Zur Ausstellung Carpaccio, Bellini und die Frührenaissance in Venedig in Stuttgart
Frauen haben Schönheit, Männer haben Charakter. Dieser – sicherlich etwas fragwürdige – Satz sprang mich an, während ich in Stuttgart in der Neuen Nationalgalerie durch die Carpaccio-Ausstellung bummelte. Das Konzept gibt sich einige Mühe, um der Ausstellung einen kleinen gender-gerechten Dreh zu geben: Denn hatte dieser nicht ganz so bekannte venezianische Maler mit dem Namen einer italienischen Vorspeise (die übrigens nach ihm benannt ist, nicht umgekehrt; der schöne Kontrast von Rot und Weißtönen soll angeblich den kulinarischen Erfinder Cupriani bei der Namensgebung inspiriert haben, der natürlich ebenfalls Venezianer war); hatte nicht dieser Zeitgenosse bekannterer Maler-Persönlichkeiten wie Giovanni Bellini, von dem auch einiges, ziemlich Sehenswerte in der Ausstellung zu sehen ist – hatte also dieser Vittore Carpaccio (um 1465-1525/26) nicht eine ganze Reihe weiblicher Porträts gemalt, dazu die obligatorischen Madonnen in andächtiger Hülle und zahlenmäßiger Fülle? Und hatten seine Frauen (manchmal sogar Maria!) nicht gelegentlich ein Buch in der Hand – also ein eher männlich konnotiertes Objekt, wie es die ebenfalls ausgestellten Gelehrtenporträts gern abbilden, aufgereiht in Regalen und oder isoliert in prächtigen Einzelexemplaren auf dem Schreibtisch? Aber bei genauerer Betrachtung und spätestens ab dem dritten Saal der Ausstellung verfolgte mich die Beobachtung, dass Carpaccios Frauen (aber, um ehrlich zu sein: die von Bellini und den weniger bekannten Zeitgenossen genauso) zu wenig Charakter hatten. Während die Männer geradezu hinreißende persönliche Physiognomien hatten –einige hätten man sofort vom Fleck weg heiraten wollen (oder wenigstens: ein wenig mit ihnen flirten), andere hätte man adoptieren wollen, als Sohn, Vater, weiser Ratgeber, was auch immer –, waren die Frauen flach. Sowohl ästhetisch flach – wenig ausgeprägte Gesichtszüge, ein kaum vorspringendes Näschen unter schmalen, wohlgezeichneten Augenbrauen, sehr milde blickende Augen und ein jugendlich anmutendes, weich gerundetes Gesicht – als auch charakterlich flach: Die legendären zehntausend Jungfrauen der Heiligen Ursula – komplizierte Heiligenlegende, aber gern gemalt und ja auch irgendwie eine ziemlich sensationelle Geschichte! – sehen aus wie Abziehbilder, eine wie die andere sanft, blass, wohlgescheitelt, flach. Lediglich die alten Frauen haben manchmal ein wenig ausgeprägtere Gesichtszüge, und damit eben auch: Charakter! Sie brauchen dazu auch keine Bücher.
Doch beginnen wir am Anfang. Die Ausstellung ist nicht besonders groß, und wie alle Ausstellungen, die nicht allzu viel und schon gar nicht besonders Berühmtes zum Vorzeigen haben, kompensiert sie das mit Text. Das ist nicht unbedingt schlecht und schon gar nicht falsch. Denn die Textarmut manch einer der neueren Super-Ausstellungen mit Leihgaben aus aller Welt und einer überwältigenden ästhetischen Ausstellungs-Choreographie ist schon ziemlich erschreckend; ist es denn wirklich so, dass man nur entweder schauen oder lesen (oder gar denken) kann, und eines schließt das andere kategorisch geradezu aus? Gebt uns ein wenig Informationstiefe, bitte, möchte man gelegentlich flehen zu einem der vielen Heiligen, die sich so dekorativ um die Gottesmutter scharen; irgendeiner wird sich doch dieses Problems als Patron annehmen können! Aber das ist nicht das Problem der Stuttgarter Ausstellung, es wird hier auch nur sehr am Rande erwähnt (und weil es eine gewisse Analogie zum Verhältnis von Schönheit und Charakter hat). Es gibt hier nämlich Text, und er ist sogar größtenteils gut lesbar und informativ und nicht allzu ideologisch verrenkt. Man lernt einiges über Venedig in seiner Blüte, über die politisch verwickelte Situation in der Zeit, über die Sozialstruktur der venezianischen Gesellschaft und ihr System der Kunstfinanzierung und -förderung. Und es bleibt sogar ein Quäntchen Ungeklärtheit und Unsicherheit als Rest dabei, dass der Betrachterin ermöglicht, eine eigene Frage zu finden.
