Die Reisebriefe von Lady Mary Montagu
Es ist einer der ersten von einer Frau geschriebenen Reiseberichte. Genauer: von einer Frau, die gebürtig von Adel war; die in ihrem Leben Ehefrau, Mutter und Geliebte war; und die im Lauf der Zeit zur öffentlichen Intellektuellen, streitbaren Autorin und romantischen Lyrikerin wurde. Ihr Name war Lady Mary Wortley Montagu, geborene Pierrepont; sie wurde 1689 in Nottinghamshire geboren und starb 73jährig in London. Ihre Lebensgeschichte beginnt nicht ungewöhnlich für Frauen ihrer Zeit. Denn eigentlich erhielt Mary nur die typische Mädchenerziehung für Frauen des Adels: Lernte also Zeichnen, Sticken, Kochen, Tanzen und Reiten; aber immerhin auch die Fremdsprachen des gebildeten Europas, also Französisch und Italienisch. Weil sie jedoch bald erkannte, dass das der Schlüssel zur gelehrten Welt war, brachte sie sich selbst Latein bei. Mit 23 Jahren heiratete sie, gegen den Willen des Vaters, Edward Wortley Montagu; im Jahr darauf wurde der erste gemeinsame Sohn geboren. Die ersten Jahre der Ehe waren geprägt von finanziellen Schwierigkeiten, aber dann begann der Ehemann Karriere zu machen; er wurde Parlamentsabgeordneter, man zog gemeinsam nach London, kaufte ein Haus und verkehrte in gehobenen Kreisen und bei Hofe. Mary – man stelle sie sich jung, hübsch, witzig und gebildet vor – schloss bald einige Freundschaften, die ihr Leben lenken und prägen sollten: beispielsweise mit dem Dichter Alexander Pope, einem der bekanntesten und einflussreichsten Autoren der Zeit, und der Schriftstellerin Mary Astell, die sich energisch für mehr Frauenrechte einsetzte.
Anfang 1716 nahm Marys Schicksal dann diejenige schicksalhafte Wendung, die ihren anhaltenden Ruhm bis heute begründete: Ihr Ehemann wurde als Botschafter an den Osmanischen Hof nach Konstantinopel entsandt, und die Familie machte sich, samt dem noch sehr jungen Sohn, auf den langen Weg dorthin. Man reist über Zwischenstationen in Köln, Regensburg, Wien und Adrianopel; es war eine im Großen und Ganzen sicherlich komfortable, aber auch ein wenig abenteuerliche Reise. Und je weiter man kam, desto mehr Orte und Dinge sah Mary, die nur wenige Frauen und auch gar nicht so viele Männer in Westeuropa vor ihr gesehen hatten. Ihre gesellschaftliche Stellung sicherte ihr überall einen zuvorkommende Empfang, in den allerhöchsten Kreisen ebenso wie bei Provinzverwaltern; viele nahm sie sicherlich mit ihrem Charme, ihrem Humor und ihrer offenen Neugier für sich ein. Und egal, ob man sie dann im Rahmen des Besuches in Kirchen, Paläste, öffentliche Bäder oder über Schlachtfehler führte: Überall sah Mary sehr genau hin; sie war eine ausgezeichnete Beobachterin, zudem bemerkenswert frei von jeglichen Vorurteilen politischer, religiöser oder menschlicher Art. Und über all das, was sie sah und erlebte und verarbeitete, schrieb sie: Tagebücher wie Briefe.
