Es gibt nur einen einzigen Menschen, der auf Sie aufpassen kann. Das sind Sie. Sonst niemand.
Mit diesen Worten beginnt der Roman von Birgit Vanderbeke. Es ist eine Geschichte, die leicht daherkommt, obwohl das Geschriebene die Grausamkeit einer missratenen Kindheit schildert. Die Erzählerin – der Roman ist weitestgehend autobiographisch – beschreibt einen gewalttätigen Vater, sexuelle Misshandlungen, Gefühlskälte der Mutter, viele Besuche beim Kinderarzt und das Wegschauen des sozialen Umfelds.
Wenn Eltern keinen Schutz bieten, sondern selbst Gefahr bedeuten, wer passt dann auf die Kleinen auf? Wenn Nachbarn bei Gepolter, dumpfen Schlägen, Schreien und Schluchzen nicht einschreiten, keine Lehrer, keine Ärzte auf Verletzungen reagieren, was ist zu tun als Kind? Man lernt, auf sich selbst aufzupassen. Das ist die traurige Antwort des Romans. Man lernt, sich nach und nach in eine imaginäre Welt zu flüchten, die Ansprechpartner bietet und Glück verspricht. Man lernt, einer inneren Logik zu folgen, nach der man Situationen beurteilt und Reaktionen strategisch steuert.
Püppchen, du bist mein Augenstern, Püppchen, hab dich zum Fressen gern. Wenn man das singt, kann man vielleicht mit dem Püppchen machen, was man will, weil man der Vater ist, aber man wäre doch dumm, wenn man sein Püppchen totschlagen würde und niemanden mehr hätte, der einem gehört und mit dem man machen kann, was man will.
Was macht die Mutter, wenn der Vater das Kind misshandelt? Sie schaut weg, manchmal. Schlimmer noch, sie sieht hin und reagiert nicht oder stellt einfach das Radio lauter. Oder sie ist gar die Komplizin des Vaters, bringt das Kind zum Frauenarzt und lässt ihm noch vor der Pubertät die ‚Minipille‘ verschreiben. Das Argument für den verwunderten Arzt ist von der Mutter schnell gefunden: Beim Schulheimweg durch den Wald könnten männliche Jugendliche auf das attraktive Kind warten. Tatsächlich lauert die Gefahr im eignen Wohnzimmer, wo das Püppchen vom Vater zum Fressen gerngehabt wird. Wegen „Unruhestörungen“ werden dem Kind zudem Psychopharmaka verabreicht.
Das Aufpassen auf das eigene Leben wird von der Erzählerin, die sich selbst Karline nennt, eben nicht auf die Erziehungsberechtigten übertragen, sondern in kindliche Eigenverantwortung gelegt. Die Elternschaft wird damit zur Makulatur. Die anderen Erwachsenen sind blinde Statisten, denn sie reagieren nicht. Die Resilienz des Kindes lässt die Leser vor allem Mitleid empfinden. Das Geschilderte geht ans Herz. Es macht wütend und traurig. Und trotzdem schafft es Birgit Vanderbecke, das Geschehene durch die kindlich-naiven Schilderungen in eine Leichtigkeit zu verpacken, die sogar ein wenig Hoffnung spendet. Denn was dem Kind in der schwierigen Situation hilft, ist der Glaube daran, dass es die Gewaltausbrüche des Vaters überleben wird. Diese Gewissheit manifestiert sich in einer Stimme, die die eigene, ältere Stimme aus der Zukunft ist. Diese Stimme, ihr eigenes Ich, spendet ihr Trost, weil es sonst keiner tut:
…aber seit meinem siebten Geburtstag hörte ich oft diese tiefe Stimme und wusste natürlich, dass es meine eigene Stimme war, die aus der Zukunft mit mir sprach und auf mich aufpasste.
Doch auch die Leichtigkeit des Schreibstils kann dem Buch die Grausamkeit nicht nehmen. Das Buch ist ein Mahnmal an alle Erwachsene: Eben nicht wegzuschauen, sondern genau hinzusehen, zu reagieren, Hilfe einzuschalten, Anzeige zu erstatten. Birgit Vanderbecke macht klar, sie sei in den 1960er Jahren aufgewachsen, in denen Gewalt in der Erziehung noch die Regel war. Doch auch da gab es Grenzen. Das Geschehene, ihre Geschichte, hätte zu keiner Zeit passieren dürfen. Auch heute gibt es zahlreiche Opfer von häuslicher Gewalt, wie das Bundeskriminalamt jährlich in Statistiken bekannt gibt. Jahrelange Misshandlungen sind oft nur möglich, weil das soziale Umfeld wegsieht. Birgit Vanderbeke fordert mit ihrem Buch zu mehr Mut auf: den Mut hinzuschauen, auch wenn es hässlich ist. Das macht das Buch so wichtig und lesenswert.
Birgit Vanderbecke ist eine vielfach ausgezeichnete deutsche Schriftstellerin und lebt seit 1993 als freie Autorin in Südfrankreich. Ihr erstes Werk, die Erzählung Das Muschelessen, verhalf ihr bereits zu großem Ruhm und brachte ihr den Ingeborg-Bachmann-Preis ein. Es folgten zahlreiche weitere Preise sowie die Brüder-Grimm-Professur an der Universität Kassel.
Birgit Vanderbecke: Wer dann noch lachen kann (2017) Roman. Piper-Verlag. 10 Euro.
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