Und die Frage, die sich mir hier aufdrängte, war nun eben die anfangs ausgeführte: Warum wird den Frauen, bei all dem demonstrierten malerischen Können Carpaccios (manche Maler können einfach keine Frauen malen, oder keine Hände, oder keine Babys), bei der zu Recht von der Kuratorin hervorgehobenen und durchaus interessanten Integration des Heiligen in das Alltägliche (und umgekehrt) in seinen Bildern – warum wird den Frauen so wenig Charakter zugestanden? Warum sind die Kaninchen, die in den friedlichen Gemächern Marias gefüttert werden, warum sind sogar die komischen Hühner, die unten durch die Gelehrtenbibliotheken laufen, gleich neben den Pantoffeln des Denkers – warum wirken all sie lebendiger als die Frauen? Warum sind alle Frauen, seien es Madonnen oder Damen der höheren venezianischen Gesellschaft, in diesen Bildern mehr oder weniger von ikonenhafter Identität?
Ziemlich wahrscheinlich und zum ersten (und den Gedanken könnte man anderweitig verfolgen), hat es zu tun mit dem Schönheitsideal der Zeit; deshalb sehen die Madonnen auch auf den Bildern seiner Zeitgenossen genauso aus. Dagegen ist wenig einzuwenden; Schönheitsideale ändern sich bekanntlich, auch wenn es einige anthropologische Universalien im Schönheitsempfinden zu geben scheint (Symmetrie ist das offensichtlichste; und interessanterweise werden ja künstlich erzeugte Durchschnittsgesichter oft als am schönsten empfunden).
Zum zweiten hat es vielleicht zu tun mit einer weiteren Beobachtung, die mich dann einen Saal weiter angesprungen hat: nämlich der extremen Leidenschaftslosigkeit der Figuren, egal ob männlich oder weiblich. Selbst wenn sie dahingemeuchelt werden – wie die Jungfrauen der Heiligen Ursula –, behalten sie einen gesetzten, madonnenhaften, engelreinen Gesichtsausdruck! Und auch die Meuchelmörder, diese Männer in den ganz wunderbar detailreichen Rüstungen, in die feinsten, körpernah getragenen Stoffe gehüllt, mit weichen blonden Locken und hinreißend geformten Muskeln, all diese Bilderbuch-Männer: Sie verziehen keine Miene, wenn sie den Bogen spannen, auf dem schon der Pfeil liegt, der der Heiligen Ursula – die natürlich keinerlei Regung von Furcht zeigt – das junge Leben nehmen wird; sie schneiden keine Grimassen, wenn sie einer Jungfrau kraftvoll ein Beil in den Kopf rammen, das das engelssanfte Gesicht in zwei Hälften teilt, oder wenn sie irgendein hilfloses Opfer mit Schwertern – Feinarbeit natürlich – durchbohren. Nein, alles ästhetisch ausgefeilt bis in den Lanzenspitzen! Oder das Meer der Kardinalshüte unter den roten Wimpeln, ein einziges Gedicht des Sehens, man hätte auch ein impressionistische Gemälde daraus machen können! Aber emotionslos, sogar die Porträts, denen der Ausstellungstext gern psychologische Tiefe zuschreiben möchte (na gut, für den einen oder anderen Männerkopf mag das funktionieren, vor allem: für die weniger schönen). Und so sterben die Jungfrauen ihren gruseligen, sinnlosen Märtyrertod in sanfter, widerstandsloser Hingebung für eine sinnlose Idee; so meucheln die Jungmänner ohne eine einzige Regung, weil es eben ihr Job ist, Jungfrauen zu meucheln. Und die einen sterben in Schönheit (wenn auch: flacher), und die anderen morden in Schönheit (sehr viel ausgeprägterer und charakterlich wenigstens ein wenig differenzierter).
