Der Vogel starrte mich an. Die Augen waren groß und sehr dunkel; sie hatten eine perfekte Form, wie übergroße Mandeln mit sich freundlich nach oben schwingenden Kajal-Winkeln am Ende; keine Visagistin hätte das perfekter und symmetrischer machen können. Dass die Nase hakenförmig und eigentlich ein spitz gebogener Raubtierschnabel war, fiel kaum auf, so zierlich und gleichmäßig passte sie sich in das beinahe kreisrunde Gesicht ein. Der ganze Kopf war von einem wolligen Mittelgrau überzogen, das in leichte Wellen gelegt war; darüber thronten einige neckisch aufgestellte Löckchen, einen perfekten Kranz bildend, und darüber zum krönenden Abschluss zwei dunkelgraue Plüschohren, die die Wellenbewegung des Kranzes in vollendetem Schwung aufnahmen. Der ganze perfekte Kopf thronte auf einem schlanken Raubvogelkörper in elegantem Schwarz-Weiß. Und er wirkte – gleichermaßen unfassbar weiblich und unfassbar befremdlich. Schön und beängstigend, beunruhigend in höchstem Maße und doch so, dass ich den Blick nicht abwenden konnte. Das Tier, das mich bei meinem Wochenendbesuch im Nürnberger Zoo so in seinen Bann zog, war, wie ich dem Schild entnehmen konnte: eine Harpyie.
Eine Harpyie? Waren das nicht Gestalten aus der griechischen Mythologie? Die Erinnerung war nur sehr vage, aber ich war mir ziemlich sicher, dass es sich nicht um freundliche Wesen handelte, sondern – eben um diffus bedrohliche. Eine Harpyie, bis vor zehn Metern hätte ich gedacht, dass es das doch gar nicht gibt, im wirklichen Leben; und doch saß sie hier, und starrte, und ich konnte den Blick nicht abwenden. Rilke schoss mir durch den Kopf, das bekannte Zitat vom Schönen, das nur des Schrecklichen Anfangs ist (Duineser Elegien, es geht um Engel, nicht um Harpyien), aber vielleicht war es ja auch umgekehrt und das Schreckliche ist nur des Schönen Anfang? Doch jetzt musste erst einmal geforscht werden. Also, die Lektüre einiger Wikipedia-Artikel später:
Die mythologischen Harpyien waren vor den realen da, jedenfalls vom Namen her. Denn erst Carl von Linné benannte im 18. Jahrhundert eine südamerikanische Adlerart so, die vor allem in Mittelamerika in den Regenwäldern lebt und heute beinahe ausgestorben ist; er benannte sie nach den griechischen Mischwesen. Denn die antiken Harpyien waren ihrer Art nach Mischwesen, und sie bestanden: aus einem Frauenkopf auf einem Vogelkörper. Schnell wie der Sturmwind sollen sie gewesen sein: „reißender Sturm, schneller Wind“ ist auch die Wortbedeutung ihres griechischen Namens. Wie immer in der Mythologie, sind ihre Familienverhältnisse reichlich unklar, das lassen wir aus, nicht einmal ihre Anzahl steht so recht fest. Anfangs waren sie schöne und verführerischen Frauen, und später waren sie gorgonenartige hässliche Frauen. Die Geschichten, die von ihnen in diversen Quellen erzählt werden, sind durchgängig beängstigend und/oder unappetitlich. Prinzipiell hatten sie die Aufgabe, im Auftrag des Göttervaters Zeus die Seelen der Toten ins Totenreich zu befördern und dabei noch ein wenig zu quälen (vor allem, wenn sie es verdient haben; Vatermörder und so). Aber manchmal hatten sie auch eine besondere Mission: So durften sie beispielsweise den bilden Seher Phineus quälen (auch er hatte Zeus geärgert), dem jeden Tag eine reichliche Tafel aufgetischt wurde – und kaum griff er nach den Leckerbissen, schnappten die flinken Bestien ihm die Bissen vom Mund weg. Oder sie – äh, entleerten sich darauf. Dann mochte er nicht mehr essen. Soweit Wissen von Wikipedia. Ich blicke wieder auf.
