Zu Sarah Perrys Roman Enlightenment
Natürlich muss man ein Buch mit dem vielversprechenden Titel Enlightenment kaufen – Aufklärung, die große heroische Epoche der europäischen Menschheit; Aufklärung, die Zentralmetapher des Denkens überhaupt, des Wissenswollen, der ewigen Neugier; Aufklärung, das wunderbare Gefühl des sich lichtenden Himmels, wenn die Sonne hervortritt! Der Roman mit diesem Titel aber – entpuppte sich bei der Lektüre beinahe als das Gegenteil von all dem, bei der ersten Lektüre jedenfalls. Die Sonne war wenig zu sehen; in Aldleigh in der ostenglischen Grafschaft Essex, dem fiktiven Kosmos der Handlung, scheint es ständig zu regnen, und der Roman beginnt mit dem lakonischen Anfangssatz: „Monday. Late winter, bad weather“. Die Hauptfigur, der Journalist und Autor Thomas Hart, entdeckt im Verlauf des Romans auch nicht die Sonne, sondern den Nachthimmel. Zuerst schaut er nur auf Anweisung seines Arbeitgebers und mehr oder weniger aus Langeweile mit einem geschenkten Teleskop den Mond an – und dann verliebt er sich, in die Städte auf den Mond, in die Sterne, und vor allem: in die wiederkehrenden Kometen auf ihren elliptischen Bahnen um die Sonne! Und schließlich geht es zwar auch um Physik, aber genauso viel um Religion in diesem Roman: Eines seiner Gravitationszentren ist Bethesda (aramäisch für „Haus der Gnade“), eine Gemeinde der strikteren baptistischen Observanz, in der Grace Macaulay, die zweite Hauptfigur, aufwächst. Und als Thomas Hart das „wretched child“ Grace, ein erbärmliches mutterlose Wesen kurz nach seiner Geburt das erste Mal in Bethesda (aramäisch für: Haus der Gnade) erblickt: Nimmt er es an, als Gnade (grace) mit Geist, Herz und Hand. Als Doppelsterne umkreisen sich Thomas und Grace fortan in diesem Roman; ein Paar, wie es unterschiedlicher kaum sein könnte – Mann und Frau, Jung und Alt, Weltlich und Religiös, Homo- und Heterosexuell, Groß und Klein, Konventionell und Unkonventionell, man könnte die Dualismen immer weiter durchdeklinieren. Und doch: Sind beide aneinander gebunden, mit Knoten (die Metapher kommt vor, es ist eine der interessantesten Episoden des an wunderbaren Episoden reichen Romans), die tiefer und fester reichen als die von Familie, Verwandtschaft oder sogar Liebe. Denn das, was sie aneinander fesselt, ist die reine Anziehungskraft zwischen zwei menschlichen Wesen mit stark ausgeprägter Persönlichkeit und einer geradezu sonnenhaften Einsamkeit, die in ihrer Art und ihrem Leben so wesensverwandt sind, wie sich nur extreme Gegensätze verwandt sein können.
Zu kompliziert, zu viele astronomische Metaphern? Ach, es ist so langweilig und so unwichtig, Handlung nachzuerzählen für einen Roman, in dem es nicht um menschliche Handlungen geht (jedenfalls nicht primär), sondern um den Wandel von Planeten und Menschen; um die unverstandenen, aber: desto wirksameren Anziehungs- und Abstoßungskräfte zwischen Menschen, gezeigt am Beispiel der Liebe; und um, wenn man es mehr philosophisch-abstrakt sagen will: das Äquivalenzverhältnis von Physik und Religion im Blick auf ihre Funktion für den Menschen und die Stellung des Menschen in der Welt. Enlightenment nämlich, Aufklärung: ermöglichen beide, sie ermöglichen es sogar gleichzeitig für die gleiche Person. Sie schließen sich nicht aus, nein; sie sind die beiden Brennpunkte innerhalb der Ellipse, deren Mittelpunkt der Mensch bildet. Und mal ist man näher an dem einen, und mal ist man näher an dem anderen; Erleuchtung, Aufklärung, das sind nur zwei Begriffe für die gleiche Erfahrung, und beide sind: Formen des Nicht-Sicher-Wissens. Denn am Ende kommt es nicht auf Wissen oder Sicherheit an; worauf es ankommt, ist – aber das wäre jetzt ein Spoiler. Oder doch nicht? Na gut, verraten wir die letzte Zeile. Sie lautet: You are her. You are here. You are here.
