„Weißt du“, sagte die Dame hinter mir im kennerhaften Ton der Kunst-Erklärerin zu ihrer ehrfürchtig lauschenden Begleiterin, „das rote Segel dort, das ist ein Eye-Catcher. Das ist genauso wie bei Handtaschen. Oder Schals. Man braucht etwas, was…“ – aber ich hörte schon nicht mehr zu. Ich war bei dem Eye-Catcher hängengeblieben. Denn die Dame hatte nämlich nicht nur recht, sie hatte geradezu ein ästhetisches Grundgesetz formuliert. Und das begab sich so:
Es war Sonntagvormittag, die Sonne strahlte, als hätte sie sich an diesem Vorfrühlingsmorgen in den Sommer verirrt, und wir standen im Potsdamer Museum Barberini vor einem Gemälde der Französin Berthe Morisot. Es zeigte eine typisch französische, ländliche Hafenszenerie in sehr hellen pastelligen Farben, Wasser und Himmel schienen in strahlender Morgenhelle ineinander überzugehen. Auf der rechten Bildhälfte lagen Segelschiffe aufgereiht an der Mole; sie hatten alle einen schwarzen Rumpf und waren unbespannt – bis auf eines, das ein rotes Segel hatte. Länglich-rechteckig geformt setzte es einen unerwartet starken Akzent ungefähr in die Bildmitte und zog damit natürlich alle Blicke – nein, nicht magisch, sondern ganz natürlich auf sich: ein Eye-Catcher eben. Und sogar der Vergleich mit dem modischen Eye-Catcher war ganz angemessen (instinktiv sah ich an meiner eher touristisch-pragmatischen Garderobe herunter, die nicht so sehr auf Museumbesuch in gehobenem Ambiente, sondern auch auf den anschließenden Parkspaziergang durch Babelsberg abgestimmt war; wenig, was das Auge fangen konnte, allerhöchstens die Handy-Hülle vielleicht, und nicht einmal ein bunter Schal!). Aber egal, schließlich war ich hier, um etwas zu sehen und zu lernen. Und die Geschichte mit dem Eye-Catcher – war ein Augenöffner in verschiedener Hinsicht.
Denn wir hatten zuerst die gerade laufende Sonder-Ausstellung mit dem ziemlich pompösen Titel Kosmos Kandinsky. Geometrische Abstraktion im 20. Jahrhundert besucht. Pflichtbewusst waren wir mit Scharen sonntäglich gestimmter Kulturbeflissener durch einige Säle voller abstrakter Kunstwerke aus der ersten Hälfe des 20. Jahrhunderts gestreift. Es war eine eher asketische Erfahrung gewesen, und hinterher wusste man wieder, warum abstrakte Malerei eben eine Programmkunst ist, die vielleicht konzeptuell notwendig war, aber für die Beschauerin – nun ja, eher wenig bietet, was das Auge fängt. Kandinsky ist natürlich ein Ausnahme. Man wusste auch gleich wieder, warum seine Werke über all das Experimentell-Notwendige der reinen Linienkunst strengerer Schulen hinaus bis heute mehr Erfolg haben: Denn sie sind nicht nur ästhetisch perfekt – das ist ein Mondrian auch –, sondern auf eine hinreißende Art und Weise verspielt und ironisch, und häufig kann man sich aus den einzelnen Abstraktions-Chiffren durchaus eine Geschichte zusammendenken. Aber sie haben nicht den einen roten Fleck, den magisch-natürlichen Anziehungspunkt für unsere Wahrnehmung, von dem aus man dann das Gemälde erkunden kann. Nein, man muss seinen Weg selbst in ihnen finden. Das ist anstrengender, und manchmal gelingt das; bei vielen anderen abstrakten Bildern gelingt es eher weniger, und ersatzweise flieht man – in den Programmtext. Zu irgendeinem Zeitpunkt, man kann darauf wetten, murmelt dann irgendjemand hinter einem: „Das hätte ich auch gekonnt“! Meistens stimmt das nicht ganz. Aber es ist auch nicht ganz falsch.