Die Familie blieb nur bis 1718 in Konstantinopel, der Mann wurde bald wieder abberufen; Mary brachte das zweite Kind, ihre Tochter, dort zur Welt. Dann kehrte man nach London zurück, wieder eine lange Reise; und Lady Mary erwarb sich zunehmend einen Ruf als Schriftstellerin, obwohl viele ihrer Texte nur als Manuskripte im Freundeskreis zirkulierten. Später entzweite sie sich mit Alexander Pope, der sie zuvor protegiert hatte, und man geriet in eine zu dieser Zeit nicht unübliche Autoren-Fehde mit Schriften und satirischen Gegen-Schriften; aber es spricht für Marys Selbstbewusstsein als Autorin, dass sie sich in diesen Federkrieg tatsächlich einließ! Noch später übersiedelte sie auf den Kontinent, lebte in Avignon, Brescia und Venedig, verließ ihren Mann für eine Affäre mit einem jüngeren Mann (Italiener, Kunstkritiker und Schriftsteller) und kehrte zum Sterben nach dem Tod ihres Mannes nach London zurück. Erst nach ihrem Tod wurden ihre Reisebriefe von der Reise nach Konstantinopel unter dem pompösen Titel Letters of the Right Honourable Lady M–y W—y M—-e written, during her travels in Europe, Asia and Africa, to persons of distinction, men of letters veröffentlicht und bald auch ins Deutsche übersetzt (Briefe der Lady Marie Worthley Montague, geschrieben während ihren Reisen in Europa, Asia und Afrika, an Personen vom Stande, Gelehrte etc. in verschiedenen Theilen von Europa geschrieben; welche außer andern Merkwürdigkeiten Nachrichten von der Staatsverwaltung und den Sitten der Türken enthalten; aus Quellen geschöpft, die für andre Reisende unzugänglich gewesen); und sie begründeten ihren Ruhm als eine der ersten weiblichen Reiseschriftstellerinnen überhaupt.
Diese Pionierstellung betonen schon die beiden Vorworte, die gemäß den zeitgenössischen Publikationssitten die Briefe einleiten. Das erste ist von einer ungenannten „Dame“; sie ist stilistisch genauso gewandt und genauso gebildet wie die Briefautorin selbst, es handelt sich nämlich wahrscheinlich um die schon genannte Autorin und Frauenrechtlerin Mary Astell. Astell kennt offensichtlich die dominant männlichen Vertreter des in der Zeit schon reichlich bedienten und beliebten Genres Reiseliteratur, auf die sich auch Lady Mary Montagu gelegentlich mit eher abfälligen Bemerkungen in ihren eigenen ‚Briefen‘ bezieht. Demgegenüber betont Astell im Vorwort nun gezielt die Möglichkeiten und Vorzüge der femininen Form der Gattung: Denn Frauen könnten den inzwischen schon recht eingefahrenen, wenn nicht gar in Routine festgefahrenen Reiseberichten neues Leben einhauchen; einfach, weil sie andere Dinge sehen, weil sie sie die Dinge anders sehen, und weil sie sie dann auch anders zu Papier bringen! Inhalt und Form, beides ändere sich, wenn Frauen von ihren Reisen berichten. Dazu komme, dass Lady Mary mit geradezu vorbildlicher stilistischer Korrektheit wie Lebendigkeit schreibe („Lebendigkeit“ ist ein Wort, das relativ häufig im Zusammenhang mit weiblichen Schreiben fällt, es ist sozusagen die klassische weibliche Autoren-Tugend). Und schließlich, auch das ist bezeichnend: Atmeten die Briefe einen Geist weiblichen Zartgefühls, der sich in Vorurteilsfreiheit und Urteilsenthaltung äußere. Das alles schreibt die Mary Astell im Vorwort aber viel besser und lebendiger; deshalb hier der Wortlaut im schönen, korrekten, lebendigen Englisch:
I confess, I am malicious enough to desire, that the world should see to how much better purpose the Ladies travel than their Lords; and that, whilst it is surfeited with Male travels, all in the same tone, and stuffed with the same trifles; a lady has the skill to strike out a new path, and to embellish a worn-out subject with variety of fresh and elegant entertainment. For, besides the vivacity and spirit which enliven every part, and that inimitable beauty which spreads through the whole; besides the purity of the style, for which it may justly, be accounted the standard of the English tongue; the reader will find a more true and accurate account of the customs and manners of the several nations with whom this lady conversed, than he can in any other author. But, as her ladyship’s penetration° discovers° the inmost follies of the heart, so the candour of her temper passed over them with an air of pity, rather than reproach; treating with the politeness of a court, and the gentleness of a lady, what the severity of her judgment could not but condemn.