Aber, um sich nun doch ein wenig von der verführerischen Himmels-Metaphorik wegzubewegen und mehr irdischen Dingen zu kommen: Die Autorin heißt Sarah Perry, sie hat schon einige öffentliche Anerkennung bekommen, das kann jede selbst nachlesen. Enlightenment ist ihr vierter Roman; und er enthält wahrscheinlich die meisten autobiographischen Elemente, vor allem: ihre eigene Kindheit und Jugend in einer Baptistengemeinde in Essex, fern von den Freuden und Gefährdungen der „normalen“ Altersgenossinnen. Sie selbst hat in Interviews immer wieder hervorgehoben, dass die familiäre und kulturelle Restriktion ihrer Lektüre auf die King-James-Bibel und Shakespeare einen wesentlichen Einfluss auf ihren Stil bis heute ausübt; und selbst als nicht-muttersprachliche Leserin kann man die Lakonik der Formulierungen, das Schwergewichtige einzelner Worte und Sätze mitspüren und genießen: eine Sprache ohne Selbstzweifel, sozusagen, die sich selbst vertraut und die immer sagt, was sie meint (sogar in den gelegentlichen ironischen Passagen; das geht!). Und Sarah Perry hat auch gesagt, dass sie sich nicht traumatisiert fühlt durch die Einschränkungen ihrer Jugend; nein, gerade die Geschlossenheit des familiären und religiösen Kosmos sei immer auch eine Quelle von Geborgenheit und Vertrauen gewesen – ein Gefühl, das auch die Figuren des Romans überkommt, wenn sie die äußerlich schmucklose Fassade von Bethesda sehen; daneben liegt das verwahrloste Potter’s Field, in dem die Dohlen gottlos krächzen, und jenseits davon das alte Herrenhaus, in dem es spukt und die Vergangenheit für immer lebendig geblieben ist. Alle Kraftzentren des Romans, bis hin zum Eisenbahn-Viadukt, unter der Thomas Hart lebt, sind die von Perrys eigener Jugend in Chelmsford. Und eines der Leitmotive des Romans ist einem alten Kirchenlied entnommen, das sie sicherlich oft genug mitgesungen hat in der Gemeinde: It is well, it is well with my soul – das ist das Versprechen von Bethesda, dem alle Versuchungen des örtlichen Pubs oder gar des Sündenbabels London nichts anhaben können, nicht einmal, wenn die Seele wirklich leidet.
Das ist der geographische Raum des Romans, er ist begrenzt, aber das macht nichts: Denn der Roman greift ja auf einer anderen Ebene weit aus in die Welt der Sterne. Er zitiert sogar physikalische Gesetze, die Thomas Hart selbst als Anfänger studiert und seinen Lesern in der Lokalzeitung in altmodischen Kolumnen zu erklären versucht (und die Perry selbst in der Zeit der Roman-Niederschrift studierte und auch mathematisch nachvollziehen zu versuchte). Wenn man selbst ein mathematischer und physikalischer Novize ist – worauf man im Übrigen nicht stolz sein sollte –, kann man sich aber auch auf die Liebeshandlung konzentrieren. Denn die gibt es auch, sie ist sozusagen der weltliche Brennpunkt der Ellipse; beide Hauptfiguren sind große und unglücklich Liebende. Thomas Hart also zum Ersten, ein eingefleischter Junggeselle, geschmackvoller und gebildeter homosexueller Mann mittleren Alters, der seine leiblichen Bedürfnisse und seinen stark ausgeprägten Schönheitssinn diskret in London befriedigt, bevor er nach Aldsleigh zurückkehrt und in Bethesda Hymnen singt; der seine altmodischen Kolumnen über die Physik des Universums und ihre Beziehung zum Menschen schreibt und daneben Romane; Thomas Hart verliebt sich in James, den ansehnlichen Leiter des örtlichen Museums. James wird sein Bundesgenosse bei der Jagd auf die rätselhafte Maria Vaduva, den Geist des lokalen Herrenhauses; aber leider, leider ist James glücklich verheiratet mit der liebreichen Emily. Und er lässt sich eine Zeitlang anziehen von der Schwerkraft, die Thomas auf alle ausübt, die ihn umgeben, aber er bleibt ein schwacher Komet auf eigener Bahn –der zwar wieder auftaucht, aber sich dann in Sternennebel auflöst, so wie es alle Kometen früher oder später tun.
