Eine post-apokalyptische Weihnachtsgeschichte
Niemand wusste mehr, wie sie zu ihren Namen gekommen waren. Es war in der Zeit nach dem Großen Trauma, von dem niemand sprach. Es sprach auch niemand mehr von der Zeit vor dem Großen Trauma. Denn alle Geschichten begannen mit „Es war einmal“ – aber keiner wusste mehr, was vor dem Großen Trauma gewesen war, das den weltweiten Kriegen, den sich gegenseitig aufschaukelnden Naturkatastrophen und dem Zerfall aller Gesellschaften in rivalisierende Banden und Fraktionen ein Ende gemacht hatte. Worum hatte man eigentlich gekämpft? Um Worte, nichts als Worte; um die Herrschaft über Geschichten, und am Ende war Blut geflossen, wirkliches Blut, aus wirklichen Wunden. Und nicht nur die Menschen waren zerstört; auch die Natur schien den Kampf aufgegeben zu haben, unter einem immergrauen Himmel gediehen nur noch die ausdauerndsten Pflanzen, und die Tiere schienen sich in Höhlen verkrochen zu haben, aus denen sie nie wieder aufgetaucht waren. Auch die Menschen lebten am liebsten in Höhlen, nur dort schien es noch so etwas wie Sicherheit zu geben. Die Familien waren zerstreut, Staaten existierten nicht mehr, Männer und Frauen hatten sich, ohne es zu wollen, voneinander getrennt; zu gefährlich schien das Zusammenleben, zu nahe der Ausbruch der Gewalt, zu fern Gedanken an so etwas wie Zuneigung, Liebe gar – nein, das waren alles auch nur Worte, Geschichten und Gefühle, die von der großen trüben Wolke verschluckt worden waren. Die Menschheit hatte sich selbst ausgerottet; nur leider hatte sie es überlebt.
Durch die Trümmerlandschaft trotteten auch drei Gestalten. Es waren Männer; sie hatten alle die gleiche Hautfarbe aus Asche, Schmutz und Hoffnungslosigkeit, ein trübes Grau, das sich kaum von der Farbe des grauen Himmels und der aufgewühlten Erde abhob. Wenn sie miteinander sprachen – was sie selten taten, es gab nichts mehr zu sagen und die Worte waren zu gefährlich –, taten sie das ein einer einfachen Gemeinsprache, an die sie sich fetzenweise erinnerten. Doch in einem aufflackernden Moment des Übermuts hatten sie sich irgendwann – es gab auch keine Zeit mehr – Namen gegeben. Der jüngste von ihnen hatte angefangen. Niemand, auch er selbst wusste nicht, woher die Idee gekommen waren. Er hatte, wie er das häufig tat, des Nachts in den Himmel geschaut und darauf gewartet, dass sich einzelne trübe Sterne zeigten; und als sich der erste mit einem schwachen Funkeln meldete, hatte er mit rauer, aschgrauer Stimme gemurmelt: „Caspar“ und auf sich selbst gezeigt. Dann hatte er ins Feuer gepustet, um das sie dichtgedrängt saßen, zu dritt. Er hatte herausgefunden, wie man aus bestimmten Steinen einen Funken erzeugen konnte, und später hatte er sogar aus Metallresten einen kleinen Apparat konstruiert, in dem man das Feuer mit sich tragen konnte. Aus seinem früheren Leben hatte er nur ein Fernrohr gerettet, das er ständig mit sich trug. Wenn er mit ihm in den Himmel schaute, sah er Figuren und Gestalten, und einmal meinte er sogar, einen fallenden Stern gesehen zu haben.
Kurz darauf war ein zweiter Stern am Himmel erschienen, und der zweite von ihnen, er war mittleren Alters, hatte hinaufgezeigt und hatte „Balthasar?“ gemurmelt, so als würde er den Namen anprobieren. Und dann hatte er genickt und den Namen wiederholt, „Balthasar!“ und hatte wieder nach unten geschaut; er grub gern in der Erde und konnte aus bestimmten Wurzeln eine Salbe reiben, die einfache Wunden heilte. Auch er hatte aus seinem früheren Leben in Ding mitgebracht. Es war ein empfindlicher und komplizierter Apparat, er nannte ihn mit einem großen Wort „Mikroskop“. Und wenn man das Gerät richtig benutzte, konnte man damit kleine Dinge ganz groß sehen und Muster erkennen, die man mit bloßem Auge niemals wahrgenommen hätte.
