In der Mitte des Lebens – etwa zwischen 40 und 50 Jahren – haben viele Menschen ihre „besten Jahre“. Sie plagen sich aber auch oft mit schweren Gedanken. Es ist eine ambivalente Zeit. Denn manchmal fällt die Bilanzierung der ersten Lebenshälfte nicht ganz so rosig aus, wie man sie sich erhoffte. Vielleicht ging nicht jeder Lebensplan auf, manch einer muss grundsätzlich ad acta gelegt werden, andere hielten vielleicht nicht das, was man sich davon versprach. Die meisten Lebensentscheidungen sind in der Mitte des Lebens gefällt. Viele von ihnen sind irreversibel oder zumindest schwer wieder aufzuheben. Das betrifft Familienplanung, die Partnerwahl oder die berufliche Ausrichtung. Möchte man sich in den „besten Jahren“ grundsätzlich umorientieren, ist das (teilweise) noch möglich, aber nicht einfach.
Große Veränderungen im Leben werden prinzipiell meistens nicht angestrebt, sondern sie werden erlitten. Sie sind darauf zurückzuführen, dass die Lebenshaltung nicht zufriedenstellend war. Der Mensch ist durch innere oder äußere Zwänge aufgerufen, seinem Leben eine neue Ausrichtung zu geben. Doch eine berufliche Umorientierung ist meistens finanziell mit großen Einbußen verbunden. Elternschaft kann weder rückgängig gemacht, noch ohne großen medizinischen Aufwand hergestellt werden. Die Partnerwahl ist – insbesondere als Eltern – in ein Geflecht aus sozialen Beziehungen und Verantwortungen eingewoben, aus dem man nicht (oder kaum) Ade sagen kann. Und so beobachtet ein jeder Mensch irgendwann grob zwischen 35 und 55 Jahren, dass sich einige Türen zuerst knarzend und dann mit einem großen Rums schließen. Nicht alles kann (oder will) noch einmal in Frage gestellt werden. Warum? Weil eine allzu große Veränderung zwar möglich, aber gemessen an der zu verbleibenden Lebenszeit (zu) aufwendig wäre. Die Leichtigkeit als Quelle der Jugend ist versiegt. Das Leben liegt nicht mehr wie ein weites, unbebautes Feld vor uns. Es ist bestellt, bebaut, verpachtet. Und es ist endlich.
Hört man in den mittleren Jahren die Trias von Entscheidungen, Erfahrungen und Endlichkeit als Melodie des Lebens erklingen, dann spätestens fragt man sich: Wäre auch ein anderes Leben im eigenen Leben möglich gewesen? Die Philosophin und Moderatorin Barbara Bleisch geht dieser Frage in ihrem neuen Buch Mitte des Lebens. Eine Philosophie der besten Jahre nach. Schließlich besitzt jeder Mensch verschiedene Talente, Leidenschaften und Interessen. Ein Leben ist zu kurz, um alle Varianten von sich selbst ausleben zu können. Wir entscheiden uns für einen Beruf, wählen Lebenspartner, werden Eltern oder auch nicht und gehen vielleicht noch einem Hobby nach. Wir leben in den Rahmenbedingungen, die wir uns selbst gesetzt haben, ungeachtet der Schicksalsschläge, die auch ohne eigenes Zutun ins Leben einschlagen. Manchmal setzt der Rahmen einen Raum für ein erfülltes und glückliches Leben, manchmal für Tristesse, Reue und Bedauern. Fast jedes Leben hat Raum für alle Gefühle. Es sind sämtliche Lebensentscheidungen, die unser seelisches Haus formen. Es hat viele Zimmer.
Melancholische Fragen rund um die eigene Lebensgestaltung sind umgangssprachlich ein Indiz für eine so genannte „Midlife-Crisis“. Den Begriff prägte 1957 der kanadischen Psychoanalytiker Elliott Jaques. Doch sind diese Fragen nicht vielmehr ein logisches Gedankenexperiment tiefsinniger Gemüter? Sollte die „Midlife-Crisis“ im positiven Sinne ein kognitives Durchlaufstadium für alle Menschen sein, das dabei hilft, das Leben rückblickend zu reflektieren und auf der Mitte des Lebens zu bilanzieren? Hilft es nicht dabei, sich selbst zukunftsfähig zu machen? Oftmals werden in der Midlife-Crisis Akzente verschoben, sich neu ausgerichtet oder gelernt, mit den getroffenen Entscheidungen ins Reine zu kommen. Barbara Bleisch will die Mitte des Lebens als Chance begriffen wissen. Ihr Buch ist jedem ans Herz zu legen, der sich den großen Fragen des Lebens und des Sterbens widmen will. Denn ein Leben kann erst dann in vollem Bewusstsein gestaltet werden, wenn man seine eigene Endlichkeit angstfrei annehmen kann. „Philosophie heißt sterben lernen“ – dieser weise Gedanke findet sich schon in Platons Dialog Phaidon, später bei Cicero und auch – und vor allem – Montaigne empfiehlt, sich rechtzeitig mit dem Tod zu arrangieren; sich an ihn zu gewöhnen.
