Man darf auf keinen Fall den Fehler machen, den Film zuerst zu schauen (das gilt eigentlich prinzipiell für Buchverfilmungen, aber vor allem, wenn es sich um „Klassiker“ handelt). Der Film hat seine Vorzüge – nicht der Geringste von ihnen ist Lilli Palmer als Lotte, mit unvergesslichem Halszucken, wir werden darauf zurückkommen –, und er hat seine Momente – wie die geradezu ins Tierische Lachorgie der Subalternen im Haus des Titans, die sich gar nicht genug ausschütten können über die – eigentlich sehr ernsten, aber nur Lotte merkt das – Scherze des Hausherrn. Aber allzu leicht-fertig bedient die Verfilmung von Egon Günther (DEFA, 1975) das Klischee vom kühlen, menschenfeindlichen Tyrannen, der für sein Werk über Leichen geht, kein Herz hat (schon gar nicht für die armen, biertrinkenden Massen) und dessen Werk so marmorkalt und abweisend ist wie die Monumentalskulpturen in seinem fremdartigen Meisterhaus sind. Nein, ich bin mir ziemlich sicher: So hat es Thomas Mann nicht gemeint, als er seinen Roman Lotte in Weimar schrieb, mitten in düsteren Zeiten, im Exil und mit seinem großen Geistesbruder im Geist und im Herzen. Denn Thomas Mann schreibt immer ironisch (genau wie Goethe); und wenn man meint, ein Text sei von ihm einseitig und nehme Partei für irgendetwas, so sehr würdig und ehrenwert es auch sein mag (die armen, biertrinkenden Massen) – dann hat man etwas Wichtiges verpasst. Und deshalb ist Goethe in seinem Weimar-Roman durchaus ein eitles und kaltblütiges Monster; und er ist daneben, mit dem gleichen Recht und der gleichen Würde: ein schwacher und warmherziger Mensch, mit Gemüt und Seele und Opfermut (wir werden auch darauf zurückkommen).
Im Zentrum des Weimar-Romans, der (ebenso Thomas-Mann-typisch) mit einer Unzahl an wörtlichen Goethe-Zitaten und anderen intertextuellen Spielereien gespickt ist, steht aber endlich einmal: Lotte. In Goethes Werther-Roman sehen wir sie meist als idealisierte Projektionsfigur des Helden und in zu Bildchen geronnenen Szenen: Wie sie das Brot für die Geschwisterlein schneidet; wie sie ausgelassen mit ihrer blassrosa Schleife an der jugendlichen Brust auf dem Ball tanzt; wie sie danach am Fenster steht, sich nach dem Gewitter Luft zufächelt und „Klopstock“ lispelt (was Werthers Herz endgültig in Kerkerhaft nimmt); wie sie Kranke pflegt, bei Gesprächen der Männer sittsam schweigt, dann und wann in die Klaviertasten greift, um den aufgewühlten Werther zu beruhigen, und dann wieder mit ihrem Vögelchen schnäbelt, was den armen Werther um den Rest seiner Sinne bringt. Nein, als Figur ist Lotte relativ nebensächlich in dem Roman, der ja auch nicht Lottes Leiden, sondern Werthers Leiden heißt; sie ist einfach ein, wie es in Dichtung und Wahrheit später heißen wird, „höchst wünschenswertes Frauenzimmer“. Dass sie dann, nur etwas fahrlässig, in ein tödlich endendes Dreiecksverhältnis läuft und der Gegenstand einer pathologischen Leidenschaft wird – führt aber natürlich dazu, dass sie auch leidet, und zwar nicht unerheblich; der Herausgeber berichtet am Ende lakonisch: „Man fürchtete um Lottes Leben“.