Der Grund dafür ist wahrscheinlich einfach: Das menschliche Gehirn will nicht Flächen und Formen und Farben in einer ästhetisch überzeugenden Anordnung wahrnehmen, was vielleicht interesseloses Wohlgefallen erzeugt, aber eher wenig Emotion. Nein, es will eine Geschichte, eine Stimmung, einen Augenblick, den es so noch nie gesehen hat und vielleicht in der Realität auch niemals sehen wird – denn nie wird ein reales Mohnfeld so hinreißend leuchten wie eines von Monet; nie blühen die Blumen so reich und so farbenstrahlend wie in einem Garten von Renoir, und sogar impressionistische Schnee-Bilder können ihrer reduzierten Farblichkeit zum Trotz die reine Augenlust sein! Das alles aber gibt es reichlich zu sehen in der Dauerausstellung des Museum Barberini, nur ein Stockwerk über der Sonderausstellung zur Abstraktion. Sie zeigt seit 2017 die beeindruckende Impressionisten-Sammlung des SAP-Mitbegründers Hasso Plattner im (ebenfalls von Plattner finanzierten) Wiederaufbau eines historischen Bürgerpalastes am Alten Markt in Potsdam. Das im Zweiten Weltkrieg völlig zerstörte Stadtpalais wurde ursprünglich auf Befehl Friedrichs des Großen nach einem römischen Vorbild bei seiner ambitionierten Neugestaltung Potsdams errichtet (so viel Geschichte kann man in ein einziges Gebäude pressen!). Und man kann geradezu ein kollektives erleichtertes Seufzen vernehmen, wenn man die Programmkunst samt Kandinskys im Erdgeschoß hinter sich gelassen hat und durch das monumentale Treppenhaus endlich die lichtdurchfluteten Impressionisten-Säle erreicht. Dabei sind einige von ihnen durchaus in der Malweise auch eine Übung in farblich gesteuerter Abstraktion; aber sie verabschieden sich dabei nicht von der Realität. Sie machen sie nur – durchscheinender? Leuchtender? Lebendiger?
Und manchmal eben fängt ein kleiner Eye-Catcher den Blick. Es kann das rote Segel bei Berthe Morisot sein; es kann ein weißer Sonnenschirm bei Monet sein. Früher, als man noch keine reinen Landschaften malen durfte (niedriger Gegenstand, zu wenig Geschichte, zu wenig Symbolik, und wen interessiert schon Natur?), waren es die Staffagefiguren; scheinbar willkürlich, aber natürlich ästhetisch genau kalkuliert verstreute menschliche Gestalten, die irgendeiner belanglosen Tätigkeit nachgehen oder nur reizvoll anmutend daliegen und dastehen. In Stillleben sind es oft mikroskopisch kleine Insekten oder eine einzelne, farblich herausstechende Blüte. Auf mittelalterlichen Altarbildern ziehen heutzutage, wenn man die Betrachterinnen etwas genauer betrachtet, meist die winzigen Blumen im Vordergrund mehr Aufmerksamkeit auf sich als die lebensgroßen Heiligengestalten. Bei der Sixtinischen Madonna schauen wir auf die Putten, nicht auf die Madonna mit ihren symmetrisch-perfekten Gesichtszügen. Ein Eye-Catcher – es kann ein Farbfleck sein, aber auch ein Ding, das nicht ganz dorthin gehört; eine Nebensache, die einen entlastet von der allzu großen Hauptsache. Hände sind oft Eye-Catcher, wie in Leonardo da Vincis Abendmahl, wo sie ganze Beziehungsgeschichten jenseits der aufgeregten Gesichter und Gewänder erzählen. Oder versteckte Spiegelbilder, wie in Las Meninas. Oder eine Gestalt, die aus dem Bild herauszuschauen scheint, direkt auf den Betrachter hin (meist ein Porträt des Künstlers selbst). Sogar ein Loch in der Bildmitte kann ein Eye-Catcher sein, wie der weiße leere Himmel genau in der Bildmitte zwischen Platon und Aristoteles in Raffaels Schule von Athen; man fällt geradezu geistig hinein in diese Lücke, und dann kehrt man verändert aus ihr zum Gemälde zurück!
Nicht jedes Bild, noch nicht einmal jedes „gute“ – im Sinne von: in den Kanon der Hochkultur eingegangenes – Gemälde hat einen Eye-Catcher. Aber wenn man einen findet, soll man sich ruhig von ihm einfangen lassen: Denn er erzählt die Geschichte von einer anderen Perspektive aus. Er bringt etwas Neues hinzu. Er provoziert. Er verrätselt. Er ist ein Je ne sais quoi. Das Quantum Überraschung, das uns aus unserem gewohnten Blick und Trott reißt. Ein Schönheitsfleck auf einem perfekten Gesicht. Ein Wortfetzen, aufgehascht im Vorbeigehen: „Weißt du“, sagte die Dame, „das rote Segel dort, das ist ein Eye-Catcher“.
Kosmos Kandinsky. Bis 18. Mai 2025 in Potsdam, Museum Barberini
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