Reiten statt sprinten: Auf in die Balance des Lebens!
Man kann sich lesend und schreibend den großen Fragen des Lebens widmen oder ihnen auch reitend begegnen (die Verfasserin des Textes lacht). Ich mache gerne beides. Denn ich liebe nicht nur Bücher, sondern auch Pferde. Zu einer meiner wichtigsten Lebensentscheidungen (für manche unvorstellbar, ich weiß!) zählt der Kauf meiner jungen Stute Samira. Sie trat schicksalhaft als Option in mein Leben, als gerade ein lang gehegter Lebenstraum dumpf auf die bereits knarzende Lebenstür aufschlug und wie ein rohes Ei an ihr zersprang. Rums, und die Tür war zu! Vielleicht ist das Anerkennen und Annehmen des eigenen Scheiterns eine der schwierigsten Aufgaben in der Mitte des Lebens. Vermutlich misslingt fast bei jedem Menschen etwas, das er betrauert – das kann eine gescheiterte Familienplanung sein, eine Scheidung, der Verlust eines lieb gewordenen Menschen, eine verpfuschte Karriere oder der Kampf mit einer schweren Diagnose. Jeder Mensch trauert auf seine Weise – der eine mehr, der andere weniger. Und bei wem das Leben glatt verlief wie im Sprint auf einer 50-Meter-Tartanbahn, der fängt spätestens auf der Mitte des Lebens an, sich furchtbar zu langweilen und nach neuen Zielen zu suchen.
Langweilig war es in meinem Leben nie. Und der Kauf meiner hübschen Stute läutete bei mir pünktlich zum 40. Geburtstag die „besten Jahre“ ein. Die zeitaufwändige Ausbildung von Samira durch eine brillante Trainerin führte mich zur École de Légèreté, also zur „Schule der Leichtigkeit“. Es ist eine Lehre, die auf den Erkenntnissen der großen Reitmeister basiert. Diese Lehre setzt auf eine vertrauensvolle Kommunikation zwischen Reiter und Pferd mit Unterstützung von feinsten, kaum sichtbaren Hilfen. Diese Reitkunst ist äußerst schwer zu erlernen, sieht aber in ihrer Vollendung spielend leicht aus. Ich bin noch weit davon entfernt! (Bild rechts: Der französische Reitmeister und Begründer der École de Légèrté Philipp Karl)
Die „Schule der Leichtigkeit“ dient der Aufrichtung des Pferdes, und zwar sowohl körperlich als auch mental. Im Vorwärtslaufen richten sich Pferd und Reiter nach oben. Was biomechanisch auf eine Verstärkung der Hinterhandtätigkeit zurückzuführen ist, lässt sich metaphorisch als eine gelungene Verbindung zwischen Himmel und Erde deuten. Der vertikal aufgerichtete Mensch und das horizontal laufende Pferd verschmelzen miteinander. Es ist eine Transformation in ein Wesen des Dazwischen. Reiten heißt dann: Denken mit den Füßen des Pferdes. Reiten heißt dann: Aufgehen in einer neuen Verbindung. Reiten heißt dann: sich mit einem anderen Lebewesen gemein machen und nach einer Balance suchen – nach dem richtigen Tempo, nach der richtigen Haltung, nach Transzendenz und Leichtigkeit.
Zwischenfazit des Lebens: Leichtigkeit kann hart erlernt werden
Diese Reittechnik angewandt als Philosophie fürs Leben heißt dann ebenfalls: sich selbst aufzurichten und Haltung einzunehmen, im richtigen Tempo vorwärts zu schreiten, das gute Miteinander zu suchen und sich eingebettet in Natur und Mitwelt gegenseitig mit Stärken und Schwächen anzunehmen und aufeinander Acht zu geben. Ist das nicht ein schöner Gedanke fürs Menschsein überhaupt? Vielleicht können uns Pferde – diese mystischen, grazilen Wesen – die Leichtigkeit des Lebens lehren. Leichtigkeit muss erarbeitet werden. Sie ist ein stetiges Lernen. Sie fällt uns nicht einfach in den Schoß. Leichtigkeit entsteht erst mit dem Aneignen von viel Wissen und (Lebens-)Erfahrung. Leichtigkeit entsteht erst, wenn wir nicht ständig das Pferd wechseln, sondern auf ein Pferd setzen. Leichtigkeit entsteht nach vielen Korrekturen, Irrläufen und sich Aufrappeln. Leichtigkeit ist Ergebnis von sich im Vorwärts in den Himmel strecken!
Lektüreempfehlung:
Barbara Bleisch, Mitte des Lebens. Eine Philosophie der besten Jahre. Hanser Verlag. 2024.
Preis: 25 Euro
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