Womit wir aber wieder bei unserer Ausgangsthese wären: Frauen haben Schönheit (wenn auch eine zeitgebundene); Männer haben Charakter (überzeitlich, weil sowieso individuell); und beides wird durch die ästhetische Ausdruckslosigkeit sogar noch verstärkt! Eine gute Studie zu dieser Geschlechterfrage gibt im Übrigen gleich das Eingangsbild der Ausstellung ab, das am meisten beworben wird und sicherlich die größte künstlerische Originalität hat. Es zeigt den mittelalterlichen Philosophen Thomas von Aquin, einen der Gelehrten-Heiligen des Mittelalters, gelegentlich auch seiner Engellehre wegen „Doctor angelicus“ genannt. Er sitzt frontal zum Betrachter an seinem Schreibtisch (keine vorteilhafte Stellung, in ästhetischer Hinsicht; in pädagogischer hingegen schon); zu seinen Füßen ist eine Bücherkiste verborgen, auf der er gleichsam ruht (ja, symbolisch relevant). Sein erhobener Zeigefinger zeigte nach oben (in einer Geste, die der Ausstellungstext dann doch etwas bemüht als potentiell ironisch zu deuten vorschlägt; nein, auch eher symbolisch relevant), wo über ihm die Engelein in sanften Wolken schweben und ganz oben Maria mit dem Jesuskind in einer Gloriole thront – jung, sanft, rundlich, flach. Links neben dem in eine schlichte Mönchskutte gehüllten Doctor angelicus steht, eifrig mitschreibend, der Heilige Markus als Stadtpatron von Venedig, gehüllt in eine faltenreiches Gewand in ansprechendem Carpaccio-Rot mit blau-grünem Umhang; ein schöner Mann im frühen Alter, mit noch vollem Haupthaar und gepflegtem Vollbart. Auf der anderen Seite steht der Heilige Ludwig von Toulouse, er zeigt ein aufgeschlagenes Buch vor, die Seite ist, so erläutert der Text, aus der Apokalypse. Ludwig trägt den spitzen weißen Kardinalshut, den Carpaccio so gern malt, eine kostbare Robe in Rot (rot-weiß, das Carpaccio-Motiv!) und den Bischofsstab. Nach einem heiligenmäßigen Leben starb der Heilige Ludwig von Toulouse mit nur 23 Jahren; und als junger Mann ist er auch dargestellt (daran erkennt man ihn im Übrigen auf Heiligendarstellungen, er hat sonst eher wenig Attribute aufzuweisen).
Der Heilige Thomas von Aquin selbst jedoch hat interessanterweise ein eher flach-rundliches Gesicht; er wirkt ein wenig androgyn, ist das nun seine Engelhaftigkeit, eine Nähe zu Maria, die sich physiognomisch ausdrückt? Und gleichzeitig erinnert er an einen himmlischen Beamten, wie er da so gerade an seinem Schreibtisch sitzt. Man stellt ihn sich eher von kleiner Statur vor, wenn er aufstehen würde gedrungen, mit schon zurückgehendem Haupthaar (oder ist das eine Art Mönchs-Tonsur?). Ein wenig mehr Ausdruckstiefe hätte man auch ihm gegönnt, ein wenig mehr Persönlichkeit, ein wenig mehr Eigensinn. Aber andererseits sind auch seine Texte nicht gerade bekannt für Ausdruckstiefe, Persönlichkeit oder Eigensinn; sie sind vielmehr Muster scholastischer Gelehrsamkeit und Gründlichkeit (was gar nicht so abwertend gemeint ist, wie es sich anhört; auch Gelehrsamkeitsideale haben ihren Moden und Zeiten, und die Scholastik war wahrscheinlich eine der besseren). Und vielleicht ist gerade in diesem Mischcharakter, dieser Zwitterhaftigkeit von Thomas von Aquin (den ich mir lieber mit einer ausgeprägt männlichen Physiognomie vorgestellt hätte) am besten ausgedrückt, dass Reinheit und Engelhaftigkeit eben einhergehen mit – Charakterlosigkeit. Persönlichkeitsarmut.
