Dieser Beitrag kommt etwas spät zur Fußball-EM, aber immerhin, er kommt! Denn wenn man das Buch liest, von dem in der Folge die Rede ist, muss man zuerst wissen, was ein „Panenka“ ist. Mein Patensohn, der uns dieses Buch schenkte und selbst leidenschaftlicher Fußballspieler ist, schickte uns gleich einen hilfreichen YouTube-Link dazu (siehe unten); es ist nämlich einfacher anzuschauen als zu erklären. Trotzdem hier der Versuch einer sprachlichen Erklärung, der immerhin gleichzeitig den Vorzug hat, zu den zentralen Themen des nach ihm benannten Buches des irischen Blues-Musikers und Schriftstellers Rónán Hession hinzuführen. Ein Panenka ist ein Manöver beim Elfmeterschießen: Ausgehend von der Annahme, dass der Torhüter – aufgrund welch winziger Zeichen oder unbewusster Entscheidungskriterien auch immer – entweder in die linke oder die rechte Ecke des Tores hechten wird, um den Ball abzufangen, nimmt der Schütze einen gewaltigen Anlauf und schießt dann sehr sanft, er schubst eigentlich mehr, den Ball genau in die Mitte. Der nach links oder rechte gehechtete Torhüter sieht dämlich aus, das Stadium jubelt. Das ist ein gelungener Panenka, benannt nach seinem Erfinder Antonin Panenka, der mit der damaligen Tschechoslowakei 1976 Fußball-Europameister wurde; und sein psychologischer Effekt ist ungleich größer als bei einem einfachen Elfmeter. Aber das Manöver kann natürlich auch schief gehen. Und im Roman Panenka geht es schief, der Torhüter hält, und der Unglücksschütze wird sein Leben lang verfolgt von diesem tragischen Missgeschick: Er hat versagt, er hat den jahrzehntelangen Abstieg seines Clubs (sehr schön und sprechend benannt nach dem römischen Philosophen Seneca; Stoiker, Politiker und vom Kaiser Nero zum Selbstmord gezwungen), verschuldet, und seine Stadt wird ihm niemals verzeihen. Fortan lebt er unter dem Unglücksstern seines Missgeschicks, das er auch sich selbst niemals verzeihen kann. Oder kann er doch?
Aber Panenka ist kein Roman über Fußball, wie unser Patenkind sogleich vorsorglich versicherte; denn Panenka ist auch – sagen wir vorerst: eine Metapher für etwas, über das man erst einmal nachdenken und das man danach noch genauer bestimmen muss? Der ganz klare erste Lektüreeindruck ist jedoch: Dies ist keine Jugendliteratur; es ist literature for grown ups (Virginia Woolf)! Der handliche Roman ist gesättigt mit Lebensklugheit und Lebenserfahrung (mit beidem, das ist wichtig!). Die Probleme sind diejenigen von Erwachsenen, die Einsichten sind diejenigen von Erwachsenen, sogar das Verhalten der Figuren ist erwachsen, durch und durch (sogar das Kind sagt Sätze, die einen kindlichen Horizont eigentlich etwas übersteigen, aber das verrechnen wir unter poetische Lizenz und freuen uns darüber). Das ist umso überraschender, wenn man das zentrale Thema das Buches bedenkt: Es ist nämlich ein Buch über die Liebe. Aber ist kein Liebesroman; Liebesromane im engeren Sinne tendieren nämlich im Großen und Ganzen dazu, entweder sentimental oder pornographisch zu sein. Beides ist das Buch nicht (na gut, es hat eine winzige Neigung zur Sentimentalität, aber die ist verzeihlich und gehört außerdem zum Konzept).
