In eigener Sache:
Mit Tigern schweigend. Ausgewählte Gedichte von Sylvia Townsend Warner. Übersetzt und mit einem Nachwort von Jutta Heinz
der blaue reiter, Verlag für Philosophie. Hannover, 2024.
202 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen, Format: 17 x 24 cm
Preis: € 39,90 (D), ISBN: 978-3-933722-93-5
(aus dem Nachwort)
Sylvia Townsend Warner: Geschichte einer Faszination
Sie ist wenig bekannt, noch viel weniger bekannt als ihre Zeitgenossin Virginia Woolf, der wenigstens postumer Ruhm in hohem Maße zukam. Gerade einmal einer ihrer Romane ist ins Deutsche übersetzt; ihre Gedichte sind sogar in ihrer englischen Muttersprache kaum noch erhältlich. Wer war Sylvia Townsend Warner (1893–1978), und warum sollte sie endlich gelesen werden?
Es gibt jede Menge gute Gründe für die längst fällige Wiederentdeckung. Zunächst: Warner war eine schreibende Frau. Schreibende Frauen hatten es, historisch gesehen, schwer in ihrem Leben, und sie haben es bis heute schwer in der Überlieferung; eine weibliche Literaturgeschichtsschreibung steckt noch in den Kinderschuhen. Warner war zudem eine außerordentlich gebildete, intelligente und witzige schreibende Frau; alles Qualitäten, die auch bei Männern das Fortleben im Andenken der Nachwelt gelegentlich eher erschweren denn befördern. Sie war natürlich auch, wie jede intelligente Frau, politische Feministin, und zwar (wie nicht alle politischen Feministinnen) in Maßen und mit Verstand. Sie lebte in interessanten Zeiten und engagierte sich politisch wie menschlich; in ihren Briefen zeigt sie sich großzügig in ihrem Umgang, beständig in ihren Freundschaften und verletzlich in ihrer Liebe. In ihrem langen Leben liebte sie Frauen und Männer; sie liebte die Natur (besonders die englische Landschaft), sie liebte die Kunst (besonders die Musik); sie liebte ihre Landhäuser und, vor allem gegen Ende ihres Lebens: ihre Katzen! Und schließlich: Als Autorin war Sylvia Townsend Warner eine stilistische Meisterin, mit einer geradezu schlafwandlerischen Sicherheit sowohl im Erzählen als auch im Gedichteschreiben; die Lektüre ihrer Texte ist deshalb geradezu ein sinnliches Vergnügen.
Das alles wären nun schon genug Argumente dafür, Warner zu lesen, in ihrer Originalsprache oder auch in einer Übersetzung. Aber ein weiterer wichtiger Grund kommt noch hinzu: Sie war eine originelle und anregende (Selbst-)Denkerin. Warner hat literarische Philosophie geschrieben, und zwar in allen ihren Werken. Am konzentriertesten und am lebensnächsten findet man ihre Philosophie jedoch in ihren Gedichten. Das vielleicht tiefsinnigste von ihnen, das epische Langgedicht Opus 7, ist die (Anti-)Heldengeschichte einer Alkoholikerin auf dem Lande. Es ist tragisch und komisch, tiefsinnig und einfach, naiv und witzig; und es ist dabei sprachlich so genial, dass man ihm in einer Übersetzung sowieso nicht gerecht werden kann. Was aber – hoffentlich – auch in einer Übersetzung gezeigt werden kann, ist: In der Geschichte einer passionierten Trinkerin und schelmischen Blumenverkäuferin, die als einfache Frau Gott zu einem Trinkduell herausfordert, ist mehr Gedachtes und Gefühltes als in so mancher Buch-Philosophie voller Systematik und Jargon.
Eine Auswahl der Gedichte der englischen Romanautorin und Lyrikerin liegt mit diesem Band erstmals in deutscher Übersetzung und mit kommentierenden Erläuterungen versehen vor. Ein essayistisches Nachwort führt in Warners Leben und Werk ein und präsentiert sie als ebenso scharfsinnige wie witzige Denkerin. Übersetzung und Nachwort von Jutta Heinz.
Leseprobe:
Frühlingswunsch
Heut wäre ich am liebsten ein Baum,
und nicht ich selbst.
Ich würde dem Frühling mit einer netten kleinen Reihe Gedichte begegnen,
aufgereiht wie Tassen und Unterteller auf einem Regalbrett.
Denn dann hätte ich unzählige Gedichte,
von denen eines das andere küsst,
jedes ganz es selbst, in makelloser Form und lieblicher Vielfalt.
Und alle von dem gleichen unermüdlichen Grün.
