Ihr müsst jetzt einmal weghören oder tapfer sein, all ihr Fleißigen, Unermüdlichen, Eingespannten, vor allem ihr, die ihr gar eine Karriere anstrebt! Denn einer eurer schoengeistinnen hat es geschafft: Sie ist in Frührente gegangen, und seitdem kann sie gar nicht genug davon erzählen: „Ich bin jetzt in Rente!“, sagt sie dann in einem etwas peinlich triumphierenden Tonfall jedem, ob er es hören will oder nicht. Manchmal trifft sie dabei auf einen klugen Kopf, wie den Klavierstimmer, der sich zweifelnd im vollgestellten Arbeitszimmer, wo auch das vernachlässigte Klavier wohnt, umschaute und dann kategorisch befand: „Sie gehen nicht in Rente!“ Natürlich hat der Mann recht, er ist ein kluger Kopf und kann sogar ganz wunderbar Klaviere stimmen; die Arbeit höret nimmer auf, warum sollte sie denn, sie ist doch eine Freude, auch wenn sie eine Last ist? Aber die Anstellung hört auf, die Fremdbestimmung (sie war nur klein, aber spürbar) und der Zwang (es war ein sehr sanfter, aber spürbar) hören auf, für immer! „Ich bin jetzt in Rente!“, selten hat ein Satz wohl so automatisch ein Lächeln auf meine meist zweifelnd verzogenen und inzwischen nach unten neigenden Mundwinkel gezaubert, es geht angeblich sogar bis in die Augen! Seit ich den Satz das erste Mal anprobierte, noch ganz erstaunt und verzückt von der Versuchung, die die vortragende Dame von der Rentenversicherung in der Reha mir da in einem Nebensatz vor die Füße gelegt hatte – seitdem zaubert er dieses Lächeln hervor. Es ist etwas idiotisch und hört dann wahrscheinlich bald auf. Aber bis dahin: „Ich bin jetzt in Rente!“
Natürlich sitze ich täglich an meinem Schreibtisch, natürlich habe ich Pläne, Projekte und Vorsätze. Natürlich gehe ich in die Reha-Gymnastik und mache dann und wann Yoga. Und dann gehe ich in die Wiesen und schaue den Vögeln nach. Oder ich gehe ins Thermalbad und mische mich mit einem neuen Gefühl der Zugehörigkeit unter die mit Poolnudeln entspannt durchs Becken treibenden Mit-Rentner. Neulich machte ich dabei eine befremdliche Entdeckung. Ich ließ meinen Rücken (er tut redlich weiter weh und geht offensichtlich nicht in Rente) sanft mit Massagedüsen besprudeln und beschaute besinnlich die Mitplanschenden. Dabei fiel mir, wie schon so oft in den letzten Jahren, die Menge der Tattoos auf – was ja nun nicht ganz selbstverständlich ist bei einem gefühlten Durchschnittsalter von 72 Jahren. Und an der Stelle, wo ich sonst ganz selbstverständlich und reflexhaft in den Gedanken „Wie furchtbar, sich freiwillig so zu verunstalten!“ gefallen wäre – machte sich ein neuer breit, und er sagte: „Wie wäre es denn mit einem Tattoo? Einem ganz mini-kleinen, geschmackvollen vielleicht? Einem springenden Delphin oder so?“ Ich war sehr verwirrt, aber man soll einen neuen Gedanken immer mit offenen Armen willkommen heißen, wegschicken kann man ihn später immer noch. Eine alte Freundin, die zufällig genau am gleichen Tag in Rente gegangen war wie ich, paddelte vorbei, ich sagte: „So viele Leute mit Tattoos!“, sie sagte: „Ist es nicht schrecklich, wie die Leute…“, und ich sagte: „Ich könnte mir vorstellen, auch eines zu haben. Ein ganz mini-kleines, geschmackvolles natürlich!“ Sie verschluckte sich etwas am angenehm temperierten Thermalwasser, aber gewöhnte sich erstaunlich schnell an den Gedanken; wir diskutierten dann akzeptable Tiere (es würde wohl ein Eisvogel werden für mich) und Blumen (eine Distel für meine Freundin, die aber zögerlich blieb). War es nicht wunderbar, Rentnerin zu sein?
Die Geschichte dazu ist natürlich schon geschrieben, sie ist von Brecht und hat den sehr schönen Titel „Die unwürdige Greisin“, und man liest sie gern als eine – angesichts seines Umgangs mit den Frauen seines Umfeldes erstaunliche – Emanzipationsgeschichte des Meisters. Ja, stimmt schon irgendwie; aber wenn man selbst nun definitiv alt ist und sogar eine Rentnerin, liest man sie anders: Es ist eine Befreiungsgeschichte – aber nicht (nur) von der Unterdrückung durch die Männer und/oder die böse Gesellschaft, sondern von den Regeln und Grenzen, die man sich selbst auferlegt hat. Denn die unwürdige Greisin klagt an keiner Stelle über ihr hartes Vorleben, in dem sie fünf Söhne großzog und ihren Haushalt vorbildlich führte und sich keinerlei Extravaganzen erlaubte. Nein, sie ändert einfach ihr Leben den neuen Umständen entsprechend, ohne irgendjemand zu fragen. Pflegt neue Bekanntschaften, weil sie, ich zitiere: „etwas gesehen haben“. Wie ich sie verstehe! Ich pflege jetzt auch neue Bekanntschaften, vorzugsweise mit Leuten, die etwas gesehen haben (im Unterschied zu Leuten, die etwas gelesen haben). Sie sind einfach interessanter. Ich trinke wie Brechts Greisin meinen Rotwein, was wäre das Leben ohne den gelegentlichen kleinen Rausch? Aber ich werde sicherlich noch an meiner Unwürdigkeit arbeiten müssen, ein einzelnes Tattoo macht ja noch keine Lebensrevolution! Doch wenn man am Ende auch von mir sagen könnte, ich hätte „das Brot des Lebens aufgezehrt bis auf den letzten Brosamen“ – dann wäre ich stolz und glücklich. Brot ist ok, ich brauche keine Sahnetorten (na gut, nicht jeden Tag!). Und es kann auch hart sein, und es kann auch grau sein. Aber man hat es aufzuessen – und es zu genießen, so lange man noch kauen kann!
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