Ein Buch über die Liebe ist aber eigentlich schon wieder zu verallgemeinernd gesagt. Denn das Besondere an diesem Roman ist, dass er so viele verschiedene Arten von Liebe umfasst. Es gibt, um beim Fußball anzufangen, die Liebe der Stadt zu „ihrem“ Verein, die die Menschen zusammenbringt – oder auseinander, wie im Falle von Panenka, dem auserkorenen stellvertretenden großen Schuldigen für alle anderen Miseren (dass Fußball so funktioniert, kann man übrigens auch aktuell bei der EM wieder beobachten). Es gibt die Liebe zum Fußball selbst, wie sie die Seneca-Spieler und ihren Trainer Cesare Fontaine prägt, der aus dem Training eine Schule des Lebens macht. Es gibt die Liebe als Männerfreundschaft durchaus verschiedener Charaktere; sie treffen sich jeden Abend in der gleichen Café-Bar und wachsen zusammen, bei allen Differenzen. Es gibt die Liebe als Frauenfreundschaft, mit einem Paar kluger Frauen, die man gern in sein eigenes Wohnzimmer einladen würde, um mit ihnen Wein zu trinken und die Welt zu besprechen und die neuesten Serien-Hits. Es gibt die Liebe zwischen Familienmitgliedern, die (wir alle wissen das) die einfachste, selbstverständlichste und die schwierigste ist; und sie allein umfasst ganz verschiedene Verhältnisse, wie diejenige von einem Kind zu seiner Mutter oder zu seinem Vater (verschiedene Dinge, verschieden in verschiedenen Lebensstadien); oder die einer Tochter zu ihrem Vater sowie eines Vaters zu seiner Tochter (und der Mutter natürlich, aber der Vater ist hier die zentrale Figur). Und dann natürlich die Liebe zwischen Mann und Frau; im Roman vor allem: in der Ehe und nach der Ehe. Wie wird man ein Paar, und wie löst man eine Paarbindung? Wie geht man neue Bindungen ein, wie löst man sich von seiner Vergangenheit und beginnt ein neues Paarleben? (es geht im Übrigen nicht um Sex, und das ist zwar irgendwie ein wenig befremdlich, aber andererseits geradezu entspannend)
All diese Beziehungen laufen quer durch das Buch, und dabei wird, vor allem anhand der Hauptgestalt und Titelfigur, ein ziemlich origineller und ziemlich kluger Gedanke entwickelt: Wäre es nicht die beste Lösung, jede Beziehung ganz neu anzufangen, so als sei man in jeder Beziehung auch – eine neue Person? Und wäre es nicht noch besser, einer jeden solchen neuen Beziehung, die auf einer Resonanz aufbaut, einem spürbaren, sich spontan ergebenden Mitschwingen von zwei Persönlichkeiten – entweder einen neuen Namen zu geben oder, am besten, gar keinen? Warum muss eigentlich jede Beziehung, die doch so individuell und unterschiedlich ist wie die Personen, die sie eingehen, einen Namen bekommen, eine Kategorie, in die man sie einordnen kann (und sei sie so diffus wie die „Lebenspartnerschaft“, die immerhin ein vages Bewusstsein für genau dieses Problem widerspiegelt)? Dieser Gedanke ist ein sehr erwachsener Gedanke. Er ist meilenweit entfernt von allen enthusiastisch-jugendlichen Ideen von ausschließlicher Liebe (the one and only), von unsterblicher Liebe (forever mine), von Romanen- und Tragödienliebe (Leute, die füreinander sterben wollen oder sich das zumindest versichern, anstelle miteinander zu leben). Aber er ist nahe an der Lebenserfahrung, wenn man einmal ehrlich zu sich ist und alles vergisst, was man meint über Beziehungen zu wissen (es ist nämlich, wie sich im Laufe des Lebens herausstellt, zu großen Teilen aus Filmen und Romanen importiert und falsch).
