„Er – denn an seinem Geschlecht konnte kein Zweifel bestehen, selbst wenn die Mode der Zeit dazu beitrug, es zu verbergen – zerteilte gerade den Kopf eines Mohren*, der von den Dachbalken baumelte.“ So beginnt Virginia Woolfs fiktive Biographie. Er: das ist Orlando, ein junger aristokratischer Knabe, der zuerst als Mann und dann als Frau durch die Jahrhunderte reist. Er startet im Auftrag von Königin Elisabeth im 16. Jahrhundert, dem Elisabethanischen Zeitalter, und stirbt schließlich als Frau im 20. Jahrhundert. Dabei lernt er die verschiedensten Facetten des Menschseins kennen. Mit seinen Gedanken reist er nicht nur durch die Geschichte Englands, sondern auch rund 350 Jahre durch seine eigene Brust. Sissy Höfferer leiht der wohl heitersten Geschichte Virginia Woolfs in einer ungekürzten Fassung (8 H 44 min) ihre Stimme.
In einer Zeit, in der wir über Gendersternchen diskutieren, erscheint der Roman besonders aktuell, denn in erster Linie ist es ein Roman über Geschlechterrollen und die Wandelbarkeit des Geschlechts. In künstlerischer Kreativität spielt Woolf geradezu damit: Viele der Romanfiguren verändern im Laufe der Zeit ihr Geschlecht, werden vom Mann zur Frau oder umgekehrt. Was sie aber nicht ändern, ist ihr Wesen. Ihre Identität bleibt von der Geschlechtszugehörigkeit unberührt. Was für ein moderner Gedanke Woolfs, der in unserer heutigen Zeit keine Chance hätte, da man peinlich genau darauf achtet, ob jede Geschlechtszugehörigkeit oder Unentschlossenheit korrekt benannt wird. Für Woolf machen andere Dualismen größere Unterschiede des Menschseins aus: Zum Beispiel die sozialökonomischen Aspekte – wie kann man leben, wenn man arm ist wie, wenn man reich ist.
Für die individuelle Entwicklung der Figuren ist der historische Kontext des Plots über rund 350 Jahre eher nur eine Folie, insbesondere für die Hauptfigur Orlando. Geschichte wird durch die Figuren nicht analysiert, sondern individuell erlebt. Orlando ist als blendend gut aussehender junger Mann zunächst der jugendliche Geliebte der Königin Elisabeth und wird später Gesandter unter König Jakob II. in Konstantinopel, wo er einige Jahre bleibt. Nach der Erhebung in den Herzogstand und einem rauschenden Fest fällt Orlando in einen tiefen Schlaf. Es treten drei Frauen als allegorische Figuren auf: Die Reinheit, die Keuschheit und die Bescheidenheit und behaupten, dass die Geschichte so nicht stimme. Dann erscheint die Wahrheit und sagt: „Orlando war eine Frau“. Und tatsächlich, als Orlando schließlich erwacht, ist er eine Frau. Sie reist zurück nach London ins 18. Jahrhundert und lebt fortan als Frau weiter bis ins 20. Jahrhundert – bis zum Erscheinen des Werkes ins Jahr 1928. Anhand ihrer und seiner Geschichte zeigen sich die individuellen Probleme für eine Frau und für einen Mann, darum ist Orlando sowohl ein feministischer als auch ein maskulanistischer (Achtung Wortneuschöpfung!) Roman.
Auch die Erzählform und die Erzähltechnik des Romans sind revolutionär, denn Woolf vermischt gekonnt Kunst, Geschichte, Biografie und Fiktion zu einem modernen Werk. Der Stil des Textes ist unbestimmbar, so vielschichtig ist er – er ist Persiflage, fiktive Biografie und Satire zugleich. Auch die Perspektiven variieren. Virginia Woolf äußert selbst über den Roman: „Orlando is of course a very quick brilliant book. Yes, but I did not try to eyplore. I never got down to my depths.“ Die symbolträchtige und metaphorische Sprache gibt dem Roman den letzten Schliff – wenn die Nacht nicht dunkel ist, sondern der Himmel in eine ‚tintige Schwärze‘ getränkt ist; wenn Straßen nicht kaputt, sondern ‚vernarbt‘ sind.

Inspiriert zur Figur Orlando hat Virginia Woolf ihre Freundin und Schriftstellerin Vita Sackville-West (1892-1962) und deren Familiengeschichte. Sie war selbst Autorin, brachte es zwar nicht zum gleichen Ruhm wie ihre zehn Jahre ältere Freundin Virginia Woolf, verfasste aber über 50 Werke. Unter anderem thematisierte sie darin Sadismus und lesbische Liebesbeziehungen. Auch zu Virginia Woolf hatte sie eine sexuelle Beziehung und war seit den 1920er Jahren bis zu deren Suizid im Jahr Vita Sackville-West 1941 mit ihr befreundet. Literatur ist allgemein ein wichtige Kategorie in Orlando. Orlando selbst wird zum Schriftsteller und begegnet dem ebenfalls nicht alternden Schriftsteller Nick Greene gleich in mehreren Jahrhunderten. Dieser entwickelt sich vom Autoren zum Literaturkritiker und entzaubert unter anderem Shakespeare, Marlowe und andere große Namen, indem er von den angeblichen Genies die lustigsten Anekdoten zu erzählen weiß – schließlich waren sie sie in erster Linie Trinker und Frauenhelden.
Orlando ist ein vielschichtiges, heiteres Werk von Virginia Woolf, das man auch als Hörbuch genießen kann. Die Schauspielerin Sissy Höfferer leiht dem Hörbuch ihre sonore Stimme, das ansonsten ganz ohne Einspielungen von Musik oder Geräuschen daherkommt. Die Sprechstimme Sissy Höfferers ist sehr angenehm, schafft es jedoch leider nicht, die durchaus heiteren Passagen in Woolfs Werk herauszuarbeiten. Sie bleibt in der Stimmfarbe melancholisch. Dass sie allerdings ihre Stimmlage nicht ändert, ob Orlando ein Mann oder eine Frau ist, ist eine kluge Entscheidung. Damit unterstreicht sie Virginia Woolfs Idee, dass der Unterschied zwischen Mann und Frau gar nicht so groß ist wie man meinen könnte. Beim Hörbuch wurde auf die Übersetzung von Brigitte Walitzek (1990 S. Fischer Verlag GmbH) zurückgegriffen. Es handelt sich um eine Koproduktion von Der Hörverlag und Sender Freies Berlin (heute rbb) aus dem Jahr 2002.

Hier geht’s zum Hörbuch bei audible.
* in der Übersetzung von Brigitte Walitzek, S. Fischer Verlage GmbH, 1990
Comments: no replies