Caspar David Friedrich und Maarten von Heemskerck in Berlin
Erst dachte ich, die eine Ausstellung sei das völlige Gegenteil der anderen Ausstellung, schon von den Räumen, vom Ausstellungskonzept und vom Publikum her. Die erste war in den heiligen Hallen der Alten Nationalgalerie auf der antik inspirierten Museumsinsel; auch der ziemlich heftige Sommerregen konnte dem langen Strom anstehender und vielleicht eher sensationssuchender denn bildungswilliger Touristen nichts anhaben, und drinnen war es, trotz der meist großformatigen Nacht- und Nebelbilder, eigentlich eher hell von der Stimmung. Die andere war in einem etwas schwierig zu findenden Seitenflügel der Neuen Nationalgalerie im modernistisch-asketischen Kulturforum versteckt; sie war zentriert um einen schummrigen Innenraum, in dem kreisförmig angeordnet kleinformatige Zeichnungen Ruinen, Statuenreste und Stadtansichten die einzigen Leuchtelemente schienen, und besucht von einem kleinen Grüppchen von Bildungsbürgern im altmodischen Sinn. Hier ein Romantiker, wenig erfolgreich in seinem Leben, von tiefer Gläubigkeit, beschränkt auf deutsche Landschaften, der eine späte Renaissance erlebte; dort ein Renaissance-Künstler, professionell anerkannt und wirtschaftlich relativ erfolgreich in seiner Zeit, auf Bildungsjahr in Rom und interessiert an Genauigkeit des Details und Präzision der Einzelformen, zudem weniger an religiöser Inbrunst als an allegorischer Verwendbarkeit. Zwei Jahrhunderte liegen zwischen ihnen: Der eine starb 1574, der andere wurde 1774 geboren. Der eine war Caspar David Friedrich (1774-1840) mit seinen unter dem Titel Unendliche Landschaften präsentierten Gemälden; und der andere Maarten van Heemskerck (1498-1574) mit seinen unter dem Titel Faszination Rom gezeigten Zeichnungen.
Nun war ich anfangs durchaus geneigt, diese ja deutlich sichtbaren Unterschiede zwischen beiden auf den handlichen Gegensatz von Romantiker und Realist zu bringen. Aber mit etwas Abstand, wieder zurück aus dem trubeligen Berlin und mit Blick auf den idyllischen Garten, komme ich ins Zweifeln: Waren sie sich, trotz aller offen-sichtlichen Unterschiede in Präsentation, Thematik und Auffassung nicht doch gar verwandt, wenn man etwas tiefer in den Bildhintergrund zurücktritt? Und würde man nicht (wie so oft) weiter kommen und ein tieferes Verständnis auch des Einzelnen gewinnen, wenn man es gerade von seinem vermeintlichen Gegensatz betrachtet?
Aber der Reihe nach. Zuerst also war Caspar David Friedrich an der Reihe, einer der Stars des diesjährigen Ausstellungsjahres. Seine bekanntesten Werke sind inzwischen allgemeines Bildungsgut, und man muss deshalb etwas genauer hinschauen, wie immer, wenn man Bilder schon allzu zu oft gesehen hat und deshalb meint, sie allzu gut zu kennen (und sie zudem bedenklich oft am Kitsch angesiedelt scheinen). Außerdem haben Caspar David Friedrich und ich Geschichte, sozusagen. Sein Einsamer Baum war nämlich der erste Kunstdruck, den ich mir jemals kaufte. Es war sogar ein hochwertiger Druck auf stabilem Papier und relativ farbecht, denn er überlebte mehrere meiner jugendlichen Umzüge und begleitete mich durch die halbe Republik. Ich kaufte ihn (und ich meine zu erinnern: tatsächlich von meinem eigenen Geld!) bei meinem ersten Besuch im geteilten Berlin mit meiner Familie; ich ging noch ins Gymnasium und hatte meine Eltern, die im Rückblick erstaunlich geduldig mit den Bildungslaunen ihrer seltsamen Tochter umgingen, in die damals noch in Berlin-Dahlem residierende Gemäldegalerie verleitet, wo ich den „Einsamen Baum“ dann entdeckte. Was er in meinem jugendlich-unsicheren Kopf anrichtete, kann sich jede mit ein wenig Küchenpsychologie selbst ausmalen (ein einsamer Baum, offensichtlich schon alt und von Gewittern und Stürmen zerzaust, aber sehr charakteristisch in einem offenen Gelände; vor ihm ein kleiner Tümpel, im Hintergrund eine verdächtig symmetrische Bergkette; und bis heute dreht sich mir das Herz um, wenn ich ihn sehe).
Aber darauf kommt es nur insoweit an, als es demonstriert, wie diese Bilder unmittelbar wirken: Sie zeigen keine konkreten Landschaften (obwohl viele von ihnen vage räumlich zugeordnet sind), sondern Seelenlandschaften – und das ist wörtlich zu nehmen, nicht als verquaste Metapher! Und in Seelen, zumal jugendlichen, geht es eben gern ein wenig neblig und verschwommen zu. Sie blicken in eine nur unscharf zu erkennende Ferne, sie verträumen Mondnächte, sie suchen blaue Blumen, wo keine zu finden sind, sie schauen auf hohe Berge und weite Meere und fühlen sich klein, verschwindend, und doch irgendwie: erhoben-erhaben. Dass an entscheidenden Stellen oft kleine Kreuze stehen, dass die winzigen Figuren häufig Mönche sind und die Ruinen Kloster waren – erscheint eher nebensächlich, Religion ist eben malerisches Beiwerk, vor allem, wenn sie im Verfall ist. Nein, wir sehen in Friedrichs Landschaften das, was wir sehen wollen, sie sind unendliche Projektionsflächen. Goethe (dessen Anerkennung Friedrich so gern gehabt hätte, aber nicht bekam) sagte in einem seiner gehässigeren Momente, man könne sie auch andersherum aufhängen (und es stimmt, für einige, wenn auch nicht für den „Einsamen Baum“; aus einer anderen Perspektive spricht das aber gar nicht gegen sie). Und Kleist schrieb, in einer seiner taghellen und überklaren Momente (die ihm sein Leben so besonders unerträglich machten), der Blick auf sie sei so, als seien einem die Augenlider weggeschnitten. Stimmt auch, und wie die Äußerung Goethes spricht das in gleicher Weise für und gegen sie.