Die Lobeshymne endet damit, dass die Männer aufgerufen werden, die außerordentliche Leistung tatsächlich neidlos anzuerkennen; allein ein solches Verhalten sei eines rationalen wie christlichen Autors und Menschen würdig! Das scheint sich der Autor des zweiten Vorworts, nämlich der männliche Herausgeber, durchaus zu Herzen genommen zu haben: Er lobt ebenfalls die Musterhaftigkeit von Inhalt und Form der Reisebriefe, die sie deshalb zu einer geeigneten Lektüre – sogar! – für Männer machen:
The letters from Ratisbon, Vienna, Dresden, Peterwaradin, Belgrade, Adrianople, Constantinople, Pera, Tunis, Genoa, Lyons, and Paris, are certainly, the most curious and interesting part of this publication; and, both in point of matter and form, are, to say no more of them, singularly° worthy of the curiosity and attention of all men of taste, and even of all women of fashion. As to those female readers, who read for improvement, and think their beauty an insipid thing, if it is not seasoned by intellectual charms, they will find in these letters what they seek for; and will behold in their author, an ornament and model to their sex.
Was ist nun der weibliche Blick, und wie verändert sich die Reiseberichterstattung, wenn sie von einer gebildeten und stilistisch versierten Autorin betrieben wird? Nun, zunächst formieren Ziel und Art des Reisens, wie auch bei männlichen Autoren, den Reisebericht. Es ist eine lange, teilweise sicherlich beschwerliche Reise mit vielen Stationen, die Lady Mary beschreibt; und es ist eine Reise in den Orient, den fremden und sagenumwobenen, von dem seit Marco Polo noch gar nicht so viele Reisende überhaupt berichtet haben. Doch schon bei den ersten Stationen in Deutschland bewährt sich der scharfe, in gewissem Sinn ethnologische Blick der Frau auf das öffentliche Leben: Denn Lady Mary bemerkt einen wesentlichen Unterschied zwischen den freien Reichsstädten, sie sie besucht hat, und den Provinz-Hauptstädten der kleineren deutschen Fürstentümer. Und anstelle lange über die Ursachen der Unterschiedlichkeit zu spekulieren, fasst sie diesen Unterschied lieber in einen sprechenden Vergleich:
Tis impossible not to observe the difference between the free towns and those under the government of absolute princes, as all the little sovereigns of Germany are. In the first, there appears an air of commerce and plenty. The streets are well-built, and full of people, neatly and plainly dressed. The shops are loaded with merchandise, and the commonalty are clean and cheerful. In the other you see a sort of shabby finery, a number of dirty people of quality° tawdered out; narrow nasty streets out of repair, wretchedly thin of inhabitants, and above half of the common sort asking alms. I cannot help fancying° one under the figure of a clean Dutch citizen’s wife, and the other like a poor town lady of pleasure, painted and ribboned out in her head-dress, with tarnished silver-laced shoes, a ragged under-petticoat, a miserable mixture of vice and poverty.