In der Realität jedoch bringt sich Goethe in seiner Werther-Persona nicht um, sondern schreibt einen Roman, der eine befreiende „Generalbeichte“ ist; danach befreit auf zu neuen Großtaten und neuen Frauen! In der Realität bringt Charlotte Buff ihrem würdigen Albert zwölf Kinder zu Welt und zieht sie groß. Mit dem Dritten bleibt man in etwas unverbindlichem Briefkontakt, Goethe übernimmt die Patenschaft für den ältesten Sohn (der er niemals sehen wird), und erst spät, bei einem Verwandtenbesuch 1816 in Weimar, kommt es noch einmal zu einem Treffen: Lotte in Weimar. Und Thomas Manns Roman imaginiert kongenial, wie es dabei – über die überlieferten, etwas kärglichen äußeren Fakten hinaus – in den Köpfen der Beteiligten zugegangen sein könnte: und zwar nicht nur in denjenigen Goethes und Lottens, sondern auch in denen der um das Zentralgestirn Goethe in Weimar kreisenden kleineren Sterne, angefangen mit einer reisenden englischen Malerin, dicht gefolgt von seinem Faktotum Riemer, ihm auf den Fersen Adele Schopenhauer, die beste Freundin der von August von Goethe eher halbherzig umworbenen Ottilie von Pogwisch. Am Ende der nicht abreißen-wollenden Besucherkette stellt sich schließlich der Sohn selbst ein, der arme August, der wenig später in der Ferne in Italien sterben wird, wo sein Vater vor ihm eine seiner vielen Wiedergeburten erlebte (seine leibliche Mutter, Christiane Goethe, war kurz zuvor in Weimar verstorben). Das Glanz- und Schaustück des Romans ist allerdings dasjenige Kapitel, in dem der Titan selbst erwacht (samt einer Morgenerektion) und sein Leben im Monolog an sich vorbeiziehen lässt; ungeschminkt, selbstverliebt und dazwischen – herzrührend verletzlich. Oder ist es doch das Schlusskapitel, in dem sich die beiden Hauptfiguren nachts, sozusagen inkognito, in Goethes Kutsche aussprechen? Wir werden darauf zurückkommen!
Aber der Roman heißt nicht Goethe in Weimar, sondern Lotte in Weimar, und tatsächlich ist Lotte in diesem Roman eine würdige Gegenspielerin: Sie allein ergreift Partei für die Goethe-Opfer. Und sie ist die Einzige, die dem Titan nicht nur widerspricht, des nachts in der Kutsche; nein, sie stellt sogar sein Leben – und damit sein davon untrennbares Werk – in Frage: Hat es nicht einfach zu viele Menschenopfer gefordert, von denen sie und ihr Verlobter nur die Ersten (und bis anhin: Berühmtesten) waren? Das ist tatsächlich die Grundfrage des Romans, und wir werden zu ihr kommen. Aber bleiben wir vorerst einen Moment bei der Frage stehen, warum Lotte als Einzige zu dieser Frage fähig ist? Sie ist es, kann man summierend sagen – und das wäre an den einzelnen Gesprächen mit den einzelnen Figuren zu zeigen –, weil sie genauso wandlungsfähig geblieben ist wie der große Goethe; aber auf eine ganz andere, lasst uns ruhig sagen: weibliche Art und Weise. Denn sie beharrt zunächst, energisch und bei jeder Gelegenheit, auf ihrer Lebensleistung ganz im Realen: Sie hat zwölf Kinder geboren und großgezogen, sie war ihrem Mann (der schon längst gestorben ist) eine gute Ehefrau, sie hat sich bewährt als „wünschenswertestes Frauenzimmer“! Aber sie kann auch zuhören; sie kann jedem Einzelnen der so verschiedenen Gesprächspartner so zuhören, dass diese immer weitersprechen, ganz aus sich herausgehen – und sich am Ende ebenso getröstet wie verstanden spüren. Was das für ein Fähigkeit ist? Die einer Mutter natürlich. Lotte war, von ihrem ersten Auftritt in Werthers Leiden an, eine Mutterfigur mindestens ebenso wie eine ideale Geliebte. Und sie war es schon, bevor sie eigene Kinder hatte; sie war es von ihrer eigenen Natur aus. Sie konnte sich einlassen auf ganz verschiedene Charaktere – wie sie schon in Kindern deutlich sichtbar sind; und sie konnte zu jedem gerecht sein. Und sie konnte Albert lieben, den archetypischen, biederen „Bräutigam“; und natürlich hat sie Werther auch geliebt, keine Frage. Es ist aber kein Entweder-Oder; genauso, wie man mehrere Kinder lieben kann, kann man mehrere Männer lieben, sogar zur gleichen Zeit (frau jedenfalls kann das); manchmal ist das sogar gerecht.
