Sie war eine wahre Realistinnen, obwohl sie beileibe nicht dazu geboren war. Aber Frauen sind immer, mehr oder weniger, Realistinnen gewesen: Schon ihre Lebensweise erlaubte ihnen keine geistigen Höhenflüge, sie konnten sie sich einfach nicht leisten. Und ein wenig Eskapismus hier und dort, die Wunschträume der zu eifrig Lesenden – das war kein Idealismus, das war bitterste Lebensnotwendigkeit. Frauen hatten es schon immer mit der Wirklichkeit zu tun; so wie jeder Unterdrückte auf Erden, so wie jeder, der sich auf eine Ehe eingelassen hatte, so wie jede, die das wirklichste vom Wirklichsten erlebt hatte: ein Kind zu bekommen. Männer konnten sich Idealismus leisten; sie konnten die Welt erobern im Dienst einer Idee (die, bei realistischem Licht besehen, niemals die Todesopfer wert war, die sie dann kostete), sie konnten die reine Liebe suchen (und damit geschickt verschleiern, dass sie eigentlich mehr an ihrer unreinen Halbschwester interessiert waren), sie konnten sogar das eigene Leben opfern! Zurück blieben Frauen und Kinder. In der Wirklichkeit. Frauen opferten sich auch, Tag für Tag, Nacht für Nacht. Aber sie taten es nicht für den Luxus einer Idee.
George Eliot wurde geboren als Mary Anne Evans (1819-1880); sie trug aber in ihrem Leben viele Namen, und berühmt wurde sie unter einem fremden, männlichen: George Eliot. Eigentlich hätte sie das, im Rückblick besehen, wirklich nicht nötig gehabt: niemals war sie eine von den Silly Lady Novelists, über die sie sich in einem ihrer ersten Essays gründlich und ziemlich schonungslos lustig machte: In verschiedenen Gattungen würden sie auftreten, so schrieb sie: Es gäbe die schaumig-substanzlose, die evangelikale-betuliche, die pedantisch-historisierende und die pseudo-philosophische Variante, und eine sei so schädlich wie die andere für die Literatur, die doch wahrlich ein wenig weibliche Variation gebrauchen könnte! Denn hatten nicht die Salondamen in Frankreich gezeigt, dass man als Frau schreiben konnte, geistvoll, aus dem vollen Leben heraus, ohne Seitenblick auf die Männer oder den Nachruhm, sondern einfach schreiben, mit der ganzen Person, so wie man war als Frau – denn man schrieb entweder mit seiner ganzen Person, oder man konnte es genauso gut bleiben lassen? Aber nein, aus schierer Langeweile und Geltungssucht ergriffen ihre Zeitgenossinnen, die Silly Lady Novelists, die Feder, so, wie man ein Kissen bestickt mit Blumen, die man nie gesehen hat, oder ein Liedchen am Klavier trällert, und anderswo komponieren Giganten Symphonien. Nein, erst musste gelebt werden, es musste gelesen werden, es musste gedacht werden; Gefühle mussten nicht nur erfahren, sondern erforscht werden, ganze Kontinente von Gefühlen und den unbekannten Ländern um sie herum. Die ersten Erzählungen von Mary Anne Evans erscheinen, da ist sie knapp vierzig Jahre alt. Und dann kommen die großen Romane, einer nach dem anderen, und im Zentrum steht bis heute: Middlemarch (1871-72; Untertitel: A Study of Provincial Life), das Bild einer Gesellschaft, eines Jahrhunderts, verpackt in einer Kleinstadt, so typisch, dass sie schon wieder originell war.
