Zum Tod von Elizabeth II.
Was bleibt von einem Menschen, der sein ganzes Leben mehr oder weniger öffentlich verbracht hat: Ganze 96 Jahre lang, und nicht nur ein kleines Inselreich mit einem ehemals sich groß nehmenden Commonwealth, sondern die ganze Welt hat zugeschaut? Was bleibt von einer Frau, die sich selbst nie wichtig nahm und, glaubhaften Berichten zufolge, ihr Leben lieber in der Gesellschaft von Hunden und Rennpferden in der Abgelegenheit Schottlands verbracht hätte als auf königlichen Yachten, und die lieber vor dem englischen Regen schützende Kopftücher als eine juwelenstarrende Krone auf dem zierlichen Kopf trug? Natürlich bleibt viel mehr von ihr, ob Gutes oder Schlechtes mag jede selbst entscheiden (aber bitte mit der Demut, die ihr selbst so eigen war!). Doch oft sind es die Nebensachen und nicht die Staatsakte, die das Wesen einer Person am konzentriertesten bewahren. Und so sieht die Welt sehr melancholisch noch einmal ein kleines Video auf Youtube an, es ist kaum über zwei Minuten lang. Der Anlass seiner Entstehung ist inzwischen von der gefräßigen Geschichte verschlungen, aber es ist ein Klassiker, und die sterben nicht (manche verkalken allerdings, aber das ist eine andere Geschichte). Man sieht also, ganz zu Beginn, einen prächtigen Saal: Großformatige Gemälde an der Wand im Hintergrund, auf der einen ist ein Beinpaar seltsam abgeschnitten, auf dem anderen spielt ein kleiner Hund, auch er ein Nebendarsteller größerer Geschichten. Schwarzgefärbte Menschen in künstlichen Posen tragen Kandelaber und Uhren auf einem Kaminsockel, der Spiegel spiegelt – ein Fensterkreuz, sonst nichts. Im Vordergrund ein weißgedeckter Tisch, silbernes Sahnetöpfchen und Zuckerschale; rechts und links davon, exakt diagonal zur Betrachterin angeordnet, eine Frau und ein Bär. Sie trägt weiße, dauergewellte Haare, ein blau-gelb gemustertes Kleid mit Brosche und Perlenkette, und neben ihr steht eine schwarze Handtasche auf dem Boden, wie sie alte Damen haben. Er trägt einen großen roten Hut, eine weiße Stupsnase auf hellbraunem Fell und einen dunkelblauen Dufflecoat (sein Koffer hat wohl die Gepäckkontrolle im Palast nicht passiert). Aber kaum haben wir uns an den seltsamen Anblick gewöhnt, schwenkt das Bild schon um, gesetzten Schrittes nähert sich ein livrierter Butler, die großen Türen öffnen sich wie von magischer Hand vor ihm, auf dem Tablett trägt er ein irgendwie an einen Kardinalshut erinnerndes rotes Gebilde und zwei zierliche Porzellan-Teetassen mit einem altmodischen Blumenmuster und Goldrand. Als er es auf dem Tisch abstellt und die Teekanne feierlich enthüllt, erhascht man knapp einen Blick auf ein Schokoladen-Eclair, das im Folgenden noch eine Nebenrolle spielen wird. Doch nun ergreift der Bär in gepflegtem, aber nicht hochnäsigen Oxford-English das Wort und bedankt sich brav: Thank you for having me! (was mit: „Danke für die freundliche Einladung“ nur deutsch-herzlos übersetzt ist). Die ältere Dame bietet ihm daraufhin Tee an, der Bär stimmt freudig zu, stellt sich umstandslos auf den Stuhl (er ist ein Bär mit eher kurzen Beinen), ergreift die Teekanne und nimmt einen herzhaften Schluck daraus. Die ältere Dame schaut – nun ja, milde amüsiert, etwas zucken die Mundwinkel nach unten, ganz leicht kräuselt sich die Stirn, aber kein Wort des Urteils, des Tadels, der Missbilligung gar entschlüpft den rot nachgezeichneten Lippen. Auch dass der Tee dann leider aus ist und sie selbst nur noch ein paar Tropfen bekommt, quittiert sie nur mit einem lakonischen Never mind!Als der verstörte Bär die Kanne etwas zu hastig zurückstellt, rutscht er prompt vom Stuhl, platscht mit dem Ellenbogen in das Schokoladen-Eclair, und die herausgepresste Sahne landet wie in jeder ordentlichen Komödie (oder war es doch eher Dinner for Two, eine Anregung, die sowieso gespenstisch durch den Raum schwebt von Anfang an?) natürlich mitten im eisernen Gesicht des Butlers. Der Butler zuckt, der Bär ist einen Moment betreten, rettet die Situation dann aber souverän, indem er der alten Dame ein Marmeladen-Sandwich anbietet, das er im wörtlichen Sinne aus seinem roten Hut hervorzaubert; er habe nämlich immer eines für Notfälle dabei. So do I, sagt die ältere Dame und greift in ihre schwarze Alte-Damen-Handtasche; dort bewahre sie ihre emergency-Sandwiches auf, und dieses brauche sie ganz gewiss für später. Wir überspringen kurz die jubelnde Menge vor dem Schloss, die sich auf die anstehende Party vorbereitet – ob sie alle ihre Sandwiches dabeihaben? – und schauen noch einmal auf unser Paar zurück. Der Bär zieht jetzt den Hut, gratuliert und sagt dann den einfachen Satz: Thank you for everything! Und die ältere Dame lächelt, sie lächelt jetzt richtig, und antwortet: That’s very kind! Und während draußen die Menge weiter jubelt und die Kapelle aufspielt, kein Pomp and Circomstances, sondern den unsterblichen Rock-Klassiker We will rock you!, schlagen eine ältere Dame und ein Bär mit einem komischen roten Hut den Rhythmus dazu mit silbernen Teelöffeln an zierlichen Porzellantassen mit Blumenmustern und Goldrand. Sie haben alles gesagt, was zu sagen war, und was viel zu wenig gesagt wird: „Dankeschön für alles!“ Und: „Das ist sehr freundlich!“ Wenn eines Tages die Marsmenschen kommen oder die große KI das Kommando übernimmt, werden sie vielleicht nicht verstehen, wozu die Menschen Könige brauchten. Aber sie werden verstehen, dass man für Notfälle immer ein Marmeladen-Sandwich dabeihaben sollte, und dass es egal ist, wo man es aufbewahrt, solange man nur bereit ist, es freundlich zu teilen.
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