Grace hingegen, das wretched child, verliebt sich in Nathan, der Pop-Musik hört, eine alte Lederjacke trägt, ihr das Rauchen beibringt und sich um niemand schert. Aber auch Nathan ist nur ein Komet, wenn auch ein heller leuchtender als James; er nähert sich Grace an, und dann verschwindet er wieder, lange Jahre, bevor ihn seine eigene Bahn wieder in ihre Nähe bringt und die magische alte Anziehungskraft erneut auf ihn zu wirken beginnt. Daneben und dazwischen verlaufen die Bahnen der anderen Figuren, von denen jede einzelne, sogar die unsympathischen, geradezu biblisch-monumental wirken in ihrer Bestimmtheit. Und neben den Lebenden wirken gleichberechtigt die Toten, Maria Vaduva ist definitiv ein eigener Stern. Tiere sind eingewoben, die Dohlen aus Potter’s Field und verschwindende Katzen; Bäume erzählen ihre Geschichten, Kleider gewinnen ein Leben aus ihren Trägern, und Haare werden geschnitten, wachsen nach und dünnen aus – Komet, das ist der Haarschweif im Griechischen. Aber das, was sie alle zusammenhält und auseinandertreibt, was sie anzieht und abstößt, das ist: die Liebe; nicht verstanden als unbeherrschbarer eros (obwohl Sexualität eine wichtige Rolle dabei spielt, wenn auch glücklicherweise nicht besonders explizit), nicht verstanden als romantische Schwärmerei, sondern: als Himmelsmacht in einem wörtlichen Sinne. Als Anziehung zweier Körper wie Geister, unter den Gesetzen der Schwerkraft und der ewigen Bewegung. Niemand kann sich in diesem Roman aussuchen, in wen oder wann er sich verliebt; nein, Liebe stößt einem zu, im ersten Moment der Begegnung, und man kann versuchen, vor ihr zu fliehen, aber sie holt einen, nach ewigen Gesetzen, wieder ein im Lauf ihrer elliptischen Bahnen. Und man kann auch versuchen, sie zu jagen, aber sie wird sich trotzdem entfernen, periodisch, immer wieder. Man kann sogar gleichzeitig hassen und lieben, das ist eine wesentliche Lektion, für Thomas wie für Grace; gleichzeitig, darauf kommt es an (nacheinander wäre trivial)!
Aber es liegt in der Natur des Universums, dass Liebe niemals ein Austausch unter Gleichen ist. Dafür zitiert Perry (es gibt noch viel mehr Zitate im Roman, aber wie in allen guten Büchern kann man das Wesentliche auch unabhängig davon verstehen) ein bekanntes Gedicht von W.H. Auden bzw. seine bekannteste Zeile: If equal affection cannot be, / Let the more loving one be me. Das Gedicht verdient, zur Gänze gekannt zu werden (und es ist eine besondere Freude, es zu übersetzen; wie immer, ist das Ergebnis dann unbefriedigend, aber einzelne Verse immerhin können einem persönlich fast gelungen vorkommen; das ist gut genug! Originaltext+Ergebnis siehe unten). Diese Lektion ist ziemlich schwer, weil man sich intuitiv gegen sie wehren möchte; aber, nun ja, mit einiger Lebenserfahrung: Ist der Vordersatz erst einmal richtig. Einer liebt immer mehr als die andere. Aber der Nachsatz, der Nachsatz! Da muss sich jede prüfen, und das nicht nur theoretisch. Denn der mehr Liebende scheint der Stärkere zu sein; aber er fühlt sich selbst als der Schwächere, und natürlich ist er gleichzeitig auch derjenige, der mehr leidet. Wer diesen Roman mit ganzem Herzen liest; und dabei Thomas Hart ein wenig in selbiges schließt, seiner Stärke und Schwachheit wegen; und dann mit ihm warten muss, ob der Komet wiederkommt oder nicht, und er wartet und wartet, und er schreibt Emails an eine Adresse, die nicht mehr abgerufen wird, und am Ende – nein, kein Spoiler. Oder doch, einfach nur, um diesen Satz zitieren zu können: „But I wont’t have you think my heart was broken because it was a man I loved. My heart was broken because I was alive”. Und vielleicht kann man es sich ja auch gar nicht aussuchen, ob man der mehr Liebende ist oder der Geliebte?
