Etwas, das traditionell auch nur Männer haben, ist übrigens ein Genius. Das ist ein Konzept, das auf seinem langen Weg von der „heidnischen“ Antike durch das Christentum hindurch bis in unsere (angeblich) vollsäkularisierten Zeiten ziemlich viele Schrammen bekommen hat. Heute fristet es ein eher kümmerliches Dasein als von gebildeten Bildungreisenden gelegentlich beschworener genius loci. Meinend, dass ein Ort, sei es ein natürlicher oder ein kultureller, eine gewisse Atmosphäre hat, eine merkliche Ausstrahlung und Anmutung, ein gewisses Etwas, einen vibe: alles Wörter, die zum Ausdruck bringen, dass es eine Art von Erfahrungen gibt, in bestimmten Situationen, unter bestimmten räumlichen Umständen, die zwar wahrnehmbar sind, beinahe greifbar – aber keiner präzisen Ursache zuzuschreiben, nicht zu erklären, höchstens annäherungsweise zu beschreiben, zu veranschaulichen. It’s a thing, wie man heutzutage sagt, und damit meint: Es hat eine Substanz, es ist da, wirklich und wirkend, wir können es nur nicht handlich auf einen (einzigen) Begriff bringen!
Genius nun – das war ursprünglich, bei den Römern (die Griechen hatten etwas ähnliches und nannten es daimon), der Schutzgott eines Mannes (und gemeint ist: Mannes, nicht Menschen). Er wurde ihm bei der Geburt beigegeben, vielleicht wurde er von den Sternen beeinflusst; er begleitete ihn sein Leben lang, war innere Stimme, Gewissen, Persönlichkeitsessenz und Schutzengel in einem. Und wenn der Mann starb, starb auch sein Genius. Wenn er sich aber in seinen leiblichen Nachkommen fortpflanzte – dann war der Genius das Prinzip, das die Zeugung erst ermöglichte. Von dem Verb für Zeugen kommt nämlich auch das Wort genius, und insofern ist es nur logisch, dass Männer einen speziell männlichen Genius haben, da für sie Zeugung etwas anderes bedeutet als für Frauen.
Das ist insofern von Bedeutung, als für die römische Familie die Fortsetzung der Generationenlinie, gemeinsam mit der Pflege des Ahnenkultes, der Lebenszweck schlechthin war. Dem Genius des Familiengeschlechtes waren deshalb auch in vielen Haushalten Altäre gewidmet. Für Frauen hingegen gab es (aber das ist in den Quellen noch unklarer als die meisten mythologischen Hintergründe generell sind) wohl eine Art Entsprechung in der iuno. Das war eine der römischen Göttin der Ehe und der Geburt nahestehende weibliche Geniusvariante, die für die Frauen ähnliche Dienste leistete, eben mit dem Unterschied: dass Frauen nicht zeugen, sondern gebären (und römische Ehefrauen brauchten ansonsten auch nicht besonders viel Persönlichkeit, das war nicht üblich und lenkte nur von den primären Regenerationspflichten ab!).
Im Endeffekt ist es aber egal, wie wir es nennen, dieses thing; und vielleicht können wir das berechtigte feministische Ressentiment auch einen Moment lang zurückstellen für folgende Überlegung: Wie wäre es eigentlich , wenn man tatsächlich einen Genius oder eine Iuno hätte, und was würde man sich darunter wohl gern vorstellen?
Als erstes fällt einem natürlich ein Schutzengel ein, und das ist offensichtlich die am weitesten popularisierte Variante: Ja, die meisten von uns Sterblichen hätte gern ein himmlisches Wesen, das über uns wacht und uns in Gefahren beschützt; dass seine sanfte Hand und seine noch sanfteren Flügen über einen breitet, wenn man schläft; und dass einem einen freundlichen Nasenstüber gibt, wenn man morgens erwacht: Wieder eine Nacht überstanden, auf zu frischen Taten! Vertrauen wir ihm, wir haben es nötig in dieser Welt der Gefahren und Übel!
Die stärker dogmatisch-religiöse Variante wäre das Gewissen als innere Stimme, die uns kleine moralische Zurechtweisungen erteilt, wenn wir sie nötig haben: Jetzt reiß dich aber zusammen, hörst du! Nein, keine Schokolade, nicht noch mehr Wein, und über die Nachbarn lästern wir heute auch mal nicht! (der Dämon des Sokrates sprach übrigens auch nur in Verboten; was man positiv tun soll, das muss einem schon selbst einfallen)! Der Genius wäre dann derjenige, der den inneren Schweinehund vor sich her treibt; eine Art mentaler Hirte, aber dabei unbestechlich und auf eine etwas unausstehliche Art und Weise immer im Recht. Na gut, immer noch ziemlich trivial, aber vielleicht ja auch nicht zu unterschätzen in dieser Welt der immer noch anwachsenden Verführungen?
