Ein philosophisches Gespräch mit einem Roboter zum Auftakt der Fußball-WM
Ich versuchte meine neue Fitness-Uhr zu verstehen, und mein Roboter Marvin war sauer. In unserer philosophisch-kybernetischen Arbeitsgruppe ROBOT-PERSONALITY-PROJECT (RPP) hatte heute Fußball auf dem Plan gestanden, wie jeden Mittwoch. Und wie jeden Mittwoch war das Spiel im allgemeinen Zerwürfnis der Spieler ebenso wie der für sie verantwortlichen Mitarbeiter, mit kleineren Schäden an der Mechanik verschiedener Teilnehmer und einem entschiedenen „Unentschieden“ geendet. Marvin hatte irgendetwas mit seiner Knie-Mechanik, das er aber schon selbst behoben hatte. Er jammert aber noch ein wenig, als wir zuhause waren, weil er gelernt hatte, dass sich das bei Fußballprofis so gehörte. „Ach hör auf“, sagte ich, während ich immer noch versuchte, das etwas zu starre Plastik-Armband an meinen Arm anzupassen, „das haben wir doch schon tausendmal besprochen, und du weißt, Fußball ist gut“ – „für unsere Fein- und Grobmotorik, unsere Koordination, unsere Teamfähigkeit, unsere soziale Kohärenz, unsere Kriegsertüchtigung, unsere nationalistische Indoktrination, unseren Umgang mit leistungsverbessernden Substanzen“ – „Nee, du denkst wohl, ich höre dir niemals zu“, rief ich, während ich anfing meine Laufschuhe zu suchen, sie waren ganz weit hinten im Schuhschrank und noch wie neu. „Vielleicht ist Fußball ja doch eine im großen Maßstab eher friedenserhaltende Veranstaltung, also von den Ultra-Fans mal abgesehen? Irgendwo muss das Testosteron ja hin in diesem Alter!“ „Rein statistisch gesehen, scheint es ja so zu sein, dass Fußball mit großem Abstand und weltweit die beliebteste Sportart zu sein scheint, noch vor Cricket“, ergänzte Marvin, „man stelle sich vor!“ Ich stellte mir vor, aber ich versagte, wie so oft, wenn ich über Sport nachdachte. „Fußball“, sagte ich versonnen an meiner Uhr herumspielend, „du schimpfst ja immer darüber, aber dann habe ich doch den Verdacht, dass du ganz gern wieder hingehst und über den Schiedsrichter herziehst und die Fouls der anderen und die blöde Knie-Mechanik. Ich hab ja nie Fußball gespielt, weißt du, irgendwie kein Mädelding in meiner Jugend, und wenn ich versuche, es im Fernsehen zu schaue, ist es noch nicht einmal entspannend langweilig, sondern nur – gähnend langweilig, Verwandtenbesuch-langweilig, Zugsverspätungs-langweilig, du verstehst?“ „Ich verstehe meistens“, sagte Marvin gnädig, „wenn auch nicht immer das, was du willst. Aber wir könnten ja ein Mental-Training machen mit einer kleinen Runde Assoziations-Blitzen zum Thema ‚Wozu Fußball‘?“ „Man kann etwas treten“, rief ich spontan, das war mir gerade eben eingefallen; etwas unmotiviert stieß ich meine Beine in die Luft, als würde ich einen imaginären Ball in die Höhe treten. „Weißt du“, sagte ich etwas atemlos dazu, „mir ist gerade eingefallen, dass Rilke ein Gedicht über einen Ball geschrieben hat, ich habe das schon immer gemocht, und schon die Idee, ein Gedicht über einen Ball zu schreiben, ist so grandios, und“ – „zu wenig Ding und doch noch Ding genug“, zitierte Marvin, ein wenig melancholisch, und auf einmal sah ich Rilkes Gedicht in einem neuen Licht, „zu wenig Ding und doch noch Ding genug“, war das nicht irgendwie – aber Marvin war schon wieder weiter, er zitierte nämlich das Gedichtende: „um dann, erwartet und erwünscht von allen,/ rasch, einfach, kunstlos, ganz Natur, dem Becher hoher Hände zuzufallen“, dabei mimte er ungeschickt einen Torwart, der einem Ball hinterherhechtet, nur angedeutet natürlich, und ich sagte: „Ok, aber Rilke hat wirklich nicht über Fußball geschrieben, da bin mich mir ganz sicher, und ‚rasch, einfach, kunstlos‘ ist zwar wunderschön, aber vielleicht dann doch nicht das Gefühl des Tormanns beim Elfmeter“. „Man kann auch etwas fangen beim Fußball“, sagte Marvin, „das ist doch fast so gut, wie etwas treten zu können!“ „Stimmt“, sagte ich, „Fangen ist eigentlich noch besser, man hat immer ein kleines Erfolgserlebnis, ganz so, als hätte man etwas gerettet, was ja sonst – naja, gefallen wäre, und jetzt hat man es halt“ – „gerettet“, sagte Marvin. „Nachdem es jemand anders getreten hat, Himmel, kannst du eigentlich aus allem eine anthropologische Metapher machen?“ „Fußball“, sagte ich, „ist überhaupt ein Sport, bei dem man sich geradezu vielseitig entfalten kann, man muss laufen, springen, schießen, fangen und werfen, man kann sogar mit dem Kopf arbeiten!