Zu Eva Menasses Gedankenspielen über den Kompromiss
Wann hast du, liebe Leserin, verehrter Leser, das letzte Mal einen echten Kompromiss gemacht? Also nicht einen dieser faulen Deals, die man im täglichen Leben allenthalben macht, sei es mit den aufsässigen Kindern, dem uneinsichtigen Ehe-Gespons, den nervigen Kollegen oder gar: mit dir selbst? Nein, wir meinen einen echten, wahren, harten Kompromiss, in denen beide Seiten etwas von sich aufgeben und, im Idealfall, eine Einigung erreicht wird, auf deren Basis gemeinsames, einverständiges Handeln wieder möglich wird? Oder wenigstens (denn darum wird es im Folgenden vor allem gehen): einen Kompromiss im Denken, bei dem man nicht nur mit den Lippen, sondern auch mit dem Kopf und, idealerweise, sogar mit dem Herzen anerkennt, dass eine andere, der unsrigen entgegengesetzte Ansicht: auch richtig sein könnte (oder, zumindest, bleiben wir ein wenig realistisch: ihre Verdienste in einigen Punkten haben könnte)?
Ach, Kompromisse, sie stehen im Ruf, „faul“ zu sein; kompromisslos ist die moderne Frau, sie steht ihren Mann ohne Abstriche, und Gefangene werden nicht gemacht (gleiches gilt für den Mann, schon immer)! Eva Menasse gibt in ihren Gedankenspielen über den Kompromiss, in denen sie den Kompromiss (den echten, wahren, nicht den faulen!) mit dem Kopf und mit dem Herzen verteidigt, zu, sich bei diesem Bemühen ab und an wie ein „alter weißer Mann“ vorzukommen: „jedenfalls im Unvermögen, den Jüngeren zumindest zu vermitteln, dass sich meine Überzeugungen aus anderen Quellen und einer anderen, hoffentlich ebenso legitimen Lebenserfahrung speisen, und nicht einfach nur aus Bockig-, Bösartig- und Unbelehrbarkeit“. Tatsächlich spricht eine Frau mit gereifter Lebenserfahrung in diesem knappen, äußerst lesbaren und lesenswerten Essay (nebenbei: „Gedankenspiel“ ist ein schönes Synonym für den Essay als solchen!) über den verrufenen Kompromiss; sie ist zudem eine genaue, informierte, kritische Beobachterin der Zeitgeschichte und eine erfahrene Autorin ebenso wie eine eigenständige Denkerin. Und das, was sie sagt, wird vielen nicht gefallen (vor allem den auf Kompromisslosigkeit gedrillten Soldaten und Soldatinnen des Zeitgeistes). Aber versuchen wir es einmal, üben wir uns alle für ein paar Minuten in der unterschätzten, halb schon vergessenen und viel zu wenig analysierten Kunst des Kompromisses!
Dafür müssen wir, und das ist das erste „Gedankenspiel“, wieder lernen, den Gegner (und jede setze jetzt seine Lieblingsgegnerin ein, groß oder klein, privat oder politisch, es macht für Übungszwecke keinen Unterschied!) wieder zu humanisieren. Nicht nur irgendwie abstrakt und zähneknirschend, sondern wirklich und gefühlt: Wer eine andere Meinung zu etwas hat, ist auch ein Mensch, und sie hat eine andere Geschichte und Lebenserfahrung und Perspektive, und darüber sollte man auf Sachebene reden und es nicht denunzieren. Das ist nicht einfach. Das tut weh. „Ein guter Kompromiss, so erleichternd er danach sein sollte, schneidet zuerst einmal auch tief ins eigene Fleisch. Wie mühsam und schmerzlich das ist!“
Wir müssen, zum zweiten, zu unterscheiden lernen zwischen dem, was alte Sprichwörter ebenso wie der neuere Zeitgeist gern als faule Kompromisse denunzieren, und dem schmerzhaften guten Kompromiss, der ins eigene Fleisch schneidet und „unbeliebt, flüchtig und rar wie aussterbende Tierarten“ ist. Dass jedoch die Kompromissfähigkeit derart kompromittiert werden konnte, begründet Menasse – vielleicht etwas arg vereinfachend, aber für unsere Zwecke trennscharf genug – damit, dass sogar in den modernsten säkularisierten Gesellschaften noch sakrale Bedürfnisse und Denkstrukturen überlebt haben (im Moment: im Reservat der „Identitätspolitik“) – was paradoxerweise dazu geführt hat, dass „unsere vermeintlich liberalen Gesellschaften in den letzten Jahren an allen Enden des Spektrums kompromissloser geworden sind“. An allen Enden, das kann nicht genug betont werden, wohnen die Fanatiker des Denkens und Meinens!
