
Ihre Gestalt ist zugleich statuen- und schemenhaft. Wir sehen sie, auf unzähligen Abbildungen, als griechische Frau mittleren Alters, einen strengen Kranz über dem idealisierten Antlitz, und sie bleibt ein Schemen. Allein ein Mosaik, es stammt aus einem Fresko in Pompeji, belebt die Züge etwas: Jünger ist sie hier dargestellt, farbig, ein wenig aufgeregt leuchten die roten Wangen, und – kann das sein? – sie kaut auf einem Schreibstift herum: Sappho, die Mutter aller Dichterinnen, die einzige Frau, die es je in einen literarischen Kanon geschafft hat (den der neun berühmtesten Lyriker des Altertums), aber auch die leicht skandalumwitterte Namensgeberin der lesbischen Liebe wurde, benannt nach Lesbos, ihrer Heimatinsel, wo sie ihren Mädchenkreis um sich herum versammelte und man gemeinsam – ja, was genau weiß man denn nun eigentlich?
Sappho stammte aus einer wohlhabenden, politisch einflussreichen Familie. Sie wurde verheiratet, sicherlich ohne dass man sie nach ihren Wunsch und Willen fragte; man weiß von einer Tochter, genannt Kleis, die sie zärtlich liebte und in ihren Liedern pries. Zwischenzeitlich war die Familie ins Exil verbannt, aber man kam zurück, wahrscheinlich bereits ohne Ehemann. Und befreit von den Ehepflichten, seien sie nun lästig oder freudig gewesen, versammelte Sappho ihren Kreis um sich: junge Mädchen, aus guten Familien, wie sie selbst, die auf die Ehe vorbereitet werden, das große und einzige Schicksal der antiken Frau (wenn sie nicht Hetäre, also eine Art Edelprostituierte, werden wollte, aber das ist eine ganz andere Geschichte). Und wahrscheinlich ist das Bild, das sich die Nachwelt von diesem Kreis gemacht hat, äußerlich im Großen und Ganzen richtig: Sicherlich wurden Kränze geflochten, Verse rezitiert, die Kithara geschlagen, anmutige Gruppentänze aufgeführt; sicherlich wurden die Jungfrauen in die Geheimnisse der weiblichen Kosmetik und Hygiene eingeführt, lernten, wie man sich Haare band und den Rock schürzte, wie man die Haut pflegte und sich mit verführerischen Wohlgerüchen balsamierte.
Aber das Ganze war kein Ponyhof und auch keine höhere Töchteranstalt. Man huldigte nämlich den Musen und den Chariten, den weiblichen Göttinnen der Künste und der Anmut, der sanften Schönheit, der verführerischen Bewegung, und das war nicht irgendwie bildlich gemeint, sondern durchaus wörtlich: Diese Göttinnen waren real, allgegenwärtig, sie waren keine abstrakten ätherischen Figuren in einem fernen Himmel, sondern sie bestimmten den Alltag, sie lenkten die Geschicke der Menschen und sie bewegten das menschliche Herz – Aphrodite vor allem, die Schönste, die ewige Göttin der Liebe. Sappho besang sie in unendlichen Variationen: War die Liebe nicht wahrhaft göttlich? Setzte sie die Menschen, nein: die Frauen, nicht in einen außernatürlichen Zustand von Verzückung und Entrückung, dem Wahnsinn nahe, der körperlichen Krankheit ähnlich? Und Sappho beschrieb die Symptome dieser göttlichen Krankheit, ihre Wonnen und Leiden, und wie beide zusammengehören, untrennbar für immer. Sie beschrieb es in detaillierten, bilderreichen, virtuosen Versen, denen sie eine eigene Struktur gab, eine wiedererkennbare Form, die als sapphische Strophe in die Weltliteratur eingegangen sind: drei längere Zeilen mit einem natürlich dahinfließenden Wechsel von betonten und unbetonten Silben, man konnte an weich dahinfließendes Mädchenhaar denken und den sanften Rhythmus der Wellen am Strand von Lesbos; und daran schloss sich eine kurze Verszeile an, die den Kranz zur strengen Form vollendete.