Die gleiche innere Stimme – oder sagen wir: eine etwas weniger moralinsäuerliche? – könnte uns generell immer dann etwas zuflüstern, wenn wir auf dem Wege sind, uns selbst untreu zu werden. Das kommt in den besten Persönlichkeiten vor. Denn, seien wir mal ehrlich: Niemand liebt uns so, wie wir sind! Aber mit nur ein klein wenig Verstellung, ein wenig Anpassung, hier ein wenig Schönen und dort ein wenig Vertuschen, mit gekonnter Seelen- und Körperkosmetik und vor allem: einem machtvollen Gedankenzensor – könnten wir ganz passabel und gelegentlich sogar liebenswert erscheinen. Kostet aber. Nämlich: nennen wir es („Authentizität“ ist schon zu sehr missbraucht von Leuten, die es mit elaborierter Konformität verwechseln): Wahrhaftigkeit. Treue zu uns selbst. Der Genius ist dann nicht so sehr ein Schweinehirt, sondern vielleicht eher: ein echter Freund? Jemand, der uns – nicht so liebt, wie wir sind, sondern: der uns so sieht, wie wir sind; und der es uns selbst sehen lässt. Oder, genauer gesagt: uns hören lässt, da der Genius mit einer eigenen Stimme zu uns spricht und keine Spiegel hochhält (er macht auch keine Selfies für uns). Der Genius spricht vielleicht schon die ganze Zeit; wir aber haben das Zuhören verlernt, es spielt auch immer irgendwo eine Playlist, die uns von jemand anders empfohlen wurde (notfalls auch von der KI; sie versucht gerade, einen Genius zu imitieren, halluziniert aber noch zu viel).
Damit sind wir schon ein ganzes Stück weit gekommen in der Bedienungsanweisung für den modernen Genius; aber etwas Entscheidendes fehlt uns noch. Nämlich, wir erinnern uns: der schöpferische Aspekt des Genius, seine zur Fortpflanzung über das Individuum hinaus (mit dem er ja auch selbst stirbt!) antreibende Kraft, sei es in Form der Zeugung oder des Gebärens – beides gehört ja nun offensichtlich zusammen, und wenn wir es nicht ganz so biologisch wollen (obwohl die Biologie ziemlich viel für sich hat, zum Beispiel: Kinder), können wir gern auch über geistige Zeugungen und Geburten sprechen (die metaphorische Verbindung zwischen künstlerischem Schaffen und biologischem Zeugen und Gebären ist sowieso so alt wie die Dichtkunst selbst). Ein ordentlicher, vollwertiger Genius in uns, unsere ganz persönliche Iuno – treibt sie uns zu irgendeiner Art von Schöpfung, Erschaffung, Erzeugung, Hervorbringung? (und nein, diese Reihe gipfelt mit voller Absicht nicht in dem auch schon seit langem mit Recht in die Wort-Mottenkiste getanen Substantiv „Selbstverwirklichung“: Wir alle werden im Moment unserer Geburt maximal verwirklicht, und von da an geht es eigentlich nur bergab, man wird immer weniger wirklich, bis man am Ende wieder ganz entwirklicht wird).
Aber das nur nebenbei, und zurück zum Genius/Iuno: Kann man nicht auch in Frieden mit seinem persönlichen Genius leben und sich dabei in Ruhe zurücklegen, sein Gärtchen anpflanzen (nein, ist Kultivierung und damit Erschaffung), seinen Job machen (sagen wir mal, sehr optimistisch: die meisten Berufe erschaffen irgendetwas, und seien es „nur“ menschliche Kontakte; Ausnahme: alles mit Mediendesign und Marketing, das schafft vor allem heiße Luft), seinen Haushalt führen (grenzwertig, aber, mit etwas gutem Willen gedacht: erhaltende Tätigkeiten sind eine schwache Abform von Erschaffung, und eine schön aufgeräumte und blitzblank geputzte Küche kann durchaus eine ästhetische Erfahrung vermitteln) – wo waren wir?
