
Auf den überlieferten Schwarz-Weiß-Fotos hat sie den etwas furchterregenden Blick der strengen professionellen Suffragette. Aber sie ist keine Vertreterin der frühen Emanzipationsbewegung, sondern eine der bekanntesten und erfolgreichsten Repräsentantinnen des frühen Pazifismus in Deutschland und in Österreich: Bertha von Suttner. Die „Friedens-Bertha“ wurde sie manchmal abschätzig genannt, aber es gibt schlimmere Spitznahmen. Ja, sie schaut streng, und sie schaut entschieden auf den Fotos ihrer mittleren und späten Jahre; aber man sieht auch noch ein wenig das hübsche junge Mädchen durchschimmern, das sie einmal war, das wohlfrisierte schwarze Locken hatte und Spitzenkleider und wertvollen Schmuck. Bertha Sophia Felicita Gräfin Kinsky von Wchinitz und Tettau, das war ihr Geburtsname, und er war eine mehrfache Verpflichtung: Denn sie war von altem böhmischen Adel, ihre männlichen Vorfahren und Verwandten waren Generäle und verdiente Militärs gewesen. Und das was sie in ihrem ersten Erfolgsroman mit dem ur-pazifistischen Titel Die Waffen nieder! die Titelfigur über ihre Kindheit sagen ließ, spiegelt wohl auch ihre eigene Kindheit und Erziehung wieder (aber wir sehen sie darin immerhin auch ein wenig als Frauenrechtlerin):
Aus alledem brauche ich nicht zu schließen, daß ich eine Heldennatur besaß. Die Sache lag einfach so: ich war begeisterungsfähig und leidenschaftlich; da habe ich mich natürlich für dasjenige leidenschaftlich begeistert, was mir von meinen Lehrbüchern und von meiner Umgebung am höchsten angepriesen wurde.
Mein Vater war General in der österreichischen Armee und hatte unter »Vater Radetzky«, den er abgöttisch verehrte, in Custozza gefochten. Was mußte ich da immer für Feldzugsanekdoten hören! Der gute Papa war so stolz auf seine Kriegserlebnisse und sprach mit solcher Genugthuung von den »mitgemachten Campagnen«, daß mir unwillkürlich um jeden Mann leid war, der keine ähnlichen Erinnerungen besitzt. Welch eine Zurücksetzung doch für das weibliche Geschlecht, daß es von dieser großartigsten Bethätigung des menschlichen Ehr- und Pflichtgefühls ausgeschlossen ist! … Wenn mir je etwas von den Bestrebungen der Frauen nach Gleichberechtigung zu Ohren kam – doch davon hörte man in meiner Jugend nur wenig und gewöhnlich in verspottendem und verdammendem Tone – so begriff ich die Emanzipationswünsche nur nach einer Richtung: die Frauen sollten auch das Recht haben, bewaffnet in den Krieg zu ziehen. Ach, wie schön las sich’s in der Geschichte von einer Semiramis oder Katharina II.: »sie führte mit diesem oder jenem Nachbarstaate Krieg – sie eroberte dieses oder jenes Land …«
Bertha von Suttner genoss aber nicht nur die problematischen Vorzüge einer militaristischen Imprägnierung, gegen die sie offensichtlich schon früh inneren Widerstand leistete; nein, sie genoss auch die erheblichen Vorzüge einer soliden Adelserziehung auch für die Frauen, sie lernte mehrere Sprachen, sie durfte sich mit Musik beschäftigen, sie reiste mit der Familie und sah verkehrte sicherlich auch in gebildeten Kreisen. Doch dann, auch das ein typisches Adelsschicksal der Zeit, verarmte die Familie nach dem Tod des Vaters (und wohl aufgrund der Spielleidenschaft der Mutter); Bertha wurde Hauslehrerin in der Familie des Industriellen Karl Freiherr von Suttner und unterrichtete nun ihrerseits die vier Töchter in Musik und Sprachen. Und, auch das ist wenig originell: Verliebte sich dabei in den jüngsten Sohn der Familie, Arthur Gundaccar von Suttner – aber bevor wir zu dieser Beziehung kommen, schieben wir eine Anekdote ein, die bis heute gern erzählt wird, weil sie zeigt, wie die Geschichte selbst die besten Lebens-Drehbücher schreibt.