Erwartungsvoll sahen beide nun den dritten von ihnen an. Es war ein alter Mann, er ging gebeugt, man sah ihm an, dass er ständig Schmerzen hatte. Aber er konnte ein Lied singen, ein einziges, es hatte nur ein Wort, das sie nicht verstanden: „Gloria“, hieß es. Er hatte sie alle die Melodie gelehrt, und wenn die Trübheit sie überwältigte, sangen sie gemeinsam ihr raues „Gloria“. Aus seinem früheren Leben hatte er ein zerrissenes Buch mit einigen wegen bedruckten Seiten mitgebracht. Niemand von ihnen konnte sie lesen, sie waren auch zu nichts nutze, und anfangs wollten die anderen beiden das Buch verbrennen. Doch der alte Mann hatte sich daran festgeklammert und sie mit seinen alten grauen Augen durchdringend angeschaut, und sie hatten abgelassen. Jetzt sahen sie zu dritt nach oben, und tatsächlich: Soeben war ein dritter Stern aufgetaucht, sie standen jetzt alle in einer Reihe. Und der alte Mann murmelte, wie im Traum: „Melchior“. Caspar, Balthasar, Melchior – sie wiederholten die Namen mehrmals andächtig; und keiner von ihnen wollte schlafen in dieser Nacht aus Angst, dass sie ihre Namen wieder verlieren würden.
Doch die drei Männer vergaßen ihre Namen nicht, auch nicht nach einem langen, seltsam erholsamen und traumlosen Schlaf. Am nächsten Tag ging jeder seinen gewohnten Tätigkeiten nach – Caspar machte kleine Experimente mit Asche und verschiedenen Wurzeln, die Balthasar ausgegraben und unter seinem Apparat beschaut hatte; und Melchior summte sein Lied und gab ihm von Zeit zu Zeit kleine Abwandlungen in der Melodie. Es war ein friedlicher Tag; keine Eisstürme, keine Regenfluten, keine Begegnungen mit herumstreifenden bewaffneten Horden. Und als die Nacht kam, schauten sie wie auf Verabredung wieder alle gemeinsam zum Himmel hinaus. Und tatsächlich, nach einiger Zeit tauchten, einer nach dem anderen, die drei Sterne auf; und dann kam, zu ihrer großen Verwunderung, noch ein vierter, der alles überstrahlte und in ein geradezu überirdisches Licht tauchte. Als Caspar ganz genau durch sein Fernrohr sah, merkte er, dass dieser vierte Stern sich bewegte. Es war, als würde er, sehr langsam und sehr majestätisch, ihnen eine Richtung weisen, in der sie ihm folgen sollten. Und ohne ein Wort zu verlieren, packten sie ihre wenigen Habseligkeiten und Herzensdinge ein und folgten ihm, mit suchenden Schritten, durch die nächtliche Trümmerlandschaft. Was hatten sie zu verlieren, außer dem Stern? Ein Ort war wie der andere, und Gehen war besser als Nichtstun, Gehen war geradezu tröstlich. Es erinnerte sie vage daran, dass man damals, vor dem Großen Trauma, auch ständig, irgendwie, auf dem Weg gewesen, auf einer Suche nach irgendetwas; nach was aber, das hatten sie vergessen.
Bald gewöhnten sie sich daran, am Tage zu schlafen und des Nachts dem Stern zu folgen. Er blieb ihnen treu, auch an den trübsten Tagen und bei den schlimmsten Unwettern leuchtete er durch alle Wolken hindurch und ging ihnen voran. Ihr tragbares Feuer gab ihnen Wärme in kalten Nächten, die Salbe linderte die Beschwerden des langen Gehens, und wenn sie den Mut zu verlieren schienen, sangen sie vereint ihr „Gloria“. Und dann war da noch das Kamel. Eines Abends, als sie aufgewacht waren, stand es da, klobig, grau und stinkend. Es bewegte seine großen Kiefer, als ob es kaute, und seine aschgrauen Augen schauten sie an, einen nach dem anderen, als würde es ihre Namen lernen: Caspar. Melchior. Balthasar. Von da an hatte es sie begleitet, am Tag hatte es geruht (ob es schlief, wussten sie niemals), des Nachts trottete es neben ihnen. Manchmal trug es den alten Melchior zwischen seinen schwankenden Höckern, und niemals sahen sie, dass es aß oder trank. Und weil es ihnen so recht erschien, wollten sie ihm einen Namen geben. Und der erste sagte, das Wort kam ihm einfach so in den Sinn, als er zu den Sternen aufsah: „Geduld“; und der zweite sagte, den Blick auf den Boden gerichtet, „Patientia“; und der dritte sah zwischen ihnen allen hin und her und sagte dann, er sang es fast: „Makrothymia“. Aber meist nannten sie es nur, wenn es unbedingt sein sollte: Kamel.
Sie waren nun schon viele Tage unterwegs gewesen, die Trümmerlandschaft hatte sich kaum verändert, und der Stern war bei ihnen geblieben wie das Kamel. Doch dann kam die eine Nacht, die alles veränderte. Es war besonders hell, und der Stern schien kräftiger zu leuchten als jemals zuvor, als er plötzlich über einer Hütte stehenblieb. Es war wohl früher einmal ein kleines Haus gewesen; man sah noch Spuren, beinahe von Farbe, an eingestürzten Wänden. Es lagen sogar noch Dinge da, kleine Geräte, sie wussten nicht genau, wozu sie einmal gut gewesen waren: ein kleines Pferd aus Holz, eine winzige menschliche Gestalt, sie hatte nur noch ein kullerndes Auge und zerzauste Locken. Der alte Mann hörte besonders gut hin, seine Augen waren schon trübe; und es schien ihm beinahe, als wehte durch die Luft etwas wie – ein Kinderlachen?