Lotte ist also von Anfang an, als Figur, nicht nur Werthers würdig (das war nicht besonders schwierig); sie ist – jedenfalls: in der Version von Thomas Mann – als Charlotte Buff Goethes würdig. Das zeigt sich gerade in ihrer Verletzlichkeit. Denn Lotte wackelt mit dem Kopf, wenn sie nervös und unsicher wird; sie hat eine liebenswerte kleine Altersschwäche, vielleicht einen beginnenden Parkinson, wer weiß? Aber sie weiß ihre Schwäche gut zu vertuschen; durch Kleidung, durch Integration in andere Bewegungsabläufe oder dadurch, dass sie sich selbst bei der Hand nimmt. Warum wackelt Lotte mit dem Kopf? Weil sie, bei all ihrer weiblichen Gesundheit und erwiesenen Realitätstauglichkeit, einen kleinen Anflug von Krankheit in sich trägt; etwas, das stört, aus der Reihe fällt, unterscheidet. Genau das aber ist, für Thomas Mann jedenfalls, ein Signum von: Auserwähltheit. Nicht-Bürgerlichkeit. Künstlertum und Geistesadel. Es kommt nun nicht darauf an, möglichst krank zu sein, genauso wenig, wie es gut wäre, möglichst gesund zu sein. Ironie heißt: Es geht darum, zu beidem fähig zu sein! Und so ist Lotte eine Art Künstlerin des Alltäglichen, des Weiblichen, des auf seine Art Schöpferischen; sie ist in einem Wort, wir sagten es schon: eine Mutter. Faust geht zu den Müttern, als wirklich alle anderen Mittel erschöpft sind; am Ende erlöst ihn die Mater dolorosa von seiner ewigen Streberei. Werthers Leiden enden damit, dass Werther darauf hofft, im anderen Leben vor Lottes Mutter sein Herz ausschütten zu können und dort – man nimmt an: nicht nur Verständnis, sondern auch Vergebung zu finden? Die Mütter, sie sind das große öffentliche Geheimnis in Goethes Werk; und sie sind das notwendige Äquivalent zum übermächtigen Vater-(Dichter-)Gott.
Eine Mutter aber bringt Opfer; genauso wie der Dichter Opfer bringt. Und damit kommen wir auf die Schlussabrechnung in Thomas Manns Roman zurück und auf die Frage, ob das Werk das Menschenopfer rechtfertigt. Lottes Vorwurf lautet, im Wesentlichen: Größe entsteht durch Opfer; seien es die Frauen in Goethes Leben (nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Vorgängerin Friederike Brion, die ebenso schnöde Verlassene, deren sie immer wieder gedenkt), seien es die Männer (sein versklavter Sohn, seine instrumentalisierten Hausgenossen). Sie alle würden von der Größe des Genius angezogen wie die Mücke vom Licht; und dann würden sie natürlich verbrennen. Ist die Größe das wert? Der Genius nun weicht zwar aus ins Gnomisch-Allgemeine und Geheimnisvolle, nimmt dann jedoch dankbar das zunächst banal klingende Gleichnis von der Mücke und dem Licht auf. Es liege ihm auch am Herzen (was die vielen Flammentode in seinem Werk redlich bezeugen), doch, in der Bildlogik gesprochen und weitergedacht: Wenn er die Flamme sei, dann würde sich diese doch selbst verzehren, würde ihren Leib dafür geben, dass ein Licht leuchte! Ohne Opfer, ohne: das Selbstopfer des Dichters gibt es kein Licht in der Literatur, vielleicht sogar: in der Welt? Wäre in ihm selbst, im realen jungen Goethe also, nicht ein Werther gestorben, hätte er sich selbst nicht in dieser vom eigenen Herzblut zehrenden Flamme seinem Werk zum Opfer gebracht – würden all die, die jetzt ihn (und ja auch die unsterblich gemachte Lotte in Weimar) umkreisend verehren, gar nichts zu verehren haben: „Einst verbrannte ich dir und verbrenne dir allezeit zu Geist und Licht“. Das alles ist jedoch nötig im großen Gang des Ganzen, ist Wandlung, Metamorphose, Tod und Wiedergeburt in einem; und so, wie die Mutter in ihren Kindern fortlebt, lebt der Dichter in seinem Werk und verwandelt sich mit jedem neuen Leser. Das Werk jedoch wird umso mehr leuchten, desto stärker der Lebensstoff war, von dem es zehrt: „Leidenschaft schafft Leiden“, und ohne Leidenschaft – bleibt das Werk ein blasses Flämmlein.
Das nun ist höhere Schöpfungs-Metaphysik, und als solche kann man es glauben oder nicht. Man kann es gern auch ironisch lesen; oder man kann (wie der Film) Lotte den Preis geben, die die Schwäche des Genius mutig und argumentativ überzeugend auf den Punkt gebracht hat. Es ist das bleibende Verdienst von Thomas Mann, Lotte in diesem Roman eine überzeugende und bleibende Stimme gegeben zu haben; und das ist etwas, wozu Goethe, all der gelegentlich starken Frauengestalten in seinem Werk zum Trotz, vielleicht dann doch nicht fähig gewesen wäre (es sei denn, er hätte jemals einen Roman über Charlotte von Stein geschrieben, die ihm anscheinend weitestgehend gewachsen war; vielleicht eine Aufgabe für eine – Autorin?).
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