Es geht in ihr um ein Mann, dessen Name sich in die Geschichte des Friedens und des Kriegs unauslöschlich eingeschrieben hat; und beides ist dabei so eng verknüpft, dass die Nachwelt bis heute nicht recht weiß, wie sie damit umgehen soll. Alfred Nobel war zehn Jahre älter als Bertha; geboren in Schweden, und sein Familienhintergrund war ein ganz anderer: Die Vorfahren und Verwandten waren Universalgelehrte, Erfinder, Ingenieure und Industrielle gewesen. Auch sein Vater war ein namhafter Erfinder; doch auch er war noch zu Alfreds Kindheit verarmt nach einigen geschäftlichen Fehlschlägen; man zog eine Zeitlang nach Petersburg, und der Vater machte einige neue Erfindungen und berappelte sich, und so konnte man dem offensichtlich hochbegabten Sohn dann doch eine sehr gründliche Erziehung durch Privatlehrer zukommen lassen. Auch er wuchs sozusagen mehrsprachig auf; und er schrieb Gedichte, noch nicht einmal schlecht. Besonders begabt aber zeigte er sich in den Naturwissenschaften und in der Chemie, und schon mit 24 Jahren beantragte er sein erstes eigenes Patent.
Aber es schien eine besondere Obsession in der Familie für Sprengstoffe zu geben. Gerade war das Nitroglycerin erfunden worden, ein mächtiger Sprengstoff, der die militärische Welt verändern sollte; aber es gab keine sichere Methode, es zu zünden und damit handhabbar zu machen, durchaus auch für nicht-militärische Zwecke. Daran arbeitete der junge Alfred intensiv in der väterlichen Firma, und man führte Experimente durch – bis eines Tages eine Fabrik explodierte und fünf Mitarbeiter tötete, darunter Nobels jüngeren Bruder Emil. Alfred ist schockiert, aber lässt nicht ab; er muss eine noch sicherere Methode finden, den gefährlichen Sprengstoff zu zähmen! Und so erfindet er, eher zufällig, wenig später das Dynamit. Und er wird reich damit; nicht mit den kriegerischen Anwendungen (Dynamit hat keinerlei militärische Einsatzmöglichkeit), sondern mit großindustriellen. Lebenslang experimentierte er weiter mit Sprengstoffen und Zündungsmöglichkeiten; er wurde reicher und reicher, aber seitdem ihn eine Zeitschrift nach dem Tod des Bruders als „Kaufmann des Todes“ betitelt hatte, sorgte er sich um seinen Nachruhm.
Und hier treffen wir nun endlich auf Bertha! Denn sie hatte 1876 auf eine Stellenanzeige geantwortet, mit der er eine Privatsekretärin suchte; eine Woche lang arbeitete sie für ihn in Paris, danach wurde er nach Schweden abberufen, und das Arbeitsverhältnis endete abrupt wieder. Beide blieben jedoch in einem lebenslangen Briefwechsel über die Fragen von Krieg und Frieden, und Alfred war von Bertha so beeindruckt, dass er sie als erste Kandidatin vorschlug, als er schließlich dasjenige Unternehmen ins Werk setzte, das ihn besser unsterblich machen sollte als das Dynamit: nämlich die Stiftung des Friedensnobelpreises. Denn Alfred hatte keine Erben; und so gründete er eine Stiftung, die sein nicht unerhebliches Vermögen verwalten sollte und die Zinsen daraus jährlich als Preise ausschütten sollte für diejenigen, „die im vergangenen Jahr der Menschheit den größten Nutzen erbracht haben“ – aufgeteilt in diejenigen Bereiche, die ihn sein Leben lang selbst interessiert und beschäftigt hatten: die Naturwissenschaften Chemie, Physik und Medizin; dazu die Literatur und schließlich – der Frieden. Der Friedensnobelpreis sollte dabei demjenigen zukommen, so bestimmte er, der „am meisten oder am besten auf die Verbrüderung der Völker und die Abschaffung oder Verminderung stehender Heere sowie das Abhalten oder die Förderung von Friedenskongressen hingewirkt hat“.