Als sie zögernd die Hütte betraten, wie waren sie überrascht! Sie sahen – aber beinahe wussten sie im ersten Moment gar nicht, was sie eigentlich sahen, so überwältigt waren sie. Sie sahen: eine Frau. So lange schon hatten sie keine Frau gesehen, die Frauen lebten in ihren eigenen Hütten und Höhlen, scheu und immer auf der Hut. Und diese Frau war jung, und sie war so schön, so unvorstellbar schön – sie hatten vergessen, sie alle drei hatten vergessen, dass es das gab: Schönheit! Und die junge Frau lächelte sie an, sehr vorsichtig und beinahe so, als hätte sie das auch eben erst wieder gelernt. Auf ihrem Arm hielt sie – beinahe hätten sie es übersehen vor lauter Schönheit! – ein winziges Kind, ein Baby, es sah aus, nein: Es war wirklich gerade erst auf diese Welt gekommen, in dieser Hütte, unter diesem grauen Himmel inmitten der trostlosen Trümmerlandschaft! Kinder, sie hatten auch vergessen, dass es Kinder gab; die Kinder waren unter denen gewesen, die das Große Trauma am schnellsten dahingerafft hatte. Und niemand hätte sich vorstellen können, nun, nach dem Großen Trauma, noch jemals Kinder zu machen und aufzuziehen; wozu denn unter der großen Trübnis, und wer weiß, vielleicht hätte man Monster geschaffen, die all die Katastrophen und Sünden der Vorzeit in sich getragen und weiter vererbt hätten? Aber dieses Baby hatte eine rosige Hautfarbe, und die Schönheit seiner Mutter schien auf ihm weiterzustrahlen. Es schrie ein wenig, und dann schaut es sie an, einen nach dem anderen, genau so, wie das Kamel es getan hatte: So, als seien sie, jeder für sich, etwas ganz Besonders. Und die drei Männer spüren, wie ihre Knie weich werden, und wie in einem gemeinsamen Atemzug sinken sie auf die Knie und falten die Hände, so als wäre das die einzige Möglichkeit, um ihr klopfendes Herz im Inneren zu zähmen und sich selbst zusammenzuhalten. Dann murmeln sie ihre Namen, denn es ist das Kostbarste, was sie haben: Caspar. Melchior. Balthasar. Als sie wieder aufblicken, sehen sie, dass noch ein Mann im Hintergrund steht, sein Schatten fällt schützend über die kleine Gruppe. Er hat große Hände und ein einfaches Gesicht; zu seinen Füßen liegen einige Werkzeuge, sie sehen aus, als seien sie sein Schatz, dasjenige, was er gerettet habe aus dem Großen Trauma. Maria aber hat nur das Kind; aber sie hat, das wissen sie, den größten Schatz von allen.
Und während sie so da knien und wieder aufstehen und das Kind ansehen, kommen ihnen Fetzen von Geschichten in den Sinn. Es ist ihnen, als müssten sie dem Kind nun Geschenke geben, etwas ganz Besonderes. Und jeder von ihnen überlegt, ob er dasjenige gibt, was ihm das Liebste ist: Caspar das Fernrohr, Balthasar das Mikroskop, Melchior das Buch. Und sie hätten all das gern gegeben, ohne einen Moment des Zögerns; aber irgendetwas in ihnen wehrte sich dagegen, eine dunkle Ahnung von Unheil. Und so geben sie stattdessen das Kästchen mit dem Feuer und die heilende Salbe mit den Pflanzen dazu. Und Melchior lehrt sie alle das Lied singen, in ihren ganz verschiedenen Stimmen, und bald ertönt ein wahrhaft prächtiges „Gloria, gloria, gloria!“ fremd und heimelig durch die trübe Nacht. Das Kamel hat sich auch heingedrängt und trinkt ein wenig aus dem Wasser, das ihm Maria gleich hingestellt hat, und das Kind strahlt auch das Kamel an.
Gern würden die drei Männer zum Abschied dem Kind einen Namen geben: „Hoffnung“, denkt Caspar, und „Spes“ denkt Balthasar, und „Elpis“ denkt Melchior, ohne dass sie wissen, woher die Wörter kommen. Aber dann sprechen sie sie nicht aus, sondern neigen ihre Häupter und verlassen die Hütte. Die Nacht umschließt sie, und während sie gehen, spüren sie, wie sich in ihnen etwas regt; Worte quellen empor, es ist wie der Anfang einer – neuen Geschichte? Der Stern aber bleibt über der Hütte, und drei demütige Gestalten verschwinden, ein erhaben schwankendes Kamel im Schlepptau, im Dunkel der Geschichte.
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