Natürlich wirkt es ein wenig stereotyp: Frauen reden immer über Mode, sogar wenn sie über Politik reden; und Lady Mary redet in der Tat relativ viel über Mode in ihren Briefen, auch über Frisuren oder Fragen der Innenausstattung. Sie tut das mit der Fachkenntnis derjenigen, die selbst durch und durch woman of fashion ist; die mit ihrer Garderobe zu Hofe geht und ihren Salon geschmackvoll einrichtet. Aber ist das nicht tatsächlich interessant, durchaus auch für den man of taste? Sind Kleider, Frisuren und Accessoires nicht – Zeichen eines ästhetischen Zeitgeistes ebenso wie eines Gestaltungswillens, und darüber hinaus: gesellschaftlich, politisch und wirtschaftlich von nicht nur symbolischer Bedeutung? Denn Lady Mary sinniert auch über die – segensreichen! – Folgen einer gesetzlichen Regulierung von Kleidungssitten; oder darüber, wie die Wahrnehmung von Menschen – speziell: Frauen – sich verändern würde, wenn wir alle nackt wären. Das tut sie anlässlich ihres Besuches eines türkischen Bades, reserviert für Frauen, einem der berühmteren Höhepunkte der Reisebriefe und tatsächlich vollständig unkartiertes Gelände in der bisherigen Reiseliteratur: Denn wie sollte ein männlicher Beobachter in ein Frauenbad kommen? Oder sie berichtet, mit durchaus liebevollem weiblichem Verständnis ebenso wie mit zarter Ironie gewürzt, von den seltsamen Sitten der Katholiken bei der Ausstattung ihrer Altäre:
But I was particularly diverted° in a little Roman Catholic church which is permitted here, where the professors of that religion are not very rich, and consequently cannot adorn their images in so rich a manner as their neighbour. For, not to be quite destitute of all finery, they have dressed up an image of our Saviour over the altar, in a fair full-bottomed wig very well powdered. I imagine I see your ladyship stare at this article, of which you very much doubt the veracity;° but, upon my word, I have not yet made use of the privilege of a traveller; and my whole account is written with the same plain sincerity of heart, with which I assure you that I am, dear Madam,
In Deutschland und Österreich bewegen sich die Reisenden jedoch vorerst durchaus noch auf vertrautem Gebiet. Erst mit der Reise die Donau hinab beginnen Landschaft, Sitten und Städte immer fremder und exotischer zu werden. Nebenbei entdeckt Lady Mary, und auch das ist wahrscheinlich eine Premiere in der Reiseliteratur und ein Ergebnis eines spezifisch weiblichen Blicks, die Vorzüge von Kreuzfahrten:
We travelled by water from Ratisbon, a journey perfectly agreeable, down the Danube, in one of those little vessels, that they, very properly, call wooden houses, having in them all the conveniences of a palace, stoves in the chambers, kitchens, &c. They are rowed by twelve men each, and move with such incredible swiftness, that in the same day you have the pleasure of a vast variety of prospects; and, within the space of a few hours, you have the pleasure of seeing a populous city adorned with magnificent palaces, and the most romantic solitudes, which appear distant from the commerce of mankind, the banks of the Danube being charmingly diversified with woods, rocks, mountains covered with vines, fields of corn, large cities, and ruins of ancient castles.
Aber Mary sieht nicht nur großartige Paläste, romantische Einsiedeleien oder blühende Landschaften, bestückt mit schmucken Burgruinen. Man besucht vielmehr auch, wahrscheinlich eher um den Ehemann zu beeindrucken: ein kürzlich noch umkämpftes Schlachtfeld. Es liegt bei Zenta, wo in einer entscheidenden Schlacht die Türken besiegt wurden, was dann endlich zum Frieden von Karlowitz führte. Der Sieg kostete um die 25.000 Türken das Leben; und Lady Mary zieht aus diesem gruseligen Besuch den einzigen sinnvollen Schluss:
This little digression has interrupted my telling you we passed over the fields of Carlowitz, where the last great victory was obtained by prince Eugene over the Turks. The marks of that glorious bloody day are yet recent, the field being yet strewed with the skulls and carcasses of unburied men, horses, and camels. I could not look, without horror, on such numbers of mangled human bodies, nor without reflecting on the injustice of war, that makes murder not only necessary but meritorious. Nothing seems to be a plainer proof of the irrationality of mankind (whatever fine claims we pretend to reason) than the rage with which they contest for a small spot of ground, when such vast parts of fruitful earth lie quite uninhabited. ’Tis true, custom has now made it unavoidable; but can there be a greater demonstration of want° of reason, than a custom being firmly established, so plainly contrary to the interest of man in general? I am a good deal inclined to believe Mr Hobbs, that the state of nature is a state of war; but thence I conclude human nature, not rational, if the word reason means common sense, as I suppose it does. I have a great many admirable arguments to support this refection; I won’t however trouble you with them, but return, in a plain style, to the history of my travels.