Die Liebe zu Arthur von Suttner brachte Bertha die Kündigung als Hauslehrerin ein, aber ermöglichte damit auch die kurze Nobel-Episode. Nach ihrer Rückkehr nach Wien heirateten die beiden heimlich, und Arthur wurde folgerichtig enterbt von seiner Familie. Damit beginnt eine etwas dunkle Exil-Episode: Denn das junge Paar zog in den fernen Kaukasus, nach Georgien, zu einer Fürstin, deren Familie lange Zeit das georgische Mingrelien beherrscht hatte. Man lebte von diesem und jenem; Bertha gab Sprachunterricht und schrieb, die beste Schule für angehende Autorinnen bis heute: Unterhaltungsromane. Und dann begann ein neuer Krieg im fernen Kaukasus, es war der russisch-türkische; Arthur wurde Kriegsberichterstatter, auch Bertha wurde journalistisch tätig, unter dem bemerkenswerten Pseudonym B. Oulot (für französisch le boulot, die Arbeit). Als die beiden dann endlich nach Österreich zurückkehren durften, von der Familie wieder aufgenommen wurden und das Familienschloss bezogen hatten, blieb Bertha bei der Arbeit: Sie schrieb weiter, und sie hatte Erfolg, und sie begann sich immer mehr für das zu interessieren, was bald ihr Lebensinhalt werden sollte, nämlich: den Kampf für den Frieden!
Mit 46 Jahren dann schrieb sie den Roman, aus dem wir oben schon zitiert haben: Die Waffen nieder!, er wurde ein Welterfolg. Es ist die Geschichte einer österreichischen Gräfin, deren Leben ganz wörtlich von Kriegen verwüstet wurde: Sie verliert ihren ersten Mann im Sardinischen Krieg; ihre Schwestern und ihr Bruder sterben an den Folgen der durch den Krieg ausgelösten Cholera, ihr Vater stirbt aus Gram über den Verlust seiner Kinder. Ihr zweiter Mann, von ihr zum Pazifismus bekehrt, zieht sich von seinem Offiziersposten zurück; er wird daraufhin während des Deutsch-Französischen Krieges verdächtigt, ein preußischer Spion zu sein und standrechtlich erschossen. Ist es ein Wunder, dass die Hauptfigur traumatisiert ist, und dass sie zur überzeugten Pazifistin wird? Und ist es nicht interessant und aufschlussreich, wie sie ihren psychischen Zustand nach der Erschießung ihres Ehegatten bereits präzise als Posttraumatische Belastungsstörung beschreibt (PTSD)?
Aber der Schmerz war zu unerträglich: ich verfiel in geistige Nacht. Und nicht nur dieses eine mal. Im Lauf der Jahre – in immer längeren Zwischenräumen – blieb ich Rückfällen von Tiefsinn unterworfen, von welchen mir dann in genesenem Zustande gar keine Erinnerung blieb. Jetzt, seit mehreren Jahren, bin ich schon ganz frei davon. Frei von der bewußtlosen Schwermut heißt das, nicht aber von bewußten Anfällen bittersten Seelenschmerzes. […] Das ist etwas ganz eigentümliches, das ich schwer beschreiben kann, und das nur solche verstehen werden, welche ähnliches an sich erfahren haben. Es deutet wie auf ein Doppelleben der Seele. Wenn auch das eine Bewußtsein, im wachen Zustande, von den Dingen der Außenwelt so eingenommen sein kann, daß es zeitweilig vergißt, so gibt es in der Tiefe meiner Persönlichkeit noch ein zweites Bewußtsein, welches jene schreckliche Erinnerung immer mit dem gleichen treuen Schmerz bewahrt; und dieses Ich – wenn das andere eingeschlafen – macht sich dann geltend, rüttelt das andere gleichsam auf, um ihm sein Leid mitzuteilen. Allnächtlich – es dürfte immer um dieselbe Stunde sein – erwache ich mit einem unsäglichen Wehgefühl … Das Herz krampft sich zusammen und mir ist, als sollte ich bitter weinen, kläglich schluchzen. Das dauert so einige Sekunden, ohne daß das aufgeweckte Ich noch weiß, warum jenes andere unglückliche gar so unglücklich ist …