Was diese Bilder aber nicht sind, ist: Abbildungen. Denn Friedrich ging gern und viel durch die Natur, er erwanderte sich große Teile Deutschlands; und er skizzierte die Natur in sehr gründlichen und detaillierten Zeichnungen, die man auch problemlos in einem Kreis in einer Kabinettsausstellung anordnen könnte. Aber dann ging er in sein sehr ordentlich aufgeräumtes Atelier (die Ausstellung zeigte von Kollegen gemalte Bilder davon, es sind sehr untypische Atelierbilder) und malte – eine Collage aus Naturversatzstücken. Mit Kreuz obendrauf und Wolken, die für ihn höhere Religionsmalerei waren. Als Goethe ihn beauftragen wollte, zu wissenschaftlichen Zwecken Wolken-Illustrationen zu malen (er selbst hatte gerade die Wolkenlehre als neues wissenschaftliches Hobby entdeckt), lehnte Moritz ab. Er war kein Illustrationsmaler, sondern er malte den Himmel!
Und genau das, diese Collagenhaftigkeit, stupste mich auf die unerwartete Hintergrundverwandtschaft von Friedrich und Heemskerck. Denn der Niederländer streift durch Rom, das im 16. Jahrhundert ein einziges Freilichtmuseum mit Antikebruchstücken gewesen sein muss, die jeder einfach einsammeln und dann im Innenhof seines Palazzo ausstellen konnte: Säulenfragmente, abgebrochene Bögen, hier ein Frauenarm, dort ein Männertorso; pittoreske Ruinenensembles vergangener Größe, eingewachsen, umschlungen von Natur. Aber es ist im Kern eine Kulturlandschaft, in der Vergangenheit und Gegenwart ineinander verwachsen sind und in der ein Mensch, ein Pferd, ein Schuh vor allem eines gemeinsam haben: Sie sind von der Art berückender Perfektion, die wir Schönheit nennen und gelegentlich in ihrer unabweisbaren physiologischen Wirkung zu unterschätzen neigen. Während ich durch die kleine, geradezu intim abgedunkelte Ausstellung streifte – besucht von einem eher älteren Publikum mit größtenteils intimen Romkenntnissen, das auch entlegenere mythologische Anspielungen mühelos erkannte -, musste ich mit einem Anfall von Stendhal-Syndrom kämpfen: Jede einzelne Zeichnung war einfach unglaublich vollendet, in den Einzelformen ebenso wie im zufällig wirkenden Collage-Charakter der Blätter. Ein ausdrucksvoller Männerkopf, ein muskulöses Pferdebein, der präzise geschnürte Kolossalschuh, ein schräg gebrochenes korinthisches Kapitell – das alles passt auf ein Blatt, von der Rückseite scheinen noch zwei Frauenporträts durch und machen das Ganze ein wenig surrealistisch, aber immer noch: Perfekt. Schön. Alles stimmt. Man braucht die großen allegorischen Gemälde gar nicht, zu denen die Details dann zusammengesetzt werden können; man braucht nicht die Weltlandschaften (obwohl sie grandios sind und wirklich eine Welt für sich) und schon gar nicht die Kupferstiche, in denen diese unendlich lebendigen Zeichnungen in gewisser Weise stillgestellt und getötet sind. Nein, man will nur durch den Kreis streifen und die Details studieren, und dann die Komposition bewundern, und dann wieder die Details – so, als wären einem die Augenlider weggeschnitten?
Und nein, äußerlich ist alles anders: Hier gibt es keinerlei Ferne (außer in den Weltlandschaften), sondern größtenteils extreme Nähe. Und es gibt keine Nebel und keinen Dunst und keine Mondnacht, sondern die gleißende Helligkeit des Südens und die äußerste Präzision von feinem Rötel und Bleistift. Aber ich bin mir sicher: Wenn man Friedrichs „Einsamen Baum“ mitten unter die Rom-Blätter von Heemskerck stellen würde, genau in die Mitte des Kreises – er würde sich nicht unwohl fühlen dort. Vielleicht hat das damit zu tun, dass beide Welten eigentlich keine Menschen brauchen. In der einen sind sie allenfalls Rücken- und Staffagefiguren, in der anderen zu Statuen geronnene Idealkörper. Menschen stehen heute in Ausstellungen in etwas größerer Entfernung vor den Gemälden, oder in intimer Nähe vor den Zeichnungen. Sie schauen auf die Bilder und sie projizieren dabei ihre eigenen Empfindungen und Sehnsüchte (die ganz unterschiedlich sein können) hinein. Aber die Bilder bleiben davon unberührt. Sie zeigen etwas, aber sie wollen nichts bedeuten (na gut: Sie wollen nicht primär etwas bedeuten, man soll weder Religion noch Allegorie unterschätzen, nur weil sie äußerlich aus der Mode gekommen sind und man den Bildern sozusagen den Rahmen weggeschnitten hat). Sie sind einfach da, für immer. Und ich bin mir ganz sicher, sie leuchten auch weiter, wenn im Kühlschrank das Licht ausgeht!
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