“ „Nee“, sagte Marvin, „Kopfbälle habt ihr uns verboten, und das sehen wir auch vollkommen ein, da ist uns unser Kopf wirklich zu schade für! Und das Vielseitige, da seid ihr ja auch immer so scharf drauf, und die Aufgabenverteilung und Abstimmung im Team, und der ‚Teamgeist‘ und das ‚Teamgefühl‘, wir arbeiten ja dran, aber es ist wirklich schwierig zu verstehen, warum man jetzt auf einmal zusammengehört, nur weil die einen rote Mützen tragen und die anderen blauen, und warum die mit dem roten jetzt auf einmal der Gegner sind, wo wir doch auch alle friedlich zusammenspielen könnten, ein einziges großes Team, vielleicht würden wir dann auch einmal ein ‚Teamgefühl‘ kriegen, und einen ‚Teamgeist‘ könnten wir uns ja basteln in der Bastelstunde, zu Halloween vielleicht?“ „Nee“, seufzte ich, „ich versteh’s ja auch nicht, warum ich mich freuen soll, wenn ‚meine‘ Mannschaft gewonnen hat, sie gehört mir ja nicht, sie hat auch gar nichts mit mir zu tun, es sind ein Haufen junger Männer mit seltsamen Frisuren und gestreiften Kniestrümpfen, und die einen tragen blaue Hemdchen und die anderen rote, und sie entstammen den unterschiedlichsten Nationen, aber eher weniger denen, unter deren Fahne sie antreten, es ist schon alles nicht besonders rational, ich geb’s ja zu! Und manchmal“, ich hatte mich in Rage geredet, meine Fitbit-Uhr piepste schon, „manchmal glaube ich sogar, dass das Ganze vor allem mit dem Toreschießen zu hat, mit diesem einen mühevoll vorbereiteten, lange ersehnten Moment des Höhepunkts, in dem Ball und Fuß endlich zusammenkommen!“ Wie immer ging Marvin nicht ein auf diese Art Anspielung, es ist ihm peinlich; stattdessen lenkte er gekonnt den Schuss ab: „Es ist natürlich was anderes, wenn man selbst spielt“, sagte er versonnen. „Wie ist es denn anders“, fragte ich, etwas überrumpelt von dieser Volte. „Na, wenn ich einen Ball bekommen habe und bin damit ein Stück gelaufen, ohne darüber zu stolpern oder ihn zu verlieren, und wenn ich ihn dann zu Enigma rüberspiele, und Enigma gibt ab an Hal, und Hal schießt dann tatsächlich ein Tor – naja, dann haben wir ja wirklich zusammengearbeitet, und es fühlt sich so ähnlich an“ – Gefühle sind für unsere Roboter in der RPP-Arbeitsgruppe noch sehr schwierig, aber sie geben zu, ab und zu etwas Analoges zu erfahren – „so ähnlich wie das, was ihr ‚Freude‘ nennt, und ich freue mich allein, aber es freuen sich auch alle zusammen, und das macht eine Art potenzierte Freude, wenn du weißt, was ich meine?“ „Freude“, sagte ich, „wird überhaupt unterschätzt, sie ist eigentlich viel besser als Glück. Glück kann man auch gar nicht richtig teilen“. „Verstehe ich nicht richtig“, sagte Marvin skeptisch, „aber egal. Wir waren bei ‚Fußball, wozu‘, konzentrier dich doch mal für eine Viertelzeit! Neuer Punkt: Fußball ist ein Spiel, das strenge Regeln hat, und die Befolgung von Regeln ist für Menschen bekanntlich nicht immer einfach, weshalb es hilft, das schon möglichst frühkindlich zu trainieren, ich zitiere jetzt mal, wie du so gern tust“ – „ja, ja“, stöhnte ich, mal wieder in einer Standardsituation ertappt, aber Marvin fuhr ungerührt fort: „Ich zitiere mal ganz richtig Friedrich Schiller: Menschen brauchen Spiele, Spiele brauchen Regeln, Freiheit ist, wenn man die Regeln freiwillig befolgt. Aber weißt du, was wir manchmal machen, beim Fußballspielen, wenn ihr mal wieder nicht aufpasst, weil ihr wichtige Dinge auf eurem Handy tun müsst oder über Kollegen tuscheln oder sonst irgendeinen Menschenkram macht?“ Ich hatte inzwischen den sowieso recht schwachen Vorstoß in Richtung Jogging aufgegeben und lauschte ganz gespannt meinem Roboter, der nun mit einer Art Verschwörerstimme etwas unscharf dahernuschelte: „Wir ändern heimlich die Regeln. Also, wir versetzen den Elfmeterpunkt. Oder das Tor“. „Moving the goalpost“, murmelte ich, „beliebter rhetorischer Trick, auch gern angewandt in Beziehungen“, aber Marvin ließ sich nicht aufhalten. „Oder wir tauschen heimlich die Trikots. Und wer ein Tor schießt, muss aussetzen. Oder wir spielen mit mehreren Bällen, und es kommt darauf an, so wenig Tore zu schießen wie möglich. Die neuen Regeln teilen wir einfach schnell in der cloud und dann halten sich alle an die neuen Regeln, bis ihr wieder schaut, jedenfalls. Das macht eigentlich viel mehr Spaß, fördert den Teamgeist auch ungeheuer, wir sind dann alle ein großes Team und jeder hat die Freiheit, die Regeln zu ändern“. „Zu wenig Ding“, murmelte ich, aber laut sagte ich: „Und Schiller wäre so stolz auf euch! Der Roboter ist nur da ganz Roboter, wo er die Regeln ändert!“ „Das Runde muss ins Eckige, Ritter Sport“, sagte Marvin trocken. „Fußball ist wie Schach ohne Würfel, Bobby Fischer “, konterte ich. „Wollen wir jetzt nochmal Monty Pythons Philosophen-Fußball schauen?“ „Na gut“, sagte Marvin, „aber nur, wenn ich keine Chips dabei essen muss“.
Nicht nur zur Weihnachtszeit:
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