Man kann, bei vernünftiger Betrachtung – und ist es nicht wunderbar, wie Lady Mary ganz im Vorbeigehen jegliche Menschenvernunft als „common sense“ definiert, gesunden Menschenverstand in Deutsch, aber im Englischen noch ein wenig mehr als das: ein gemeinsamer, geteilter Sinn für das Richtige und Wahre! –; man kann, wenn man sich auf diesem gemeinsamen Sinn für das Richtige und Wahre besinnt, den Krieg nicht anders als evidenzbasierten Beweis für die menschliche Unvernunft sehen; und man kann das sogar rational und philosophisch begründen!
Aber das wollen wir jetzt nicht tun, denn es hilft auch nichts; wir fahren lieber fort, im „plain style“ – was eine ziemliche Untertreibung angesichts des betriebenen stilistischen Aufwandes ist – in der Reisegeschichte. Natürlich konzentriert sich Lady Mary auch, als sie im Orient ankommt, auf sogenannte Frauenthemen – aber in einem sehr weiten Sinn. Denn wenn sie mit großer Sorgfalt und einem gewissen modischen Neid die kostbaren orientalischen Frauen-Gewänder beschreibt, tut sie das häufig mit deutlichen politischen oder gesellschaftlichen Implikationen. Sie weist, nachdem sie schon einige Zeit in Konstantinopel verbracht hat, noch einmal explizit darauf hin, welche Vorzüge ihr gesellschaftlicher Stand und ihr Geschlecht mit sich bringen: Denn bisher sei der Orient bisher vor allem von kaufmännischen Reisenden besucht worden – die sich im Großen und Ganzen nur für ihre eigenen finanziellen Angelegenheiten interessierten und zudem für die türkische Oberschicht keine geeigneten Gesprächspartner seien; oder von oberflächlichen Reisenden, die nicht lange genug blieben, um wirklich in die tieferen Strukturen oder auch nur die privaten Räume einzudringen:
’Tis certain we have but very imperfect accounts of the manners and religion of these people; this part of the world being seldom visited, but by merchants, who mind little but their own affairs; or travellers, who make too short a stay, to be able to report any thing exactly of their own knowledge. The Turks are too proud to converse familiarly with merchants, who can only pick up some confused informations, which are generally false; and can give no better account of the ways here, than a French refugee, lodging in a garret° in Greek-street, could write of the court of England.
Lady Mary hingegen hat Zutritt zu dem am meisten geheimnisumwobensten Ort des Orients überhaupt: dem Harem nämlich. Und anstelle die Freiheitsberaubung und Versklavung von Frauen zu beklagen; oder über die Tyrannei ihrer männlichen Beherrscher zu schimpfen; oder überhaupt die große moralische, christliche oder politische Verurteilungskeule zu schwingen, ist sie hingerissen von der Schönheit der Frauen und der geradezu paradiesischen Schönheit und Abgeschlossenheit des Raumes. Sie kommt darüber hinaus zu einem wahrscheinlich provokant etwas zugespitzten Schluss:
Upon the whole, I look upon the Turkish women, as the only free people in the empire; the very divan pays respect to them; and the grand signior himself, when a bassa is executed, never violates the privileges of the haram, (or womens apartment) which remains unsearched and entire to the widow. They are queens of their slaves, whom the husband has no permission so much as to look upon, except it be an old woman or two that his lady chuses. ’Tis true, their law permits them four wives; but there is no instance of a man of quality° that makes use of this liberty, or of a woman of rank that would suffer it. When a husband happens to be inconstant, (as those things will happen) he keeps his mistress in a house apart, and visits her as privately as he can, just as it is with you. Amongst all the great men here, I only know the testerdar, (i.e. a treasurer) that keeps a number of she slaves, for his own use, (that is, on his own side of the house; for a slave once given to serve a lady, is entirely at her disposal) and he is spoke of as a libertine, or what we should call a rake, and his wife won’t see him, though she continues to live in his house. Thus you see, dear sister, the manners of mankind do not differ so Widely, as our voyage-writers would make us believe. Perhaps, it would be more entertaining to add a few surprising customs of my own invention; but nothing seems to me so agreeable as truth, and I believe nothing so acceptable to you.
