex einmal seinen gängigen Markennamen geben, ist ein zeitloses Menschheitsideal: Es umfasst den Glauben daran, dass alles einmal perfekt war, einen einfachen Sinn hatte und vollendete Schönheit; und die Hoffnung darauf, dass dies vielleicht einmal wieder möglich sein wird. Vielleicht sogar – auf einer Umlaufbahn im Weltall?
Denn das ist die Idee und die erklärte Absicht von Samantha Harvey gewesen: die „Mutter Erde“, als die alle Astronauten (und Kosmonauten) sie irgendwann empfinden, zu zeigen; zu zeigen, dass sie nur ein winziger, unbedeutender Stern im unvorstellbaren Weltall ist, aber unsere einzige Heimat, und dazu von einer nur aus dem All, aus der anderen Perspektive sichtbaren unendlichen Schönheit und Rührungskraft. „Amazement“ nennt Harvey das Gefühl, das sie vermitteln will: Was gleichzeitig die Entzückung, das Hingerissensein, aber auch die Verwunderung und den Schrecken meinen kann – alles genuin ästhetische Empfindungen. Und um die Erde so zu zeigen, muss man sie beschreiben, wie sie vorbeizieht; muss die Namen nennen der Länder und Städte, muss die Linien nachzeichnen, die nicht Grenzen sind, sondern Flüsse und Bergkämme, muss die Flächen ermessen in ihrer Unermesslichkeit und die Wolken, wie sie Muster bilden und Schatten werfen, und muss dem Weg des Super-Taifuns folgen, wie er die flachen Inseln überschwemmt. Es sind Bilder, die man mit Augen nur sehen kann, wenn man auf die Erde als Kugel schaut; im Schul-Atlas bekommt man immer nur zweidimensionale Ausschnitte, die dominanten Linien sind künstliche Ländergrenzen, und im Mittelpunkt ist: Europa.
Der Effekt jedoch, der sich einstellt, wenn man die blaue Murmel vom Weltall aus sieht, ist so durchgehend dokumentiert, dass er sogar einen Namen hat: Overview Effect (immerhin hatte Kant schon eine Vorform, als er zwei Dinge benannten, die ihn mit Ehrfurcht erfüllten: das moralische Gesetz in ihm und der bestirnte Himmel über ihm). Und er evoziert offenbar geradezu zwingend die Erkenntnis: Die Erde ist nur eine, egal, wie viele Länder wir auf ihr unterteilt haben. Sie ist alles, was wir haben. Sie ist selbst ein lebendiges Wesen und unsere Mutter, und wir sind als Kinder und Kreaturen unmittelbar mit ihr verbunden und haben eine Verantwortung ihr gegenüber. So einfach ist das.
Wenn es das nur wäre! Aber immerhin gelingt es Harvey, diesen Effekt in schwacher Form beim Lesen zu erzeugen. Man gerät ein wenig ins Schwärmen, während man innerlich die Bilder aufbaut, die der Roman evoziert, man möchte gleich zum Bildschirm laufen, um den Live Stream selbst zu sehen, oder zum Himmel schauen, wo steht die ISS gerade, bewegt sie sich noch immer so unvorstellbar schnell? (sie muss es, sie würde sonst abstürzen) Aber Harveys Astronauten (und Kosmonauten) machen noch eine weitere Erfahrung, die der Roman zwar ebenfalls in Maßen simulieren kann, aber die noch schwerer vorstellbar ist, weil sie nicht bildlich ist, sondern emotional. Denn die sechs Personen, vier Männer, zwei Frauen, aus unterschiedlichen Nationen (und gerade jetzt erscheint es einem als kein kleines Wunder, dass russische und amerikanische Astro- und Kosmonauten hier zusammenarbeiten und zusammenleben, Tag für Tag), die nach langjährigen Vorbereitungen und harten Trainings neun Monate auf der ISS verbringen, wachsen dabei zusammen zu einer Art – nicht nur Familie, das wäre wieder zu trivial; sondern