Bertha von Suttner wird nach dem Erfolg ihres aufrüttelnden Romans zu einer Art Funktionärin des Pazifismus für den Rest ihres Lebens wurde. Wobei man den Begriff „Pazifismus“ dafür noch gar nicht allzu lang hatte. Er ist zusammengesetzt aus zwei lateinischen Wörtern, nämlich dem Frieden, pax, und dem Verb facere: etwas tun, machen, herstellen. Pazifisten sind also, vom Wort her, nicht nur Leute, die an den Frieden glauben und nicht an den Krieg; die – mehr oder weniger absolut – Gewaltverzicht fordern und Verzicht auf militärische Gewalt; sondern Leute, die den Frieden herstellen wollen, als eine Ordnung und als eine Haltung! Deshalb war Bertha auch dafür, den recht schönen alten deutschen Begriff der „Friedensfreunde“ aufzugeben; nein, wenn man den Frieden schaffen, herstellen, sichern wollte, den ewigen Frieden, dann musste man ihn organisieren – so professionell wie eben möglich!
Zur Umsetzung dieses Programms entstanden die großen pazifistischen Vereinigungen der verschiedenen Staaten, wurden die ersten großen internationalen Friedenskongresse organisiert, und Bertha wurde zur Handelsreisenden in Sachen Frieden: Bis in die Vereinigten Staaten kam sie, und der Präsident Theodore Roosevelt empfing sie im Weißen Haus. Zu dieser Zeit war ihr Mann bereits verstorben; und ein Jahr später, 1905 würde Bertha dann endlich den Friedensnobelpreis bekommen, für den sie Alfred Nobel schon gleich am Anfang vorgeschlagen hatte, die erste Frau, die diese Ehrung bekam (und eine der wenigen bis heute). Und sie blieb, wie man heute sagen würde: aktivistisch, sogar intersektional; sie setzte sich, aus den gleichen humanitären Beweggründen, auch für einen stärkeren Tierschutz ein und für die Frauenrechte. Derweil jedoch rüstete die Welt ungerührt weiter, stärker als je zuvor; und weit vor dem zynischen Konzept eines „Gleichgewicht des Schreckens“, sogar noch vor der Völkervernichtung im Ersten Weltkrieg, die erst durch die neuesten militärtechnischen Entwicklungen – darunter das Giftgas – möglich war, warnte sie nach dem ersten Bombenabwurf aus einem Flugzeug hinaus:
„Und mit jedem Tag wird der Krieg verbrecherischer. Denket an die aus Wolkenhöhen herabfallenden Sprengstoffbomben, die zum erstenmal in diesem Feldzug erprobt worden sind. ‚La prima Torpedine del cielo‘, jubelten die römischen, chauvinismustrunkenen Blätter… Auf ein Lager von 2000 ruhende Menschen und Tiere wurde von einem kühnen Leutnant … eine Bombe geschleudert. Schreiend und rasend liefen die Nichtgetroffenen auseinander und auf die Fliehenden warf der ‚himmlische‘ Held noch seine übrigen Bomben. […] Nein, humanisieren läßt sich bei den heutigen und morgigen Kriegsmitteln … der Krieg nicht mehr; vergebens ist es, ihn den Gesetzen der steigenden Kultur und der erwachenden Menschlichkeit anpassen zu wollen; nur zweierlei ist möglich: daß die Zivilisation den Krieg vernichtet, oder daß im Zukunftskrieg die Zivilisation zugrunde geht.“
Bertha von Suttner starb, noch bevor der Erste Weltkrieg ihre düsteren Prophezeiungen wahr machen sollte, an Krebs. Als ihre letzten Worte sind überliefert, und auch wenn es nicht so war, könnte es so gewesen ein: „Die Waffen nieder! — sag’s vielen —- vielen“.
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