Ob sie ihre Schülerinnen verführt hat, ob sie sie auf die Hochzeitsnacht und ihre dunklen Geheimnisse vorbereitet hat, ob man sich gegenseitig auch körperlichen Trost spendete – ist das denn wirklich so wichtig? Wichtig und wirklich waren der immer wiederholte Schmerz der Trennung, wenn wieder ein Mädchen den Kreis verließ, eine Lücke hinterließ im Kranz, eine im ersten Moment so schmerzliche Lücke, dass man meinte, sie nie wieder füllen zu können. Doch dann kam eine neue Gefährtin, mit dem gleichen weichen Haar und vielleicht etwas anders geschnittenen sanften Augen, und man nahm sie auf in den Kreis und man sang und tanzte und musizierte unter dem milden attischen Himmel, bei ewigem Sonnenschein und umgeben vom Wohlgeruch wilder Kräuter und Blumen, Aphrodite und die Musen und die Grazien sahen wohlwollend zu – bis auch dieses Mädchen wieder gehen musste. Die Zeit verfloss dabei, man merkte sie nicht; Statuen altern nicht, nur die Schülerinnen wechseln und bleiben immer jung. Dass dann aber boshafte Männer kamen, viel später, als Sappho schon längst entschwunden war und nur noch ihre Gedichte lebten (ganze neun Bücher sollen es gewesen sein!) und ihr eine Todesgeschichte andichteten, das hatte sie nicht verdient: Sie sei, aus verschmähter Liebe zum schönen Phaon, vom Felsen Leukate gesprungen, eine Verstoßene, eine Rasende (und recht geschah es ihr, sagt der Subtext dazu!). Das machte schon geographisch keinen Sinn, war aber natürlich eine gute Geschichte für die boshaften Athener. Nein, Flügel hätten sie ihr verleihen sollen, mit denen sie sich über Lesbos in den Himmel erhob, beflügelt von der eigenen Leidenschaft und dem Klang ihrer Verse! Doch sie wurde zur Skandalfigur; ihre Gedichte wurden verstreut, verbrannten in Alexandria, wurden zensiert im christlichen Mittelalter, und nur wenige Bruchstücke sind erhalten, zerrupfte Blüten, es reicht nicht einmal für einen Kranz. Behalten wir sie anders im Gedächtnis: Nicht als strenge Statue, blicklos, ideal, nicht als schwülstig verführerische Lesbe; behalten wir sie im Gedächtnis jung, mit aufgeregt roten Wangen, an einem Stift kauend.
Leseprobe:
Das Schönste
Der behauptet: Reiter, ein andrer: Fußvolk,
dieser: Schiffe seien das Schönste auf der
dunklen Erde. Aber ich selber sage:
Das, was man lieb hat.
Dies läßt sich für jeden verständlich machen
ohne Mühe: Helena, weitaus schönste
Frau der Welt, erkor sich zu ihrem Mann den
tüchtigsten Helden,
der das stolze Troja von Grund auf tilgte.
Nicht der Tochter, nicht der geliebten Eltern
dachte sie, nein, Kypris verführte sie durch
innige Liebe.
Frauenherzen werden gebrochen nämlich,
unbeständig wechseln sie ihre Neigung;
hin zu Anaktoria, in die Ferne,
leitet mich Kypris.
Meines Mädchens reizendes Schreiten, ihre
klaren Augen möchte ich lieber sehen
als der Lyder Streitwagen und vor Waffen
starrendes Fußvolk.
(Übersetzung von Dietrich Ebener)
Erläuterungen:
Der Behauptet: Anspielung auf die Epen Homers.
Helena: die schönste Frau der Welt im antiken Mythos. Ihr Raub ist die Ursache für den trojanischen Krieg, den Homer in der Ilias und der Odyssee besingt.
Anaktoria: Mädchen aus Sapphos Kreis.
Kypris: anderer Name für Aphrodite, die griech. Göttin der Schönheit und Liebe (aus Zypern stammend).der Lyder: antikes Volk im Westen Kleinasiens.