Bis dahin verlief das Leben von Mary Anne Evans so wie das so vieler schreibender Frauen vor und nach ihr. Ihre Mutter stirbt, als sie 16 ist; Mary muss die Verantwortung für die Kinder und den alternden Vater übernehmen. Ihre Geschwister verlassen das Haus, sie bleibt bei dem Vater. Die Familie ist streng kirchlich geprägt, und Mary ist mit ihrem ganzem Herzen und ihrem erwachenden Verstand religiös, tief religiös, schwärmerisch religiös: Die Heilige Teresa, so wird sie im Vorwort zu Middlemarch schreiben, schwebte vor ihrem inneren Auge, eine Fanatikerin des Geistes, aber auch eine praktische Frau; eine Realistin, die nicht nur gute Taten und Selbstaufopferung predigte, sondern einen Frauenorden gründete, verwaltete, zum Erfolg führte. Wichtig sind nicht schöne Worte, sondern ein eiserner Wille. Schön sind nicht die Nichtigkeiten, mit denen Silly Lady Novelists ihre zutiefst unrealistischen Heroinnen schmücken, schön ist das Eintreten für die Armen, nicht aus Pflicht, sondern aus christlichem Mitgefühl heraus – Dorothy in Middlemarch, die wir uns wohl als junge Mary Anne vorstellen können, ist die Selbstaufopferung so natürlich wie das Atmen, und in welche Abgründe gerät sie damit! Mary Ann aber kommt zum richtigen Zeitpunkt, und damit wendet sich ihr Leben, in intellektuelle Zirkel. Gefährliche Freidenker treffen sich dort, und als sie dann damit beginnt, Das Leben Jesu von David Friedrich Strauß vom Deutschen ins Englische zu übersetzen, ist es geschehen um ihre Seelenruhe und den Familienfrieden. Sie beginnt eine Affäre mit einem verheirateten Mann – es wird eine eheähnliche, lebensprägende Beziehung werden, allerdings ohne den Segen der Kirche. Sie schreibt für Zeitungen und Zeitschriften, übersetzt ein weiteres Skandalwerk, Ludwig Feuerbachs Das Wesen des Christentums, arbeitet sogar an einer Übertragung von Spinozas Ethik. Das alles ist aber nötiges Vorspiel, die Ouvertüre zu ihren Erzählungen, in denen sie ihren religiösen Fanatismus vom Himmel auf die Erde verpflanzt: Sie hat sich ihren Realismus erarbeitet, durch ihrer Hände und ihres unermüdlichen Geistes Werk. Niemals hätte sie nach dieser Rosskur, wie Dorothy, sich mehr damit begnügen können, den Worte des verehrten und über alle Begriffe gelehrten Gatten hingebungsvoll zu lauschen und dankbar für sie zu sein wie für Brosamen vom Tische des Herrn. Hier wurde eine Selbstdenkerin geboren, und man mag sich kaum vorstellen, wie viele Häute sie dafür abstreifen musste.
In Middlemarch, ihrem bekanntesten Roman, aber ist George Eliot auf dem Gipfel ihrer Kunst. In einer englischen Kleinstadt, gebeutelt von den Reformwirren des viktorianischen Zeitalters in seinen entlegeneren Provinzen, versammelt sich ein Panoptikum von Gestalten, die damit leben müssen, dass ihre Autorin unendlich viel klüger ist als sie alle. Über ihnen allen schwebt der Erzähler, nein: natürlich die Erzählerin, souverän, humorvoll und niemals verletzend, als guter Genius: Sie kennt sie, sie hat sie erlebt, damals, in der Provinz, it was an education, wie man im Englischen sagt, und trotz alledem – liebt sie sie immer noch. Sie können starrköpfig sein, vertrocknet und verbiestert wie Dorothys Ehemann Casaubon. Sie können leichtlebig und unzuverlässig sein wie der junge Lydgate. Sie können alte Klatschweiber und junge Modepuppen sein, friedliche Dorfpriester und ambitionierte Dorfärzte, oder eine bunte Verwandtschafts-Mischpoke, die geierartig über dem soeben versterbenden reichen Onkel kreist; sogar die Kinder dürfen mitspielen, und die Pferde haben einen eigenen Willen, gerade wenn man sie verkaufen will. Hat man schon jemals zuvor eine Kleinstadt so gesehen, in ihren konfusen und doch charakteristischen Gesprächen, ihren kleinen Intrigen, ihren ebenso kleinen, aber doch, irgendwie: herzrührenden Heldentaten? Middlemarch ist die ganze Welt, gesehen durch die Augen einer klugen Frau, die ihre Ideale zwar verloren hat, aber ein wenig Teresa bleibt: Auch wer nicht mehr glaubt, kann immer noch einen Orden gründen. Vielleicht ist es sogar besser, wenn Orden von Skeptikern gegründet werden, wer weiß? Ihre Zunge bleibt im Feuer, so wie sie es von Teresa beschrieben hatte; aber man muss ein Salamander sein, um das zu ertragen. Nur so entgeht man der Albernheit. Virginia Woolf würde gar nicht so viel später über Middlemarch schreiben, er sei einer der äußerst seltenen Exemplare von ›Romanen für Erwachsene‹ – was letztlich eine andere Definition von Realismus ist: das Feuer zu erhalten, ohne Feuer gibt es keine Dichtung, aber es kann auch eine Zeitlang als Herdfeuer oder Nachtlicht glimmen, bevor es dann wieder hervorbricht, oft in einzelnen Sätzen oder Bemerkungen nur, und selbst die unbedeutendste Figur kann einen Funken davon auffangen. Realismus braucht keine Helden; aber er braucht Frauen, das ganz sicher.
Comments: no replies