Also, nochmal von vorn: Kann man sich nicht in Ruhe auf seinem Sofa zurücklehnen, seinem Genius eine Schale Popcorn anbieten und einen Serienmarathon starten? Natürlich darf einem dabei das Gehirn nicht in den Rücken fallen (die Metapher ist so wunderbar schief, das mein Genius darauf besteht, sie stehenzulassen!) und anfangen, irgendeine Deutung zu machen; oder man darf nicht nebenbei einen Schal stricken. Tatsächlich ist es nämlich gar nicht so einfach, vollständig unschöpferisch einfach so vor sich hin zu sein. Denken wir nur an den Schlaf! Himmel, welche schöpferische Aktivität, manchmal wünschte man sich schier ein Aufzeichnungsgerät für Träume, wie kommt der Kopf nur auf das Zeug? Oder ist das vielleicht – der Genius, der sich des Nachts am Freiesten austoben darf, wenn alles andere endlich schweigt, keine playlist, keine Serie, keine Werbung?
Welch eine schöne Idee! Nachts geht mein Genius spazieren, er spaziert durch die Windungen meines Kopfes, und manchmal macht er einen Sprung, und manchmal verläuft er sich, und dann wieder reißt er sich zusammen und schickt eine nur minimal verschlüsselte Mitteilung, die nicht zu ignorieren ist und mich verfolgt, wenigstens einige Zeit nach dem Aufstehen. Vielleicht sind nachts die meisten Menschen die größten Künstler, wir wissen es nur nicht? (ja, der Gedanke ist auch nicht neu, sagt mein Genius, der alte Besserwisser) Oder eben, und genauer: nicht Künstler, sondern Schöpfer: Denn auf das Kunstwollen kommt es gar nicht an, und schon gar nicht auf das Kunstkönnen (außer natürlich, man ist ein Künstler; aber das ist ein schweres Schicksal, und man sollte niemand darum beneiden). Nein, etwas zu machen, etwas hervorzubringen und zu gestalten, mit dem Kopf, mit den Händen, mit anderen Körperteilen – darauf kommt es an! Man sollte, sagt mein Genius gerade eben zu mir (er spricht ab und zu in falschen Zitaten), alles einmal versuchsweise so behandeln, als könne es eine schöpferische Aktivität sein (wenn man dann seinen Job wechseln muss – ist das vielleicht auch besser so?)
Vielleicht können wir das ganze Konzept, das ganze „Ding“, das genius heißt, am besten fassen, wenn wir ihn als unseres wahrhaftigeres Selbst bezeichnen? Also: nicht als dasjenige Selbst, das wir immer so gern sein wollten, sondern als dasjenige, das wir mit Energie und Zustimmung und Entschiedenheit tatsächlich sind? Also: nicht diejenige fake-Persönlichkeit, die Erfolg und Anerkennung und ewiges Geliebtwerden verspricht, sondern diejenige Persönlichkeit, die wir selbst erst mühsam kennengelernt haben im Laufe unserer Lebensgeschichte, nachdem wir all die Schichten abgetragen haben, die Erziehung, Konvention und Ängstlichkeit um uns herum gesponnen haben – und die nun gestaltet werden will für den Rest unserer Tage?
Ob dieser „Besseres-Selbst-Genius“ dann ein Geschlecht hat, oder: ob er überhaupt eines braucht: das kann jede für sich selbst entscheiden (ich habe den Verdacht, dass meiner ganz gern androgyn ist; vielleicht sollte ich ihn Orlando nennen?).
Horaz, Briefe
Warum von Brüdern der eine das Feiern, Spielen, Sichsalben
vorzieht, sogar dem Ertrag der herodischen Palmen, der andre
trotz seines Reichtums mit grämlicher Miene von morgens bis abends
Waldland erschließt mit Feuer und Eisen, dafür kennt den Grund der
Genius, der unsern Geburtsstern regiert und der uns begleitet,
Gottheit von sterblicher Menschennatur, deren Antlitz sich jedem
einzelnen anders und wechselnd erweist, bald voll Ernst und bald heiter.
Ich halt es mit dem Genuß: Was ich brauche, entnehm ich bescheidnem
Vorrat. […] Ob sonst dann auf großem
Schiffe ich fahr oder kleinem: Ich bin und bleibe derselbe.
Wenn auch kein günstiger Nord die Segel des Bootes läßt schwellen,
steure ich dennoch mein Leben auch nicht gegen widrigen Südwind.
Kraft und Verstand, die Gestalt und der Wert, Besitztum und Herkunft:
alles das stellt mich ans Ende der Ersten, doch weit vor die Letzten.
Comments: no replies