Resonanz, das ist im Übrigen ein Begriff, den der Roman selbst benutzt; und vielleicht ist es auch nicht unwichtig, dass sein Autor ein Musiker ist, für den Resonanz eine spürbare, erlebbare Erfahrung ist. Resonanz: Das ist ein Mitschwingen, ein Antworten; eine Reaktion auf eine Anregung, ein Dialog, bei dem sich zwei Systeme, Menschen, Töne aufeinander einstimmen. Was bewirkt Resonanz? Hession hat einmal geschrieben (nachzulesen auf Wikipedia): „The quest for kindness is one of literature’s great challenges”. Literatur als Medium zur Erzeugung von Freundlichkeit, Mitmenschlichkeit –das ist nicht ganz einfach, denn es verleitet zur Leserbevormundung nach dem Motto: Hier, schau doch, Freundlichkeit ist doch ganz einfach, du musst dich nur an diesem (natürlich unrealistischen und für didaktische Zwecke grenzenlos übertriebenen) Vorbild orientieren und den zehn folgenden Regeln folgen! Aber dieser Roman bevormundet niemanden. Er zeigt vielmehr, wie Freundlichkeit als Lebenshaltung und Resonanzphänomen erarbeitet werden muss, auch wenn man selbst wenig Neigung dazu hat oder die Welt einem ziemlich unfreundlich begegnet. Gespräche spielen dabei eine zentrale Rolle; wann man redet, wie man redet, über was man redet, und über was besser nicht (das Kind ist sehr empört darüber, wie Erwachsene ihm immer wieder Schicksalsgespräche unterschieben wollen, und Recht hat es!). Aber auch Berührungen, Haltungen, Tätigkeiten sind wichtig, sie können Resonanzen auslösen und transportieren. Kleine Dinge, überhaupt: Dieser Roman hat so viele gut beobachtete kleine Dinge (man nehme nur die Friseurszene) und so viele mit Bedeutung und Schönheit aufgeladene Alltagsphänomene, dass man ganz ehrfürchtig und hellsichtig werden kann beim Lesen! Aber er ist auch brutal. Er hat tragische, unversöhnliche Elemente, und deshalb ist er keine Heile-Welt-Literatur und kein Selbsthilfe-Ratgeber. Man muss auch aushalten können, dass es starken Schmerz gibt, unheilbare Krankheit, tiefste sprachlose Depression und bodenlose Einsamkeit. In dieser Welt wird einem nichts geschenkt. Literature for grown ups!
Aber genug des Lobes. Wir stehen immer noch vor dem Tor (beim Fußball jetzt, nicht bei Kafka); und ist „Panenka“ nun eine Metapher oder nur ein nötiges Handlungselement, ein geschickt eingesetztes Werkzeug zur Figurencharakterisierung und ein cooler Name dazu? Einiges spricht für Metapher, aber es ist schwer das zu erläutern, ohne zu spoilern. Denn, ein letztes Lob: Dieser Roman hat einen großartigen Schluss (Schlüsse sind ein Problem für Liebesromane, sie tendieren stark zur Trivialität oder Überdramatik: Hochzeit oder Tod). Er kommt unerwartet, und er hat das nötige Maß an Offenheit, das alle guten Romanschlüsse haben. Am Ende also bekommen wir eine Antwort auf eine Frage, von der wir beim Lesen vielleicht gar nicht wussten, dass wir sie haben, nämlich: Was tut Panenka eigentlich, womit verdient er seinen Lebensunterhalt? Andeutungen dazu durchziehen den Text, aber man wird nicht schlau daraus, selbst wenn einem das Problem irgendwann auffällt und man fortan darauf achtet. Es ist aber wichtig, was Panenka tut. Und es ist wichtig (das ist die zweite Lücke, die sich durch den Roman zieht), warum er sich damals, in der alles entscheidenden Minute, für den Panenka entschieden hat. Denn beides, so stellt sich heraus, waren und sind Akte der Freundlichkeit, genauer: der Menschenfreundlichkeit. Es sind gleichzeitig (aber das ist vielleicht nur für Spezialisten interessant) ästhetische Akte: Sie sind schön; sie sind frei, sie sind das Ergebnis von langjährigen Training und Arbeit – und dazu ein wenig Glück (oder eben Unglück. Das ist nicht wichtig).
Panenka im Fußball: https://www.instagram.com/wrzzer
Rónán Hession: Panenka (englisches Original; eine deutsche Übersetzung liegt noch nicht vor). Bluemoose Books 2021.
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