zu einer Art gemeinsam empfindendem Organismus zusammen. Wenn die Metapher nicht zu abgenutzt wäre, würde man sagen, durchaus auch im technisch-mechanischen Geist der Raumstation: Sie werden zusammengeschweißt. „Zu irgendeinem Zeitpunkt während ihres Aufenthalts im Orbit setzt bei ihnen allen ein starkes Verlangen ein – das Verlangen für immer dort zu bleiben. Aus dem Nichts überfällt sie das Glück. Sie finden es überall, dieses Glück, völlig nichtssagende Dinge und Orte lösen es aus – das Deck für Experimente, die Tüten mit Risotto und Hühncheneintopf, die Paneele mit Bildschirmen, Schaltern und Belüftungen oder auch ihr Gefängnis aus Titanium-, Kevlar- und Stahlröhren – selbst die Böden, die zugleich Wände sind, und die Wände, die auch Decken, und die Decken, die auch Böden sind. … Alles, was davon zeugt, dass sie im Weltraum sind – wirklich alles -, kann diese Glücksanfälle auslösen“. So lässt Harvey ihre Figuren empfinden, alle gemeinsam und jeden für sich.
Und das ist wohl, über den overview effect hinaus, die metaphysische Lücke, die magische Erfahrung, die der Roman vermitteln will: In einer Situation, die einerseits absolut singulär und maximal herausgehoben aus der irdischen Alltäglichkeit ist – und andererseits extrem durchreguliert ist und voller alltäglicher Trivialitäten, schweben die Figuren in einem Raum ohne Orientierung, ohne „Anker für den Verstand“; und ihre Individualität, ihre beträchtlichen persönlichen Unterschiede in Herkunft und Lebensgeschichte, all das löst sich gelegentlich auf in einem unmittelbareren Erleben, das sie tiefer verbindet, als Familienbande es könnten. Das ist Glück. Und man will Arkadien nie mehr verlassen, wenn man es einmal gefunden hat (und sei es beim Anblick von Hühnersuppe).
Muss man jedoch – und das wäre ja immerhin ein kleiner Hoffnungsschimmer für eine durch das All dahintriftende und gelegentlich eher besinnungslos torkelnde Menschheit –, muss man dafür den Planeten verlassen, was ja doch die wenigstens von uns wirklich wollen? Oder wäre es nicht möglich, dass man sich, durch eine mentale Anstrengung wie das Lesen eines space pastorals beispielsweise, klar macht, dass wir diesen einen blauen Planeten haben, der uns das Leben gegeben hat und es uns auch wieder nehmen wird, aber: der unsere Mutter ist, unsere winzige blaue Heimat in der Unermesslichkeit des Universums? Sollten wir uns auf ihm nicht genauso fühlen, wie sechs beliebig ausgewählte Personen auf der ISS, nämlich: zusammengepresst in einer winzigen Heimat auf Zeit in der Unermesslichkeit des Universums? Und dadurch verbunden zu einer Gemeinschaft aus sehr vielen, sehr unterschiedlichen Individuen, die aber zumindest ein Gefühl teilen sollten: das der Ehrfurcht, der Verwunderung, des Hingerissenheit und des Schreckens angesichts der Unwahrscheinlichkeit wie Schönheit des Lebens?
Na gut, das ist viel verlangt für einen kleinen Roman. Aber es ist eine kleine Gerechtigkeit in dieser irdischen Welt der Ungerechtigkeiten, dass Samantha Harvey einen Booker Prize für Orbital bekommen hat. Und jede, die gelegentlich gern zum Himmel aufschaut und dabei einen Abglanz von amazement verspüren zu meint, sollte ihn lesen (vor allem aber: all diejenigen, die das noch nie getan haben!)
Samatha Harvey: Umlaufbahnen (Orbital). Aus dem Englischen von Julia Wolf. Dtv 2024
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