Die Harpyie vor mir blinzelt nicht, sie bewegt nur manchmal eher eulenartig den Kopf; sie ist immer noch weiblich, sie ist immer noch schön, zweifelsohne ist sie schön, und ich werde den Eindruck nicht los, dass sie das auch weiß! Dann ändert sie ein wenig die statuarische Pose, und dann – nun ja, dann entleert sie sich. Ich hatte zum Glück der Versuchung widerstanden, Popcorn oder Salzbrezeln zu kaufen, auch wenn beides außer Reichweite des schön-schrecklichen Tieres gewesen wäre. Dass diese Wesen Menschen tragen können und hässliche Dinge mit ihnen veranstalten, ist im Übrigen durchaus vorstellbar: Es handelt sich um sehr, sehr große Greifvögel, die Weibchen noch deutlich schwerer und kräftiger als die Männchen. Sie sind überzeugte Fleischfresser, die sich vor allem von Faultieren (nein, kein billiger Scherz; Folivora) und kleineren bis mittelgroßen Affen ernähren (wer weiß, was ihnen hier im Zoo in Gefangenschaft aufgetischt wird? Durch die regionalen Zeitungen gingen gerade Geschichten von der Überbevölkerung des Pavian-Geheges….)? Und sie sitzen hier natürlich in bemitleidenswerten kleinen Volieren; was ein Schicksal ist, dass noch nicht einmal blutrünstige fleischfressende Bestien verdient haben (zumal wenn sie im Auftrag des Donnergottes unterwegs sind, des größten Monsters der antiken Mythologie).
Aber die Frage lässt mich nicht los, ob nun die mythologischen Figuren oder die realweltlichen Vögel zuerst waren: zu schlagend sind die Parallelen, im Aussehen, im Verhalten, in der ganzen Imaginationskette, die sie auslösen. Und für viele, wahrscheinlich: für die meisten mythologischen Konstrukte gilt ja, dass sie eine Art natürlichen Kern haben, eine reale Verwandtschaft mit, eine Analogie zu Naturphänomenen; die menschliche Phantasie, selbst die von ganzen Zivilisationen, bringt es nicht auf diejenige Kreativität, die die Evolution ganz nebenbei entfaltet hat (die Kreativität der Evolution heißt: Artenvielfalt). Andererseits ist das Habitat nun tatsächlich falsch, selbst wenn man davon ausgeht, dass die Art früher weiter verbreitet war: Es ist ein amerikanischer Adler. Andererseits, andererseits: ist die Harpyie in die Heraldik – die auch nur eine Art ikonographischer Abkürzung mythologischer Bildtraditionen ist, damit man sie auf Schilde malen konnte – eingegangen als: „Jungfrauenadler“. So heißt der deutsche Fachbegriff, und er meint: einen stilisierten Frauenkopf (einer jungen Frau, deren Unschuld impliziert wird) auf einem stilisierten Adlerkörper. Ist die Harpyie doch ein archetypisches Artefakt der menschlichen Phantasie? Und warum gibt es keinen Jungmannadler?
Die Harpyie schaut mich an. Ach, ihre Augen sind so schön und so schwarz, man könnte versinken in ihnen. Wen interessiert es, dass sie sich auch dann und wann entleeren muss; dass sie einen scharfen Schnabel hat und scharfe Krallen und gerne Affen zum Frühstück isst? Sie baut ihr großes, geräumiges Nest ganz oben in den großen Regenwaldbäumen, nahe am Himmel; sie zieht nur alle zwei Jahre ein Jungtier auf, das von beiden Eltern monatelang gefüttert und umsorgt wird. Und sie ist ein Wesen, das es wahrscheinlich bald wirklich nur noch in der Imagination geben wird. Bevor ich mich zum Gehen wende, schweren Herzens (am liebsten würde ich ein Loch in die Voliere reißen und zusehen, wie sie ihre schönen, schweren Flügel entfaltet), sage ich ihr noch, dass sie in meinem Kopf bleiben wird; nicht nur als totes Zeichen für die Verwandtschaft von menschlicher Imagination und natürlicher Artenvielfalt, sondern als lebendige Erinnerung an ein bisher noch nie erlebtes, sehr gemischtes und sehr besonderes Gefühl von Bedrohung, Faszination und Bewunderung in Einem. Dass das Schöne nur des Schrecklichen Anfang ist (oder umgekehrt), das kann jeder sagen; aber das Gefühl dazu zu finden, ist gar nicht so einfach.
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