Denn das macht den Roman zu einer in gewissem Sinne unversöhnlichen Lektüre: Er stößt viele moderne Selbstverständlichkeiten vor den Kopf. Die Autorin hat zugegeben, dass sie das sogar recht gern tut: „There’s a mischief in me when I write, and I really like provoking and surprising readers and ideally winding them up” (Wenn ich schreibe, steckt ein Schalk in mir, und ich genieße es, die Leser zu überraschen, zu provozieren oder sie sogar aufzuziehen), hat sie in einem Interview mit dem Observer gesagt. Das tut sie so gekonnt, dass man sogar ins Zweifel gerät, ob an dem ganzen Hype um creative writing – was sie studiert hat und inzwischen universitär unterrichtet – doch etwas dran sein könnte? Aber sie könnte auch einfach eine geborene Autorin sein (und wahrscheinlich ist beides richtig und wichtig). So wie Thomas Hart, der schreiben muss, obwohl es ihn nicht glücklich macht. Aber auch Grace hat eine besondere Begabung: Sie restauriert alte Kleider und Stoffe und schafft darauf neue, verrückte, verwegene Kreationen, in denen die Zeiten übereinander gelagert und gleichzeitig anwesend sind wie in einem Palimpsest (ja, auch das ist ein schwaches Leitmotiv im Buch). Der Roman präsentiert nämlich auch eine avancierte physikalische Theorie der Zeit; sie ist kompliziert zu verstehen. Aber es wäre recht schön, sie zu verstehen – das macht Arbeit, und das ist ziemlich schwierig, aber es wäre eigentlich gut und richtig das zu tun.
Für physikalische und mathematische Novizen hingegen – kann man auch einfach den Roman lesen und die darin gebannten räumlichen, zeitlichen und menschlichen Kräfte auf sich wirken lassen. Gern auch zweimal, das ist sowieso immer eine gute Idee. Und wenn sie wirken, wenn man angezogen wird und wieder abgestoßen, wenn man Fülle erfährt und Entzug, und wenn man von nun an immer warten wird auf den nächsten Kometen – hat man etwas gelernt über das Wesen des Universums, der Literatur und der Liebe. Was kann man mehr von einem Roman erwarten?
Sarah Perry, Enlightenment. Mariner Books 2024 (eine deutsche Übersetzung liegt noch nicht vor).
W.H. Auden: The More Loving One
Looking up at the stars, I know quite well
That, for all they care, I can go to hell,
But on earth indifference is the least
We have to dread from man or beast.
How should we like it were stars to burn
With a passion for us we could not return?
If equal affection cannot be,
Let the more loving one be me.
Admirer as I think I am
Of stars that do not give a damn,
I cannot, now I see them, say
I missed one terribly all day.
Were all stars to disappear or die,
I should learn to look at an empty sky
And feel its total dark sublime,
Though this might take me a little time.
Der Liebendere
Schau ich zu den Sternen hinauf, kann ich gut verstehen:
Ginge es nach ihnen, so mag ich zur Hölle gehen!
Aber Gleichgültigkeit ist das Geringste auf Erden hier
was wir zu fürchten haben, ob von Mensch oder Tier.
Wie würde es uns denn gefallen, gäbe es Sterne, entbrannt
mit einem Feuer für uns, das niemand erwidern kann?
Wenn es also gleiche Anziehung nicht gibt:
Lass mich denjenigen sein, der mehr liebt!
Und obwohl ich die Sterne bewundere und dazu stehe,
denen das im Übrigen vollständig egal ist,
kann ich nicht sagen, wenn ich sie aufgehen sehe:
Ich habe dich den ganzen Tag lang schrecklich vermisst!
Wenn alle Sterne sterben würden oder verschwinden,
so würde ich wohl lernen, in einen leeren Himmel zu blicken
und würde seine totale Finsternis überwältigend finden,
auch wenn es ein wenig dauern würde, mich darein zu schicken.
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