Deshalb jedoch, und das erläutert das dritte „Gedankenspiel“, neigen alle modernen Ideologien zu Verabsolutierung und Verallgemeinerung; sakralen oder totalitären Denkstrukturen letztendlich. Wer jedoch Begriffe verbietet und Themen tabuisiert, egal welche und aus welchen Gründen, verbietet das freie Denken. Immer, nicht nur in Diktaturen! Und deshalb holt – und es ist wirklich erfrischend, dass das einmal eine kluge Frau in klaren Worten sagt – die Dialektik unvermeidlich alle diejenigen ein, die meinen, Freiheit durch Verbote begründen zu können: „In den neuen Sprechverboten und den Schlachten, die im Namen der politischen Korrektheit geschlagen werden, erkennt man den Hilferuf nach Anleitung, nach klaren Regeln für alle. Strukturell ist das nicht anders als der Ruf nach dem starken Mann: der Ruf nach der verbindlichen Regel. Alles soll über einen Leisten geschlagen werden, weil die Alternative nicht mehr zu bewältigen scheint: sich jedes Mal auf einen anderen Fall, auf eine andere Differenzierung einlassen zu müssen“. Urteilskraft, das ist es, worauf es ankommt; nicht Korrektheit. Differenzierung, nicht Empörung: „diskutieren, darüber nachdenken, Vor- und Nachteile abwägen zu wollen – das alles geht in dieselbe Richtung: gegen die Vereinfachung und für die Arbeit an der individuellen Antwort. Für das Langwierige, das Nervige, Quälende, Unbedankte, Ruhmlose. Für die vielstimmige, widersprüchliche, einen verrückt machende Demokratie im eigenen Kopf“. Allein dafür, für diese wunderbare Vorstellung der „Demokratie im eigenen Kopf“, lohnt sich die Lektüre dieses Essays!
Menasse gibt aber auch zu, dass die grassierende Suche nach neuen Eindeutigkeiten, nach vermeintlich absolut sicheren Wahrheiten, nach unbestreitbaren Überzeugungen ihre (schlechten) Gründe hat: „unmenschliche Beschleunigung aller Abläufe, die krasse Überforderung des Einzelnen durch Unmengen von Informationen, die dadurch wertlos sind“ – das sind nur einige von ihnen, aber wohl die offensichtlichsten. Nein, wir alle sind überfordert durch die noch immer ansteigende Komplexität selbst der einfachsten unserer eigenen Aktionen, sei es in immer komplizierteren persönlichen Lebensentwürfen oder in einer wirtschaftlich und politisch global immer stärker vernetzten Welt. Eva Menasse gibt nun keine Patentrezepte zur Bewältigung und Reduktion von Komplexität (es gibt sie nicht). Sie sagt nicht, wie man es hinbekommt, so miteinander zu reden, dass man einander wirklich zuhört und aufeinander zugeht und vielleicht, vielleicht zu einer Änderung von festzementiert scheinenden Positionen kommt; sie sagt schon gar nicht, wie ein daraus erwachsendes Handeln aussehen könnte (Probleme, die man politisch gerade gut am Bruch der Koalition studieren konnte, der ein Lehrstück in mangelnder Kompromissfähigkeit war). Im vierten „Gedankenspiel“ weist sie kurz darauf hin, dass die einzigen staatlichen Grenzen, die verallgemeinerungsfähig zu setzen sind, Gesetzestreue und Gewaltverzicht sind.
Aber den Rest der Arbeit muss jeder für sich selbst machen. Dabei hilft vielleicht eine weitere philosophische vernachlässigte Tugend, die Menasse nur kurz erwähnt, aber die seit alters her als Schlüssel- und Generaltugend gilt: die Gelassenheit nämlich. Nicht nur leben und leben lassen, sondern denken und denken lassen. Sogar reden und posten lassen! Das wäre auch ein lohnendes Thema für einige „Gedankenspiele“.
Eva Menasse: Gedankenspiele über den Kompromiss. Literaturverlag Droschl 2020
Comments: no replies