Niemand würde das für unnatürlich halten
oder mein Recht dazu bezweifeln;
den ganzen Tag lang würde ich sie den Leuten über die Köpfe wirbeln,
und die ganze Nacht lang würde ich sie mir selbst vorsingen.
Aber da ich nur eine Frau bin
und kein Baum,
habe ich mit kläglicher menschlicher Sorgfalt dieses eine Gedicht gemacht
und setze es jetzt aufs Regal, damit es mit den anderen ist.
Abendgebet einer Hausfrau
Sanfter Kessel auf meinem Herd,
besäusele den Zorn Gottes,
gescheuerter Tisch, bete für mich.
Marmelade, Eingemachtes,
Sommerklöster, beschriftet und gezählt,
bewahrt vor dem Verfall,
betet für mich!
Ausgewrungenes Geschirrtuch auf der Wäscheleine,
umschmeichle Gottes feine Nasenflügel,
geflickte Schürze, bete für mich.
Stilles Leinen in der Bügelpresse,
gemähte Wiesen, genossenschaftlich und gereiht,
bedeckt die Stunde meiner Not;
betet für mich.
Wasser der Wahrheit aus dem Hahn,
spüle die Missgeschicke des Geistes hinweg,
brauner Teekessel, bete für mich.
Glas und Ton und Porzellan,
auferstandene Erde, die eine Küche erblühen lässt;
betet für mich.
All ihr Dinge, alltäglich, flüchtig, geflickt,
stellt euch zwischen mich und mein Selbst,
verschwistert meine Sterblichkeit.
Mit eurer verneuten Vergänglichkeit,
die sanftmütiger ist als meine und sprachlos,
in einsamer Ewigkeit:
Betet für mich.
Zur mittleren Stunde der Nacht
Zwischen zwölf und eins,
zwischen eins und zwei,
sitze ich hier allein,
so wie ich es oft tue,
mit einem gefundenen Reim,
mit einem geleerten Wein.
Dann, am Nadir der Zeit,
schleichen seltsame Dinge herein.
Fantastische Gestalten
beginnen um mich zu walten.
Ein Malaie mit einer Machete,
eine graue Girlande aus Gorillas,
eine blonde Frau, gewandet
in raschelnde Garben aus Korn,
ein verrückt gewordener Astronaut,
ein ganz winziges Einhorn,
das mit zitternder Brust
schrill und hell singt,
ein Mann, in Flucht und Furcht,
der eine Artischocke bringt.
Ein Priester mit einer Maske,
abstürzende Akrobaten,
eine Negerin mit einem Korb voll
Amandavas amadava –
Um mich herum scharen sie sich,
doch sprechen sie nicht;
nur Träume von Schlafenden,
die ich wachend sehe.
Gloriana, sterbend
Kein Widerspruch! Ich werde auf der Erde liegen.
Bisher sah ich auf euch herab. Von Pferderücken, Thronen,
vom Baldachin hinab auf euer Aufschauen.
Der Sand ist durch. Jetzt drehe ich die Uhr um.
Von nun an huldigt ihr mir abwärts, ohne Aufhebens
gehorsam niederfallend wie die Herbstblätter,
als bunte Flecken für den Quilt meiner wachsamen
Betrachtung meines Königsreichs von unten.
Wie groß sind meine Leute! Wie ein Volk von Bäumen
wiegen sie hin und her, seufzen, nicken mit ihren Köpfen, rascheln über mir,
und ihre aufmerkenden Augen sind mir so fern wie Sternenlicht.
Ich habe immer schon die Schönen, Gutgewachsenen geschätzt.
Nicht eine Königin hat größre Masten irgendwo in ihren Forsten,
noch stolzere und eigensinnigere Köpfe, eingepasst
in Schwertscheiden der Untertanentreue.
Nicht eine Jungfrau genoss jemals bessere Verehrung.
Lass mich in Ruhe, Weib! Ich werde nicht
zu Bette gebracht werden. Denkst du etwa, dass ich,
die ich durch alle Wetter ritt, die tanzte unter
Juwelen, schwer wie Staatsschätze, die
durch Predigten und Ansprachen hindurch sich selbst zu Stein saß,
dass ich Schaden nehmen könnte, schlief ich auf der Erde?
Nicht, dass ich schlafen wollte! Wollt’ ich schlafen,
ein jedes Bett wär’ gut genug für mich. Doch bin ich hier
für tiefsinnige Untersuchungen, Betrachtungen,
und wie Persephone, oder die Rotfüchsin,
will ich im Unterreich meinen Verstand schärfen,
verließ ich meinen Baldachin, um eine neue Politik
beschauend meine Füße und, dem Inder gleich,
der liegend an der Erde horcht mit seinem ganzen Leib
zu lernen, lieg ich hier und warte auf den Widerhall
von Dingen, die da kommen werden, drohenden Gefahren.