Die Wahrheit, und nichts als die Wahrheit! Was in diesem Falle nicht nur im negativen Sinne meint: nicht die Ausschmückungen und Übertreibungen der professionellen Geschichtsschreiber; sondern auch, im positiven Sinne: nur das Selbsterlebte und nach vielen Eindrücken und Beobachtern zu einer Hypothese Zugespitzte! Und diese Hypothese lautet hier: Im insgesamt durchaus tyrannischen und im politischen Sinne unfreien Orient – sind die Frauen im Harem die einzigen wahrhaft Freien! Denn nicht nur herrschen sie uneingeschränkt über ihren kleinen Herrschaftsbereich; dieser ist auch ausgenommen von juristischer und strafrechtlicher Verfolgung, beispielsweise bei einer Verurteilung des Ehemannes. Und Ehemänner, so Lady Mary wahrscheinlich aus der Erfahrung ihres jungen Lebens, am englischen Hofe und anderswo – werden immer, in einem gewissen Maße, untreu sein. Eine zivilisierte Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sie diskret damit umgeht; ein man of quality wird sowieso keine Vielehe führen, und wenn er es doch tut: ist er eben kein man of quality, und das heißt, implizit: Man kann ihn ruhig gehen lassen, es lohnt die Mühe nicht. So handelt jedenfalls eine freie Frau!
Lady Mary Wortley Montagu wird nach ihrer Rückkehr noch viel erleben, lesen und schreiben. Aber wahrscheinlich sind es die Reiseerfahrung – und auch: das Schreiben der Reisebriefe –, die mehr zu ihrer persönlichen Bildung beitragen als alles Selbststudium in der Bibliothek des Vaters oder alle Korrespondenz mit berühmten Männern. Sie bringt genug mit, um das Beste aus dieser außergewöhnlichen Gelegenheit zu machen – eine hinreichende Allgemeinbildung, ein nicht geringes Schreibtalent, eine ausgeprägte Neugierde und eine natürliche Beobachtungsgabe, dazu ein mitfühlendes Herz; sie verweigert sich keiner Erfahrung und glaubt nur den eigenen Sinnen wie ihrem common sense. Und ist eine Frau; was ein Nutzen sein kann und eine Last, in diesem Fall aber vor allem eines ist: die Quelle vieler origineller Beobachtungen und Geschichten; und eines Stils, der das Lebendige der Reiseerfahrung in lebendiges Bildungsenglisch überträgt.
- Briefe der Lady Marie Worthley Montague, geschrieben während ihren Reisen in Europa, Asia und Afrika, an Personen vom Stande, Gelehrte etc. in verschiedenen Theilen von Europa geschrieben; welche außer andern Merkwürdigkeiten Nachrichten von der Staatsverwaltung und den Sitten der Türken enthalten; aus Quellen geschöpft, die für andre Reisende unzugänglich gewesen. 3 Bände, Weidmanns Erben und Reich, Leipzig 1763
- https://jacklynch.net/Texts/montagu-letters.html
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