Frauen haben Schönheit, Männer haben Charakter – aber gibt es Schönheit überhaupt ohne Charakter? Und verleiht ein ausgeprägter, ein eigensinniger, ein origineller Charakter automatisch auch eine andere Art von Schönheit? Oder hat beides sowieso gar nichts miteinander zu tun, sind es Begriffe auf verschiedenen scholastischen Ebenen – das eine rein äußerlich und ein ästhetisches Phänomen; das andere eine nicht genau definierbare Mischung von äußerlichen und innerlichen Merkmalen, vielleicht sogar: ihrer gegenseitigen Durchdringung, dazu eher auf einer persönlichen oder gar: moralischen Ebene angesiedelt? Ach, auch Begriffsfragen sind immer Definitionsfragen, und beide haben ihre Moden und ihre zeitgebundenen Aspekte. Was man aber in dieser Ausstellung sehen und darüber hinaus: erfahren kann, ist: Wenn Frauen auf ein rein äußerliches Ideal von Schönheit (wie zeitgebunden auch immer), nennen wir es: von Oberflächenschönheit verpflichtet werden, wird ihnen eine Persönlichkeitsentwicklung in gewissem Sinne abgesprochen. Man hat, vielleicht kann man es so am besten sagen: noch kein Ideal einer weiblichen Schönheit vorrätig, das eine charakterliche Tiefe und die Ausprägung von ein wenig eigensinnigen äußeren Attributen andeuten könnte. Das mag durchaus zusammenhängen damit, dass Frauen in dieser Zeit wenig Möglichkeiten zur Ausbildung und persönlichen Entwicklung hatten, während einem jungen, begabten, vielleicht gar noch reichen venezianischen Jüngling aus gutem Hause die Welt der Bildung wie die Welt der Politik, des Handels, aber auch: die Welt des Kampfes und des Krieges offenstanden. Dass professionelle und erfolgreiche Maler wie Carpaccio deshalb die Männer auch in ihren Massendarstellungen als Porträtstudien einflussreicher venezianischer Bürger und Adliger nutzten, ist nur folgerichtig und kluges Kalkül; es führt aber dann zwingend zu einer viel reicher entfalteten Darstellung männlicher Schönheit als ausgeprägter Charakteristik männlicher Persönlichkeit; einer, nennen wir es: durch Lebensalter und Erfahrung erworbenen Tiefenschönheit.
Männer können deshalb (das kann man genauso gut bei den großen florentinischen Renaissance-Malern sehen) in allen Lebensalter und in allen Situationen schön sein, beim Meucheln von Jungfrauen ebenso wie beim Flanieren über den Markusplatz mit zierlichen Jagdhunden als modischen Accessoires; sie können sogar unter dem Kardinalshut attraktiv sein! Frauen hingegen dürfen gepflegt ein Buch halten oder ein Baby, manchmal auch beides (wenn man die Madonna ist), es macht aber nicht viel Unterschied. Doch nichts würde die Betrachterin sich mehr wünschen, als: Dass die junge lesende Frau, die ganz allein und sehr versenkt in ihr zierliches Buch auf einem Balkon sitzt, hinter ihr eine sanfte italienische Küstenlandschaft mit blauem Meer; dass diese weibliche Gestalt, ein perfektes Dreieck in einer überaus klassischen Bild-Komposition, deren Gewand in seinen Falten geschickt dieses Dreiecksmotiv aufnimmt; dass dieses Mädchen, das einen kaum sichtbaren feinen Schleier über Haupt und Haar trägt und in einem klassischen Profil abgebildet ist, die Züge klar und mädchenhaft gezeichnet, die Hand zart; dass sie sich also aufrichten würde und sich zur Betrachterin umwenden, und dass ihr Antlitz dann – ein klein wenig persönlich wäre, jenseits der madonnenhaften Gleichmut und idealischen Reinheit. Dass man in ihm Spuren ihrer Lektüre sehen könnte; und dass ihre jugendliche Schönheit zumindest eine Ahnung von künftiger Tiefenschönheit hoffen lassen könnte (sie muss dazu ja nicht gleich rätselhaft lächeln wie die Mona Lisa). Wäre das nicht wirklich wunderschön und eine gelungene Szene weiblicher Emanzipation?
Denn wahre Schönheit, um mit einem großen Wort zu enden: Wahre Schönheit ist beides, Tiefen- und Oberflächenschönheit, eines durch das andere. Und jede/r Betrachter/in ist ihr hilflos ausgeliefert.
Die Ausstellung ist noch bis zum 2.3.2025 in Stuttgart zu sehen
https://www.staatsgalerie.de/de/ausstellungen/aktuell/carpaccio-bellini-und-fruehrenaissance-venedig
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