Ist das der Bischof? Lasst ihn weiter lamentieren,
wenn seine Knie müde werden, mag sein Glauben ihnen Polster sein.
Oh, wie der arme Mann mit Klagen über mich den Himmel eintrübt!
Deposuit superbos. Doch keine Hand
als meine eigene hat mich gefällt –
nicht Schwäche, aufgezwungen Geist und Gliedern,
nicht Furcht, Vorahnung, Einbildung, noch Alter, Lähmung
haben mich gefällt. Ich liege hier, durch meinen freien Willen
und durch die Neugier einer Königin.
Ich darf wohl sagen, niemand in ganz England
liegt näher noch am Erdboden als ich.
Nicht der Verräter in der Todeszelle, wo
nur wenig Stroh sich biegt unter dem Eisen der Notwendigkeit,
nicht der Hirte, eingekauert unterm Dornenbusch vor der Kälte,
und nicht der lange, träumende Bauernjunge,
der ein Buch vor dem sterbenden Feuer verbrennt.
Anne Donne
Ich lag darnieder in London;
und um mein Bett weinten meine lebenden Kinder,
und um mein Bett sangen meine toten Kinder.
Als mein Blut ausströmte, setzte es die Klöppel in Gang:
Schlagend, jaulend, jammernd, all die Glocken in London
läuteten, als ich im Sterben lag –
John Donne, Anne Donne, abgetan!
Schlecht-gemacht, gut-gemacht, abgetan.
Alle Ängste abgetan, alles Wollen und Hoffen,
alles Anfüttern und Aufziehen, erledigt; alle Abrechnungen,
ob Schulden, ob Mondläufe, abgezählt; alles Hin und Wider
aufgesogen in der einen Ebbe. Da, auf meinem Bett in London,
hörte ich, wie er mich rief, voll Vorwurf:
Ungetan, Anne Donne, ungetan!
Nicht fertig, noch nicht fertig gemacht!
Müde erhob ich mich auf seinen Ruf hin,
schweißüberströmt das Gesicht, die Haare zerzaust,
über das Glocken- und Meereslärmen hinweg reiste ich,
mein totes Kind im Arm, eine so leichte, so verlorene Last,
nach Paris, wo er saß und las,
zeigte ihm meine Hiobsbotschaft. Das getan,
ging zurück, lebte fort in London.
Erläuterungen
Amandava amadava: Tüpfelastril oder auch Tigerfink; farbenfroher Prachtfink, ursprünglich aus Südostasien, seit dem 18. Jahrhundert in Europa häufig als Ziervogel gehalten.
Gloriana: Elisabeth I. (1533–1603), auch bekannt als ‚Virgin Queen‘ (weil sie ihr Leben lang unverheiratet blieb), langjährige Regentin und Namensgeberin des ‚elisabethanischen Zeitalters‘. Unter dem Namen ‚Gloriana‘ verherrlichte sie unter anderem der Dichter Edmund Spenser in seinem Feen-Epos The Faerie Queene (1590–1596). Elisabeth I. erkrankte im Februar 1603, sie litt unter Schwäche und Schlaflosigkeit und starb schließlich am 24. März.
Deposuit superbos: Worte aus dem Magnificat-Hymnus, dem Lobgesang Marias (vgl. Luk 1, 46–55): „Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind“.
Verräter in der Todeszelle: Viele Vertraute aus dem Umkreis Elisabeths I. wurden im Verlauf ihrer langen Regierungszeit wegen Intrigen hingerichtet. Sie selbst war eine Zeitlang im Tower in London eingesperrt, bevor sie Königin wurde.
Anne Donne: John Donne (1572–1631) war ein bedeutender englischer Dichter, Verfasser von Predigten und religiösen Gedichten sowie Übersetzungen. 1601 heiratete er heimlich die junge Anne More, was einen Skandal auslöste, seinen Ruf für einige Zeit ruinierte und beide in Armut stürzte. Er soll deshalb seiner Ehefrau, nachdem er seine Stelle verloren hatte, an den Rand eines Briefes die Worte „John Donne, Anne Donn, Un-done“ (ein unübersetzbares Wortspiel) geschrieben haben. Anne gebar ihm zwölf Kinder und zog sie während seiner häufigen Reisen (u.a. auch nach Paris) auf; bei der Geburt des letzten Kindes im Jahr 1617 starb sie.
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